Wie geht es dir?
Die Referentin #40
Dass Comic-Künstler:innen, bevor sie zu zeichnen beginnen, Interviews führen, geschieht eher selten. Bei Wie geht es dir? Sechzig gezeichnete Gespräche nach dem 7. Oktober 2023 verlief das aber genau so. Den Comics gingen Gespräche mit Menschen voraus, die selbst – oder innerhalb ihres Engagements – mit Antisemitismus oder Rassismus konfrontiert sind. Aus dem Projekt ist ein Comicbuch entstanden, Silvana Steinbacher ist vom Ergebnis beeindruckt.
Einzelbild aus Silke Müllers Comic: Gezeichnetes Gespräch mit Annika Artmann. Das Gespräch fand am 11. April 2024 statt. Bild Silke Müller
Sie sprechen für sich und brauchen keine näheren Erläuterungen, denn sie sind zu traurigen Marksteinen geworden: 9/11 ist so ein Tag, und natürlich der 7. Oktober. Am 7. Oktober 2023 ereignete sich der Überfall der Hamas auf Israel. Dieser Überfall und die anschließenden Angriffe des israelischen Militärs im Gazastreifen und das Leid in Israel und im Gazastreifen haben auch bei uns tiefe Betroffenheit und Irritation ausgelöst.
Achtundvierzig Zeichner:innen suchten daraufhin das Gespräch mit sechzig Menschen, die entweder persönlich mit Antisemitismus, Hass und Rassismus konfrontiert sind oder sich in diesem Bereich engagieren. Trotz der grauenhaften Ereignisse lautete ihre Einstiegsfrage bei allen Interviews: „Wie geht es dir?“ Und diesen Titel trägt auch das Buch: Wie geht es dir? Sechzig gezeichnete Gespräche nach dem 7. Oktober 2023. So verschiedenartig die Personen und Erzählungen auch sind, alle Comics handeln von Spaltung, von mehr oder weniger Hoffnung und von dem einheitlichen Wunsch nach Verständigung und Frieden.
Eine eindrückliche Biografie ist etwa jene von Meron Mendel. Mendel ist in Israel geboren und wuchs in einem Kibbuz auf. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt er in Frankfurt. Der Professor für Soziale Arbeit lehrt an der Universität unter anderem Demokratiebildung, Migrationsgesellschaft und Menschenrechte. Gemeinsam mit seiner muslimischen Ehefrau verfasst er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Kolumne Muslimisch-Jüdisches Abendbrot. Der studierte Medienillustrator Michael Jordan besuchte eine Debatte, zu der Mendel eingeladen war, und hält seine Eindrücke dieser Diskussion fest. Zu sehen sind in den Comics hauptsächlich Mendel und der Moderator, Abwechslung vermisse ich als Leserin hier trotzdem nicht. Was wäre sein Traum, fragt der Moderator gegen Ende der Veranstaltung. Dass ich mit meinen jüdisch-muslimischen Kindern nach Israel ziehe und es spielt keine Rolle, antwortet Mendel.
Wie ist es zu diesem Projekt gekommen? Die vielfach ausgezeichnete Comic-Künstlerin Barbara Yelin spürte, dass die Bedrohung von jüdischen und muslimischen Menschen stieg und sich viele auch um Angehörige und Freunde in den betroffenen Gebieten sorgten. Manche Comic-Erzähler:innen verbindet ein Naheverhältnis zu ihren Gesprächspartner:innen, andere wiederum sprechen mit ihnen unbekannten Personen, die ihnen durch ihre Biografie, ihren Beruf oder ihr Engagement geeignet erschienen. Auffallend ist dabei, dass es sich fast durchwegs um gebildete, teils auch prominente Personen handelt, und einige wenige verstecken sich hinter einem Pseudonym. Sie befürchten, ihre Aussagen könnten ihnen schaden. Beispiel dafür ist der in Deutschland lebende palästinensische Musiker Nazim, der seit dem 7. Oktober nichts Politisches mehr postet aus Angst, er könnte keine Engagements mehr bekommen.
In einem ersten Zoom-Treffen mit einigen von Yelins Kolleg:innen festigte sich das Projekt mehr und mehr. Und jetzt liegt es als Buch im avant-verlag vor. Der Berliner Verlag publiziert Comics und Graphic Novels überwiegend europäischer Künstler:innen.
Dass Comics Interviews mit Personen vorangehen, geschieht eher selten, und so frage ich mich beim genauen Ansehen des übergroßen quadratischen Buches, ob möglicherweise die Interviews genügt hätten, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Doch im selben Augenblick weise ich diese Überlegung zurück, denn wenn ich die zeichnerische Umsetzung der einzelnen Gespräche betrachte, bin ich beeindruckt, wie und auf welch unterschiedliche Art und Weise die Comic-Erzähler:innen die Interviews umgesetzt haben.
Der deutsche Künstler Jens Cornils beispielsweise sprach mit Andreas Brämer, der seit kurzem Rektor an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg ist. Er lebte in Israel und berichtet, dass viele seiner Freunde und Bekannten sich dort befinden und fast alle kennen jemanden, der verschleppt oder ermordet wurde. Cornils setzt das Gespräch mittels vieler Close-ups um. Während Brämer erzählt, sehe ich nur Kerzen, die das Bild einnehmen, auch gefaltete Hände, einen Kalender, seinen Schreibtisch und einmal die Gesprächssituation aus der Vogelperspektive.
Von einigen wurden auch Verwandte im Konzentrationslager ermordet. Emmie Arbel, interviewt und gezeichnet von Barbara Yelin, wurde als Kind von den Nationalsozialisten in die Konzentrationslager Bergen-Belsen und Ravensbrück deportiert, sie lebt heute in Haifa. Einmal im Jahr kommt sie als Zeitzeugin nach Deutschland. Erstaunlicherweise wohnt sie dann in einem Gästehaus der Gedenkstätte Ravensbrück, wo früher die Aufseherinnen gelebt haben. Ausgerechnet hier fühle sie sich sicher, meint sie. Yelin beendet ihre Geschichte über Emmie Arbel, als diese wieder zu Hause ist. Sie sitzt am Tisch mit ihrer Familie, und Barbara Yelin taucht ihre letzten beiden Comics in warmes Orange, obwohl ihr Emmie Arbel erzählt, wie gefährlich die Situation ist.
Die Schriftstellerin Lea Streisand ist unter anderem Mitherausgeberin des Buches Sind Antisemiten anwesend? Der deutsche Künstler Flix veröffentlicht seit zehn Jahren jede Woche ein Zeitungscomic in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Hier aber zeigt er Streisands Erzählung nur auf den ersten Blick mit wenigen Veränderungen auf seinem Comicstrip. Seine Figur spricht wie zu einem Publikum, und nur bei näherem Hinsehen bemerke ich Abweichungen zwischen den einzelnen Zeichnungen. Der Hintergrund ist ein roter Vorhang, rechts im Bild ein umgestürzter Blumentopf. Gegen Ende der gezeichneten Geschichte steht der Blumentopf aufrecht. Im letzten Bild entsteht ein Pflänzchen aus ihm, der Vorhang ist zurückgezogen und in der Mitte des Comics wächst ein riesiger Baum.
Übrigens ist auch eine in Linz lebende Künstlerin unter den Comic-Erzählerinnen. Die 1980 in Ostdeutschland geborene Illustratorin Silke Müller wählt eine ganz eigene Bildsprache, hält sich hauptsächlich an die Farben Blau und Rot, und ihre Motive sind unter anderem Vögel, eine U-Bahnsituation sowie die Darstellung eines online-Gesprächsraums, der ihrer Gesprächspartnerin ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt.
Das sind nur einige der herausgegriffenen Beispiele, die auch die Unterschiedlichkeit der Gesprächspartner:innen und der zeichnerischen Umsetzungen widerspiegeln sollen. Interessant und wichtig an dem Projekt finde ich auch, dass und wie Menschen beider Seiten dabei zu Wort kommen. Ihre Wünsche allerdings sind dieselben: ein Ende der Sprachlosigkeit, der gesellschaftlichen Spaltung, ein Ende des antisemitischen Denkens und Handelns auch in unseren Breiten, und als Ziel natürlich Frieden. Ein Gesprächspartner sagt: Ich bin neutral, außer, dass ich für den Frieden bin.
Wie geht es dir?
Sechzig gezeichnete Gespräche nach dem 7. Oktober 2023
avant-verlag, 2025
Redaktionell geführte Veranstaltungstipps der Referentin