Das Community-Theater-Projekt „Perspektiven des Alltags. Neues Oberösterreich“ dokumentiert einen heterogenen Alltag in Oberösterreich. Erzählt von Rassismus, fragt nach Heimat und stellt den Begriff „Leitkultur“ zur Debatte.
N athalie Nyti-Bota redet sich in Rage. Auf der Bühne der Tribüne Linz sitzend, listet sie auf, was Oberösterreich für sie persönlich an angenehmen Alltagserfahrungen bereithält und was Leben in Oberösterreich allgemein an Alltagsrassismus, Leistungsdruck und Leben in Armut bedeutet. Kommt von den schönen Landschaften zu den Obdachlosen, zur Verständnislosigkeit und zum Individualismus. „Jetzt hab ich irgendwie den Faden verloren. Was war das Thema?“. Und die Premiere des Community-Theater-Projektes zum Thema „Alltag und Oberösterreich“ unter dem Titel „Perspektiven des Alltags. Neues Oberösterreich“ windet sich weiter. Durch Erzählsequenzen, Spielanleitungen und Streitgespräche zwischen zwei „Bio-Oberösterreicherinnen“ hindurch. Gefördert durch die spartenübergreifende Ausschreibung „zusammen:wachsen“ des Bundeskanzleramtes sowie durch Mittel der Stadt Linz konnte das Projekt „Perspektiven des Alltags. Neues Oberösterreich“ vom Verein „Pangea. Werkstatt der Kulturen der Welt“ realisiert werden.
Neben Nyti-Bota stehen außerdem Lia Chuguashvili, Juliana Hartig, Abdul Yousefi, Aziz Yusofi und Eric Zachhuber auf der zurückhaltend gestalteten Bühne. Mehrere Stühle, ein Fahrrad, viele Bodenkacheln und eine Gitarre; der inhaltlich reichhaltige Theaterabend hat ein sparsames Erscheinungsbild. Gemeinsam mit 15 anderen Menschen mit den unterschiedlichsten Migrationsbiographien und bisher wenig bis keiner Theatererfahrung haben die sechs Darstellenden in der Zeit zwischen April und Juni 2017 an Schreibworkshops unter der Leitung von Clara Gallistl teilgenommen. Die beiden professionellen Schauspielerinnen Cosima Lehninger und Zuzana Cuker kamen erst während des Probenprozesses mit der Regisseurin Bérénice Hebenstreit zur Gruppe dazu. Seit der Premiere am 29. Juni gastierte die knapp einstündige dokumentarische Theaterarbeit beim Franck-Kistl-Fest, im Wissensturm und im Nordico Museum Linz. Weitere Spieltermine sind während der HelferInnenkonferenz von „ZusammenHelfen in Oberösterreich“ auf dem Ars Electronica Festival und dem Carneval Of Fear in Schärding vorgesehen.
Die in Oberösterreich aufgewachsene und nunmehr für die Liste Pilz kandidierende Autorin, Dramaturgin und Kulturmanagerin Gallistl konzipierte das Projekt „Perspektiven des Alltags. Neues Oberösterreich“. Und leitete den Schreibprozess. Und fungierte während der Probenzeit als Dramaturgin. Von „passiver Aktivierung“ der Teilnehmenden hält sie nichts. Umso mehr von Nachhaltigkeit. Aus der Projektgruppe ist eine neue Initiative entstanden: „Neues Oberösterreich. Verein für integrative Theaterarbeit“ will jährlich eine Produktion fertigen.
Begonnen hat aber alles in Waxenberg. Da wurden während eines dreitägigen Workshops im April erste Diskussionen geführt. Über Theater und andere soziale Räume, über Barrieren und darüber, wie auf einer Bühne ein selbstbestimmtes äußeres Bild entwickelt werden kann, beziehungsweise wie ein Theater beschaffen sein müsste, mit dem sich die Teilnehmenden gemeint fühlen würden. Und über Grenzen. Und über Rassismus. Theoretische Anstöße kamen von der Mit-Konzipierenden und ehemaligen Geschäftsführerin von „Pangea“ Stephanie Abena Twumasi, unter anderem Vorstandsmitglied von „JAAPO. Unterstützungsstruktur für und von Schwarzen Frauen zur Verbesserung der Lebenssituation in Oberösterreich“.
„Wann fühle ich mich ausgeschlossen? Wann schließe ich mich selbst aus? Und wann schließe ich andere aus?“ – aus diesen Fragen ergab sich ein erster Themenkatalog. Für die weitere Schreibarbeit fanden etwa 25 Termine in Kleingruppen statt. Dergestalt wurde versucht, auf die unterschiedlichsten Lebensrealitäten der Teilnehmenden zwischen 16 und 64 Jahren aus insgesamt 16 Ländern einzugehen. Es entstanden circa 50 Seiten Text, hauptsächlich Transkriptionen von Diskussionsverläufen, teils von den einzelnen Teilnehmenden eigenständig verfasste Passagen. Gemeinsam mit der Regisseurin Hebenstreit, die zuletzt zum Beispiel für das Volkstheater Wien „Superheldinnen“ von Barbi Markovic inszeniert hatte, erarbeitete Gallistl eine Spielfassung und ergänzte so das diskursive wie spielerische Material um eine rein fiktive Streitebene. Die beiden Schauspielerinnen Lehninger und Cuker begeben sich für diese Szenen als „Bio-Oberösterreicherinnen“ in Konfliktdialoge. Da geht es um das rassistische Potential der Frage „Woher kommst du wirklich?“, um Unsicherheit und um politisch korrektes Sprechen.
Die knackig konzentrierte Inszenierung findet über lose ineinander übergehende Szenen zu einer Darstellung von heterogenen Perspektiven. Widersprüchlich und voller starker Behauptungen, erzählt sich so ein Nebeneinander, ein Alltag in Oberösterreich. „Ich liebe meine Heimat. Also, das Land, woher ich komme. Aber Traun ist auch schön“. Da werden Wünsche an ein neues Oberösterreich formuliert, die Landes-Hymne intoniert, wieder abgebrochen und im Hinblick auf die Leitkultur-Debatte die Frage „Seid ihr euch unsicher mit eurer Kultur?“ ans Publikum gewendet. Anhand eines Spiels, das Nachahmung als körperlichen Vorgang präsentiert und bei dem alle Macarena tanzen können, aber nur manche mehrere Liegestütze schaffen, lässt die Inszenierung den Begriff „Leitkultur“ in die lächerliche Leere laufen. „Ich wünsche mir, dass es in Österreich keine Leitkultur gibt“.
Hebenstreit formuliert Folgendes über die zweiwöchige Probenarbeit an der Inszenierung: „Wichtig war mir, Formen zu finden, die die Auseinandersetzungen aus den Workshops und die dort verhandelten Fragestellungen sichtbar werden lassen. Auf den Proben haben wir Ideen ausprobiert, dabei auch neues Textmaterial generiert. Die Arbeit war eine tolle Erfahrung. Die Gruppe hat sich durch ein großes gegenseitiges Vertrauen ausgezeichnet, wodurch sich jeder und jede sehr persönlich einbringen konnte. Theater braucht eine hohe Disziplin und Konzentration beim Arbeiten, was neben dem normalen Alltag eine Herausforderung darstellt. Umso wichtiger ist das gemeinsame Anliegen, das eine Arbeit trägt, um beides aufzubringen. Es war für mich besonders überraschend, in wie kurzer Zeit wir einen Theaterabend erarbeiten konnten, von dem sich sowohl Teilnehmende als auch Zuschauende bereichert und berührt fühlten“.
Gallistl versteht das Projekt „Perspektiven des Alltags. Neues Oberösterreich“ als eine Überschneidung von Kunst- und Sozialarbeit. Deshalb sei die Frage nach der gemeinsamen Arbeitssituation auch so ernst genommen worden. „Wer will und kann für eine Aufführung auf der Bühne stehen?“, das ist eine Frage, die für alle 21 am Projekt beteiligten, in ganz Oberösterreich lebenden Menschen mit Migrationsbiographie individuell beantwortet worden sei. Ob Kinderbetreuung oder Auto-Transfer, Gallistl betont: „Es wurde versucht, alles zu ermöglichen“. Die Etablierung einer gemeinsamen Arbeitssituation ist auch Thema der Aufführung geworden. „Check mal, in was für einer Welt wir leben!“, heißt es irgendwann. Wie wir gemeinsam leben und arbeiten wollen, das schwingt beständig mit. Am Ende steht die Frage: „Können wir das in Ruhe besprechen?“. Ein Ausblick auf viele weitere diskursive Auseinandersetzungen.
Weitere Spieltermine sind während der HelferInnenkonferenz von „ZusammenHelfen in Oberösterreich“ auf dem Ars Electronica Festival und dem Carneval Of Fear in Schärding (siehe Tipp Die Referentin).