Letztens lesen wir, dass sich der Autofahrer in Zukunft in seinem selbstfahrenden Auto „wohler fühlen wird als in seinem eigenen Wohnzimmer“, was uns ein wenig nachdenklich stimmt. Nicht wegen der ganzen künstlichen Intelligenz, die ins Auto reinverfrachtet werden muss. Auch nicht wegen des Deep Learnings und des „Weltverständnisses“, dass das Auto dann haben müsste, lesen wir (wir lachen). Sondern wegen des Wohnzimmers. Schon länger fällt auf, dass das Wohnzimmer irgendwie Thema geworden ist – und damit Szenenwechsel in die Kulturhäuser. Dort wird auch gerne davon gesprochen, dass sich die Besucher und Besucherinnen beim Besuch im Museum oder im Theater „wie im eigenen Wohnzimmer fühlen sollen“. Meine Freundin und ich sind uns einig, dass wir, wohlfühlen hin oder her, wenn wir im Museum sind, uns dort gerade NICHT wie in unserem eigenen Wohnzimmer fühlen wollen – denn dann würden wir doch lieber gleich daheimbleiben! Wir erwarten uns von der Kunst schon anderes. Merkwürdig ist das aber, dass das Wohnzimmer überhaupt als Bild für eine Kulturinstitution auftaucht oder jetzt sogar als Auto – und wir fragen uns scharfsinnig: Gibt’s leicht kein Wohnzimmer mehr daheim? Haben die Leute nichts mehr zum Wohnen? Oder, anders: Haben sie keine Zeit mehr zu leben oder keine Ahnung mehr davon, wie das geht? Müssen sie ihr Wohnen, ihr Leben irgendwie anders simulieren? Wir sitzen ja mit Vorliebe im traditionelleren Wohnzimmersubstitut, in einem Café. Dort sprechen wir dann, Stichwort „Weltverständnis“, tatsächlich über richtige Bücher, die wir grade lesen. Am liebsten keine Neuerscheinungen, geht aber auch. Ich habe meinen aktuellen Fast-Klassiker dabei, „The Town and the City“ von Kerouac. Ich intoniere begeistert den Titel The/Town/And/The/City, The/Town/And/The/City und beginne einen kleineren Vortrag darüber, dass das genau der Punkt sei, dass der Town leider oft die City fehlen würde, und sich die Town nur allzu gern gleich wieder mit der Town trifft, wenn man nicht aufpasst und wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Stadt und die Stadt ist allerdings überhaupt gleich ein Problem der direkten Übersetzung, der Verdoppelung und Verstärkung oder der nicht eintretenden Transformation. Dann kommt es eben darauf an, sage ich. Die Stadt und die Großstadt vielleicht. Falls man halt überhaupt von etwas Großstädtischem sprechen könne. Und so weiter. Meine Freundin hat auch ein Buch mitgebracht. Wir blättern in Konrad Bayers gesammelten Werken, gerade entlehnt aus der Landesbibliothek. Sie war darauf gestoßen, als sie im Internet diverse Schlagworte in die Suchmaschine eingegeben hatte. Welche und warum weiß ich nicht mehr. Jedenfalls lesen wir jetzt in Bayers konkreten Texten: „franz goldenberg kam zur tür herein und gab mir die hand. ich gab dr. ertel die hand. dr. ertel gab marion bembe die hand. marion bembe gab dr. aust die hand. dr. aust gab dr. herbert krech die hand. dr. herbert krech gab fräulein gisela lietz die hand. fräulein gisela lietz gab ernst günther hansig die hand.“ … und es geht weiter und weiter. Wir hatten das beide früher auch schon mal gelesen. Ich erinnere mich an fra stefano, der in der etwa eine Seite langen Handgeben-Aufzählung auch wieder auftaucht: Ich freue mich über ihn wie über einen alten Bekannten! Was lustig klingt, sagt sie zu mir, hat Ernst Bloch damit kommentiert, dass in Bayers Händeschütteln Witz und Grauen eng zusammenhingen, was Bloch anscheinend als „Heimatlosigkeit“ und als „Sprengung des Verabredeten“ erkannt habe. Das Unheimliche trete so hervor. Übrigens betritt mit diesen Worten ein Bekannter das Lokal, kommt etwas irritiert auf unseren Tisch zu und schüttelt uns beiden die Hand. Wir sehen uns erschrocken an, denn weder wir, noch der Bekannte sind für gewöhnlich in diesem Lokal anzutreffen. Damit ist nun wirklich Schluss mit lustig und wir gehen ganz weg vom Wohlfühlwohnzimmer. Und wechseln abschließend ins Schlafzimmer. Es fällt auf, dass in den diversen Zeitungen neuerdings wieder mehr oder weniger geglückte Kolumnen und Rubriken zu Sex angeboten werden. Wenn sich das nur nicht allzu oft aufs Aussprechen des Direkten beschränken würde! Wie bieder und langweilig. Da hat meine liebe Freundin wieder einmal mehr zu bieten. Das liederliche Weib hat sich eine Zeit lang doch glatt per Internet mit Männern für Sex verabredet. Gerne hat sie mir dann von ihren Begegnungen erzählt bzw. von dem Gerede davor. Also davon, was ich dann „The 60 Minutes before Sex“ genannt habe. Und am Ort des Geschehens, also dort, wo sie sonst nie hingeht und sich mit den Männern getroffen hat, um das Minimum an Kennenlernen zu absolvieren, treffen wir uns heute für unseren privaten Literaturtalk. Ich bedaure fast, dass sie diese Geschichten nie aufgeschrieben hat und überhaupt jetzt auch wieder einen Freund hat, sage ich ihr, kannst du nicht trotzdem, es war immer so lustig? Sie versteht natürlich meine versuchte Sprengung des Verabredeten und antwortet nicht einmal. Und zum Spaß beschließen wir den Nachmittag im Café mit: franz goldenberg kam zur tür herein und fickte mich. ich fickte dr. ertel. dr. ertel fickte marion bembe. marion bembe fickte dr. aust. dr. aust fickte dr. herbert krech. dr. herbert krech fickte fräulein gisela lietz und so weiter. ernst günther hansig und fra stefano kamen natürlich auch noch dran und außerdem ein paar Bekannte. Wir müssen aufpassen, dass uns nach dem Wohnzimmer nicht auch noch das Schlafzimmer genommen wird.
The Town and the City-Wohn- und Schlafzimmer.
By Marion Bembe / 1. September 2017 / No Comments
- Published: 7 Jahren ago on 1. September 2017
- By: Marion Bembe
- Last Modified: September 3, 2017 @ 8:35 pm
- Filed Under: Kolumnen
About the author
Marion Bembe
ist händeschüttelndes literarisches Personal und hat sich dieses Mal in einem sogenannten Fickcafé Nähe Landstraße eingefunden um mit einer ihrer Freundinnen über die „60 Minutes before Sex“ zu sprechen – und über Literatur.
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Tanja Brandmayr
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