Genealogie einer Selbsthistorisierung: Elena Messner gibt einen Überblick über Ausstellungen im Migrationskontext und beschreibt die Hintergründe einer Ideenwerkstatt, die aktuell an einem Konzept für ein Museum für Migration arbeitet – und an der sie beteiligt ist. Die Wanderausstellung „MUSMIG“ startet im Februar in Wien und könnte im kommenden Jahr auch in Linz zu sehen sein.
Globalisierung, Arbeitsmigration, Flucht, Vertreibung oder Mobilität zählen zu den dominierenden Phänomenen des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie werden aber in staatlich finanzierten National- oder Stadtmuseen kaum dargestellt. Als eine lose Gruppe von Migrationsforscher_innen, Aktivist_innen und Theoretiker_innen arbeiten wir darum an der Vorbereitung des Projekts „MUSMIG“, einer Ideenwerkstatt für ein Museum der Migration. Dieses wird im Dezember 2019 in Wien gestartet und endet mit einer Ausstellung im Februar 2020, die als Wanderausstellung konzipiert ist.
Die bisherigen Versuche, Migration zu archivieren und in musealen Kontexten auszustellen sind in Österreich v.a. im Rahmen von Initiativen zur verstärkten Sichtbarmachung von Gastarbeit zu verorten. Das ist kein Zufall: kaum eine Form von Migration war für das Land seit den 1960ern so prägend, wie die Arbeitsmigration aus Jugoslawien bzw. seinen Nachfolgestaaten und der Türkei. Gegenwärtig ist ein verstärktes Interesse an dieser Thematik zu vermerken. Das Stadtarchiv Salzburg1, das Stadtmuseum St. Pölten2, das Vorarlberg Museum in Bregenz, das Stadtmuseum in Graz3, das Stadtmuseum Ferdinandeum und das Volkskundemuseum in Innsbruck, das Volkskundemuseum in Wien4 sowie das Wien Museum haben im den letzten Jahren Ausstellungsprojekte, und zwar zumeist im Kontext der Jubiläen der sog. „Gastarbeiterabkommen“ organisiert.
Die Impulse diesbzgl. kamen zumeist nicht aus den Museen oder der Politik, sondern wurden von Aktivist_innen oder Wissenschaftler_innen an die Institution herangetragen. Fakt bleibt, dass nur Selbstarchivierung und Selbsthistorisierung der Subjekte der Migration die Basis dafür boten, Migration in musealen Kontexten sichtbarer zu machen. Denn, wie Arif Akkiliç, Vida Bakondy, Ljubomir Bratić und Regina Wonisch es formulieren, „die Historisierung, Archivierung und Musealisierung der Migration wären ohne die Repräsentationskämpfe ihrer Subjekte und die Initiativen zur Selbstdokumentation nicht denkbar“. Das ist ein Statement, das als Ausgangsthese einen fixen Platz in unserer Werkstatt hat. Es ist unmöglich, alle bisherigen Projekte und Initiativen an dieser Stelle zu diskutieren, einen guten Überblick darüber kann man sich aber im Buch „Schere Topf Papier. Objekte zur Migrationsgeschichte“ (Mandelbaum, 2016) verschaffen, dem oben zitiertes Statement entstammt.
Für unser Vorhaben sind jene Initiativen relevant, die als Markierungen im Diskurs rund um das Thema Migration und Museum herangezogen werden können. Dazu zählt die Sonderausstellung „Gastarbajteri: 40 Jahre Arbeitsmigration“, die 2004 im Wien Museum von einem Rechercheteam5 in Kooperation mit der Initiative Minderheiten organisiert wurde (die Idee dafür lieferte Cemaletin Efe), oder auch das Nachfolgeprojekt „Viel Glück! Migration heute. Wien, Belgrad, Zagreb, Istanbul“.6
Andererseits sind für uns Kampagnen relevant, die den Diskurs um ein Museum der Migration vorangetrieben haben, wie das künstlerisch konzipierte Projekt „Verborgene Geschicht(en)/Remapping Mozart“7, ein von Ljubomir Bratić, Araba Evelyn Johnston-Arthur, Lisl Ponger, Nora Sternfeld und Luisa Ziaja kuratiertes Projekt im Rahmen des Mozartjahres 2006.8 Vier Konfigurationen, d. h. Ausstellungen, Vorträge, Kunst in Schaufenstern, Bustouren, Podiumsdiskussionen, wurden von je zwei Kurator_innen gestaltet. „Remapping Mozart“ war auch aufgrund der programmatischen Mehrsprachigkeit (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Türkisch, Deutsch und Englisch) exemplarisch.
Ein Höhepunkt der Debatte war die Kampagne „50 Jahre Arbeitsmigration – Archiv jetzt!“, die von Akkılıç und Bratić koordiniert wurde und den Migrations-Diskurs noch tiefer in Politik und in Museen trug. In Folge davon kam es zur Gründung des „Arbeitskreises Archiv der Migration“, welchem neben Bratić und Akkılıç noch Vida Bakondy, Wladimir Fischer, Li Gerhalter, Belinda Kazeem und Dirk Rupnow angehörten. Als eine Aktion der Kampagne wurde vor dem Wien Museum ein Plakat aufgestellt, auf dem die Forderung nach einem Migrationsarchiv ausformuliert war. Insbesonders auf Grund dieser Aktion wurde das Wien Museum von der Wiener Abteilung für Integration und Diversität beauftragt, ein Sammelprojekt zu organisieren. So kam es dazu, dass 2015 eine bis dahin in Österreich einzigartige Initiative unter dem Titel „Migration sammeln“ gestartet wurde. Das Projektteam Akkılıç, Bratić, Bakondy und Wonisch, wissenschaftlich von D. Rupnow beraten, sammelte für das Wien Museum Migrationsobjekte, und arbeitete dafür intensiv mit Vereinen, Aktivist_innen, NGOs und Privatpersonen zusammen. Im Jahr 2017 konnten 770 Objekte ans Museum übergeben werden. Das Projekt mündete in einer leider nur eintägigen Ausstellung in fünf Vitrinen, die genauso wie die entstandene Sammlung, online dokumentiert ist.9 Als Nachfolgeprojekt wurde die Ausstellung „Geteilte Geschichte“ 2017–2018 von Vida Bakondy und Gerhard Milchram kuratiert.
Die vorangegangene aufwendige Recherchearbeit fand in dem eingangs zitierten Buch Niederschlag. Im Vorwort schreibt Museumsdirektor Matti Bunzl, die Initiative „Migration sammeln“ sei „durchaus programmatisch gemeint.“ Er spricht sich gegen die Idee von Migrationsmuseen aus, die er zwar als „potente Korrektive“ in „hegemonischen Narrativen“ sieht, aber auch als Fortführung der Trennung in normale und migrantische Geschichte. Mit dieser Positionierung geht sein Versprechen einher, die neu gesammelten „Kernstücke“ würden in der Dauerausstellung ihren fixen Platz bekommen – da er die Geschichte Wiens als eine migrantische sehe. So begrüßenswert solche Vor-Worte sind, so irritierend ist die behauptete Selbstverständlichkeit angesichts der Tatsache, dass erst die von Aktivist_innen initiierten Kampagnen dazu geführt haben, dass eine angeblich selbstverständliche Sammelpraxis im Museum implementiert wurde. Das Wien Museum wird derzeit renoviert und vergrößert. Nach der Sanierung wird, so darf man hoffen, genügend Platz und Gelegenheit vorhanden sein, um sich, wie Bunzl als Schlusssatz seines Vorwortes formulierte, weiter „an die Arbeit“ zu machen. Spannend bleibt, ob die Zusammenarbeit mit Aktivist_innen und Migrant_innen beibehalten wird, bzw. auch, ob auf der Personalebene nachhaltige Fortschritte zu erwarten sind. Denn trotz gelegentlicher Besetzungen von Migrant_innen oder deren Einsatz bei Projekten gilt nach wie vor, dass diese – freilich nicht nur im Wien Museum, sondern in den meisten kulturellen Institutionen – seltener als Kurator_innen oder Wissenschaftler_innen arbeiten.
Die Tatsache, dass in letzter Zeit Stadtmuseen verstärkt (lokale) migrantische Perspektiven in ihre Ausstellungen implementieren, sollte allerdings nicht als Argument dagegen benutzt werden, Migration zusätzlich in einer eigens dafür vorgesehenen staatlichen Institution zu archivieren und zu musealisieren. Migration beschränkt sich nicht auf Stadtgeschichte, sie betrifft nicht bloß Stadtmuseen, sondern sie umfasst nationale, transnationale und globale Geschichte und Kultur. Den archivierenden Blick auf Migration, und damit auf Rassismus und Kolonialismus zu lenken, ist als Aufgabe aktivistischer Initiativen längst nicht obsolet geworden. Angesichts punktueller Alibi-Aktionen von Museen und folgenloser Diversitäts-Slogans kultureller Institutionen ist sie wichtiger denn je. Zum Glück waren und sind Migrant_innen erfolgreich in der Selbst-Historisierung, auch außerhalb etablierter Institutionen.
Etwa Slobodan Jovanović, der zur ersten Generation der Gastarbeiter_innen gehört, die nach Wien gekommen waren. Er war aus privatem Interesse Sammler und Archivar. Vor rund zehn Jahren organisierte er eine Ausstellung, die heute noch im Sitzungsraum des Serbischen Dachverbandes in Wien hängt, ein prototypisches Beispiel der Selbstdokumentation von Migrierten. Diese Ausstellung wurde 2016-2017 zur Gänze im Belgrader Museum Jugoslawiens gezeigt, für welches Bratić gemeinsam mit Aleksandra Momčilović und Tatomir Toroman die Ausstellung „Jugo, moja Jugo“ organisierte. In Rahmen dieser Ausstellung in Belgrad wurde auch eine andere Ausstellung über aus Jugoslawien nach Deutschland migrierte Frauen integriert, die Bosiljka Schedlich 1987 in Berlin gemacht hatte. Diese wurde als Gesamte dem Museum in Belgrad geschenkt und noch mehrmals gezeigt. Der spannende Perspektivenwechsel (Zielland – Herkunftsland) wirft vor allem die Frage auf: an wen richtet sich eigentlich ein Museum der Migration, und wie kann eine transnationale Ausrichtung gewährleistet werden – außer durch (radikal) migrierende Ausstellungen selbst.
Eines der aktuellsten Projekte, das für Österreich zukünftig eine Markierung darstellen dürfte, ist das 2017 am Volkskundemuseum von den Kuratoren Alexander Martos und Niko Wahl geleitete Projekt „Museum auf der Flucht“, mit dem „das Volkskundemuseum Wien die Grundlage für eine intensive Auseinandersetzung mit den Themen Flucht, Migration und Ankommen in seinen Forschungs-, Sammlungs-, Ausstellungs- und Vermittlungstätigkeiten10 schuf“. Im Rahmen dieses Pilotprojektes kam es auch zu einer Stellenausschreibung, die sich durch gezielte Rekrutierung von Kurator_innen mit Asylhintergrund aktiv gegen automatische Ausschlüsse richtet. Das Projekt legt sich diskursiv mit dem Modell von Nationalmuseen an, es fragt neben einer Museologie des 21. Jahrhunderts auch nach einer Ethnologie des 21. Jahrhunderts, verbunden mit der Forderung eines noch zu erarbeiteten Konzepts für ein „Museums der Weltlosen“ bzw. eines „Hauses der Kulturen der Weltlosigkeit“. Im Rahmen der Wiener Festwochen wurde 2017 hierfür die „Akademie des Verlernens“ veranstaltet, und dieser künstlerische Rahmen verdeutlicht einmal mehr, dass die Debatten rund um Migrationsmuseen im 21. Jahrhundert die Grenzen von Performance, Kunst, politischer Diskussion, Wissenschaft und Straßen-Aktivismus mit großer Selbstverständlichkeit überschreiten.
Auch die Absicht hinter unserem Projekt ist mehr als Wissensvermittlung. Unsere Auseinandersetzung reagiert auf drängende gesellschaftliche Fragen, sie soll Plattform sein für theoretische Debatten, für Kunst- und Wissenschaftsaktivismus. Darum stellen wir auf methodischer Ebene die Frage danach, wie Ansätze aus der Migrationsforschung, der Geschichtswissenschaft und -pädagogik mit einer reflektierend-partizipativen Demokratiepraxis zusammen gedacht werden können. Auf der Ebene der künstlerischen Gestaltung fragen wir, wie das ästhetische Feld der Bewegung und des Transitären dargestellt werden kann. Auf der inhaltlichen Ebene fragen wir, ob es gelingen kann, das Museum der Migration selbst als Objekt auszustellen, nicht nur im Sinne der historischen Aufarbeitung der Debatten, die sich mit entsprechenden Konzepten beschäftigten, sondern als Sammlung realer und fiktiv-utopischer Museumsobjekte, die zusammengenommen als das – selbst ausgestellte – Museum fungieren könnten. Auf museumspolitischer Ebene beschäftigt uns die wiederkehrende Frage: Kann man beweglichen Migrationsaktivismus mit der konservativen Darstellungsform der statischen Ausstellung zusammenbringen?
Relevante Bezugspunkte für unser Projekt „MUSMIG“ sind daher Ausstellungen, die die Geschichte antirassistischer Praktiken dokumentieren. Etwa jene, die die Plattform no-racism.net im September 2019 anlässlich ihres 20jährigen Bestehens – und ihres Endes – organisierte. Was Objekte eines Migrationsmuseums sein können, und welche Ziele das Ausstellen solcher Objekte verfolgt, zeigt das Beispiel eines Flugblatts, auf dem ein Wanderdenkmal gefordert wird. Die auf dem Flugblatt propagierte Aktion, unter großer Beteiligung der schwarzen Community in Wien, war einer der Mitgründe dafür, dass Ulrike Truger den Gedenkstein für den bei einer Abschiebung getöteten Marcus Omofuma gestaltete. Die Ausstellung des Flugblattes dokumentiert somit einen gelungenen Akt aktivistischer (Selbst-)Historisierung.
Am Ende dieser kurzen Darstellung der schöpferischen Energie von Selbstorganisation soll die Geschichte eines Objekts stehen: Das Transparent „Wir würden wählen, wenn ihr nicht rassistisch wärt“ wurde von Vlatka Frketić, Andreas Görg und Ljubomir Bratić im Rahmen des Projekts „BUM – Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ gestaltet. Nachdem es bei mehreren Demonstrationen eingesetzt worden war, kam es im Jahr 2006 als Teil des Projektes „Remapping Mozart“ zweifach zur Anwendung, einmal in einer unangemeldeten kurzen Aktion vor dem Parlament, bei der es darum ging, das Thema Wahlrecht für Migrant_innen zu markieren, sowie in der Ausstellung „Es ist kein Traum!“. Im Jahr 2016 wurde es im Rahmen des Projektes „Migration sammeln“ dem Wien Museum geschenkt.
Wir schlussfolgern: Wie dieses Transparent so sollten auch das Museum der Migration und seine Objekte radikal grenzoffen sein, nicht nur hinsichtlich territorialer und nationaler Fragen, sondern auch hinsichtlich ihres Wirkungszusammenhangs. Und als ebenso grenzoffen verstehen wir unsere Ideenwerkstatt.
1 Das Archiv initiierte eine Ausstellung unter dem Titel „KOMMEN/GEHEN/BLEIBEN – 50 Jahre Anwerbeabkommen Österreich-Jugoslawien 1966–2016“.
2 Dort wurde 2014 unter dem Titel „Angeworben! Hiergeblieben! 50 Jahre Gastarbeit in der Region St. Pölten“ eine mehrmonatige Ausstellung organisiert.
3 Verena Lorber organisierte dort 2015-2016 eine Ausstellung zu slowenischen Gastarbeiterinnen, www.grazmuseum.at/ausstellung/lebenswege.
4 Der Verein JUKUS organisierte 2014 dort eine Ausstellung zu türkischer und 2016 zu jugoslawischer Gastarbeit.
5 gastarbajteri.at/im/107455867486.html
6 initiative.minderheiten.at/wordpress/wp-content/uploads/2019/05/03_Ausstellung-Viel_Glück.pdf
7 trafo-k.at/remapping-mozart/htm/main/konfigs/index.htm
8 trafo-k.at/remapping-mozart/htm/konfig2/rundgang/sub01.htm
9 Siehe: migrationsammeln.info
10 www.volkskundemuseum.at/museum_auf_der_flucht
MUSMIG. Ideenwerkstatt für ein Museum der Migration
14. 12. 2019: „Inventur“. Öffentlicher Workshop und Arbeitsgruppentreffen
21. 02. 2020: „MUSMIG. Museum der Migration“. Ausstellung in der Galerie „Die Schöne“ (Wien)
Teilnehmende: Fatih Özcelik, Petja Dimitrova, Sónia Melo, Arif und Evrim Akkiliç, Alice Fehrer, Georg Kö, Elena Messner, Natalie Bayer (angefr.), Goran Novaković, Alexander Matos, Petra Sturm, Handen und Ali Özbas, Ljubomir Bratić, Simon Inou, Sandra Chaterjee, Brigita Malenica, Gizem Gerdan, Regina Wonisch.
Detail- und Programminfos: www.textfeldsuedost.com/musmig-museum-der-migration
Die Wanderausstellung „MUSMIG“ startet im Februar in Wien, und könnte im kommenden Jahr auch in Linz zu sehen sein. Watch out.