Fiftitu, die Vernetzungsstelle für Frauen in Kunst und Kultur, hat Anfang Dezember Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray zur Buchpräsentation eingeladen. Als Frau im wissenschaftlichen Unialltag, als türkisch-muslimische Alevitin und als Rapperin weiß Reyhan Şahin, wie alltäglich Sexismus, Diskriminierung und Rassismus sind. Ihr Buch »Yalla, Feminismus!« ist eine Streitschrift und ein Manifest der weiblichen Selbstermächtigung. Der Referentin hat Reyhan Şahin erfreulicherweise einen Textauszug aus Kapitel 1 zur Verfügung gestellt.
Mit zwölf habe ich begonnen, Musik zu hören. Mein älterer Bruder war Graffitisprayer, ein sogenannter Writer, der immer Kassetten und später CDs mit nach Hause brachte – von Ice-T, Public Enemy oder Eazy-E. Die hörte ich eifrig mit, schließlich schliefen wir zu dritt in einem Kinderzimmer und keiner konnte dem Ghettoblaster entkommen. Mir gefiel der aggressive gespittete Rap, mit dem ich meine Wut ausdrücken konnte, denn ich hatte eine Wut in mir, die ich damals noch nicht steuern konnte. Ich fing an, diesen Sound zu lieben. Deshalb nannten wir unseren Hamster nach dem Rapper Ice-T. Cora E. war damals die einzige sichtbare Frau im Deutschrap. Mich faszinierte als Kind, wie eine Frau ins Mic spittete. Das wollte ich auch! Nie hatte ich eine Faszination für Boygroups entwickelt, die fand ich schon immer uncool. New Kids On The Block, Backstreet Boys, Take That, sie begleiteten mich zwar durch meine Jugend, aber während sie heute wegen ihres Kultstatus gefeiert werden, waren es damals einfach nur langweilige, weißgespülte, fucking Boygroups, die die coolen Street Kids nicht hörten. Sie füllten die Seiten der Bravo oder damaligen Popcorn und wurden von fast allen jungen Mädchen unterwürfig angeschwärmt. Ich fand das schlimm. Ich wusste schon sehr früh, dass ich nicht wegen eines Mannes und seines Aussehens kreischend in Ohnmacht fallen würde, dass es viel wichtiger ist, als Frau selbst etwas zu schaffen und darauf stolz zu sein. Mein Vater hat immer gesagt, dass ich als Frau mindestens das Doppelte leisten muss wie Männer und dass Bildung sehr wichtig für Frauen ist, damit sie unabhängig werden. Heutzutage bin ich froh, dass ich so war! Woher ich in diesem Alter meine kluge Einsicht hatte, weiß ich nicht. Sicherlich nicht aus Magazinen oder aus dem Fernsehen.
Die Schwarzen US-amerikanischen Rapperinnen waren es, die mein Interesse für Emanzipation in meinen jungen Jahren weckten. MC Lyte, Lil’ Kim, Foxy Brown, Missy Elliott oder Lauryn Hill – sie empowerten mich, das Mic in die Hand zu nehmen und die Missstände der türkischen, muslimisch sozialisierten Frau kundzutun. Erst während meiner Promotionsphase entdeckte ich die Schriften von islamischen beziehungsweise muslimischen Feminist*innen. Mit ihnen fühlte ich mich neben dem US-amerikanischen Black Female Rap im feministischen Sinne zuhause. Denn diese muslimischen Feminist*innen sprechen genau die unterschiedlichen Patriarchate, Sexismen und Rassismen an, von denen ich und andere muslimisch sozialisierte Frauen und LGBTQI*s betroffen sind.
2006 wurde ich mit meiner Musik über Nacht berühmt. Über das soziale Netzwerk Myspace, das es damals gab, eine Internetplattform für Musiker*innen. Rap gemacht habe ich aber schon länger, seit 1994. Damals hörten fast nur »Kanaken«, also die Kinder von Arbeitsmigrant*innen, Hip-Hop und R & B. Weiße Deutsche hörten eher weiße Musik, Boybands, Grunge, Heavy Metal oder Rock. Guns N’ Roses zum Beispiel, das war whity-Rock pur. Schwarzen Rap oder Soul, den wir hörten, haben sie eher belächelt, aber keiner traute sich etwas zu sagen, weil’s sonst Ärger von uns gab. US-amerikanischer Rap wurde von der Mehrheit der Weißdeutschen viel später gehört, eher seit den Hits von Snoop Dogg und Dr. Dre. In meiner Schulklasse fingen weißdeutsche Jungs erst mit der Musik des afrodeutschen Rappers Nana an, Rap zu hören. Aber Nana war tatsächlich eher Euro-dance-Popmusik und kein echter Rap. Auch dafür lachte ich viele dieser Jungs aus.
Als ich mit dem Rappen begann, nannte ich mich »Lady Ray«. »Ray« ist seit meiner Schulzeit mein Spitzname, abgeleitet und verkürzt von meinem Vornamen »Reyhan«. Und »Lady« davor wegen folgender Vorgeschichte: 1995 nahm ich mit einem französischsprachigen Rap, den ich zuvor mithilfe des Französisch-Schulwörterbuchs geschrieben hatte, bei einer sogenannten Hip-Hop-Jam teil. Ich liebte damals französischsprachigen Rap von MC Solaar, Ménélik und Soon E MC. Meine französischen Schulwörterbuch-Sex-Rapsongs hat zwar niemand verstanden, aber alle fanden ihren Klang »so wunderbar«. Einmal war ich auf einem Black-Music-Konzert. Der Moderator, der die Acts ankündigte, war schon angetrunken, weshalb er mich wiederholt nach meinem Künstlernamen fragte. »Wie heißt du?«, sagte er und hielt das Mikro weg, damit nicht alle die Frage mitbekamen. »Mademoiselle Ray!«, sagte ich in sein Ohr. »What?!«, schrie er, »Mademoiselle Ray«, »Say it again, say it again …«. Er versuchte, das »Mademoiselle« halb-lallend zusammenzubrechen. Ich merkte, dass er’s nicht packen würde. Ich musste schnell etwas Leichteres sagen, da der Auftrittsmoment nahte. »Lady Ray!«, rief ich ihm unter Druck zu und er kündigte mich an. So war der Name Lady Ray geboren – für ein paar Jahre zumindest.
Zwei Jahre später hatte ich einen Auftritt in einem Freizeitheim in Bremen-Tenever, dort, wo Ferris MC geboren ist. Männliche Jugendliche tummelten sich vor der Bühne. Es hatte sich schon herumgesprochen, dass ich Türkin bin und unanständige Raptexte über Sex schrieb. Die Blicke der Jugendlichen durchbohrten mich, als ich zum Hintereingang der Bühne lief, ich fühlte mich, als wäre ich ein nackter Alien. Breite Klamotten, Baggyjeans, bauchfreies Top und dicke Goldklunker, meine Vorbilder waren T-Boz von TLC und MC Lyte – sowas gab’s damals sonst nur in den Rap-Videos auf MTV. Und eben bei mir, Lady Ray. Als ich auf die Bühne ging, hörte ich schon einige Flüstern: »Bitch«, »Schlampe«, »voll die Nutte«, schallte es leise aus verschiedenen Richtungen. Ich atmete tief ein und legte los. Der erste Song bouncte und die Herren wippten mit starrenden Blicken zu meinem Beat. Als ich losrappte, merkte ich, dass es ihnen gefiel. Nach drei Songs, als die Stimmung im positiven Sinne angeheizt war, stellte ich mich ganz vorne an den Rand der Bühne und kniete mich hin. Ich konnte manchen der Typen direkt in die teilweise ängstlichen Augen sehen. Ich sagte: »Ihr nennt mich also ›Schlampe‹? ›Hure‹, ›Bitch‹?« Ich machte eine Pause und ging auf der Bühne wütend auf und ab. Das Publikum wich sichtbar einen Meter nach hinten. – »Jaaa, das stimmt. Ich bin eine Bitch! Bitch Lady Ray, Lady mo-ther-fu-cking Bitch Ray!« Die drei Wörter dröhnten melodisch auf den Beat. Die Augen wurden noch größer. »Habt ihr mich verstanden?!«, fragte ich. Einige Köpfe nickten zustimmend, als hätte ihnen ihre Mutter gerade gesagt, dass sie heute auf keinen Fall zu spät nach Hause kommen dürfen, weil es sonst kein Abendessen gibt. Seit dem Tag nenne ich mich Lady Bitch Ray. Mir war damals nicht bewusst, dass die US-amerikanische Rapperin Roxanne Shanté den »Bitch«-Begriff zehn Jahre zuvor als Selbstbezeichnung auf einer Bühne in Philadelphia bereits für sich genutzt hat, doch dazu später mehr.
Mit meinen Songs »HengztArztOrgie« und »Ich hasse dich!« wurde ich berühmt. Dass das, womit ich seitdem in den sozialen Netzwerken stündlich überhäuft werde, ein Shitstorm war, eingebettet in übelsten Hatespeech, lernte ich erst zehn Jahre später. 2007 diskutierte ich bei Menschen bei Maischberger über Pornorap, 2008 schenkte ich Oliver Pocher bei der Sendung Schmidt & Pocher ein Döschen echtes Votzensekret von mir, 2011 diskutierte ich mit Alice Schwarzer über ihre einseitige Sicht auf das Kopftuch (auch wenn ich mich von ihr nicht verstanden gefühlt habe). Ich erinnere mich noch sehr gut an den Moment im Juni 2009, als ich vor dem Psychiater in der Klinik stand, in die ich wegen akuter Depression und Angst-Panik-Attacken, die mich im August 2008 überfielen, gegangen war. Er sagte zu mir: »Sie müssen sich das gut überlegen, Frau Şahin: entweder Sie entscheiden sich für Ihre Gesundheit – dann müssen Sie hier genau einen Cut machen und an Ihrer Heilung arbeiten, denn mittelschwere Depressionen sind kein Kinderspiel! Oder Sie machen weiter und fallen irgendwann tot um, weil Sie sich nicht um sich selbst gekümmert haben, Sie haben die Wahl.« Ich kümmerte mich von da an um mich und machte einen Break mit allem anderen. Da meine Musik vom Mainstream überwiegend fehlinterpretiert wurde, fühlte ich mich gezwungen, 2012 das Werk Bitchsm zu veröffentlichen. In diesem Buch erkläre ich, wie die Kunstform von Lady Bitch Ray als sexpositiver Weiblichkeitsentwurf verstanden werden kann, gehe auf die Emanzipation der muslimischen Frau ein, gebe Sextipps und empowere Frauen, trans-, intersexuelle und queere Menschen für eine selbstbestimmtere Sexualität. Da Bitchsm Jahre vor der weltweiten #MeToo-Bewegung erschien, wurde es von deutschen Medien weitgehend ignoriert. Also begann ich, meine Gedanken zum Feminismus in Form von Vorträgen zu verbreiten. Und widmete mich der Wissenschaft.
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Feministische Intersektionalität. In den letzten zehn Jahren fiel das Wort Intersektionalität ziemlich häufig im feministischen Diskurs. Als gängigste Erklärung dafür taucht Mehrfachdiskriminierung auf, welche der Überschneidung von Schnittstellen entspricht, durch die Menschen in mehrfacher Hinsicht diskriminiert sein können, zum Beispiel als Schwarze Frau gleichzeitig von Rassismus und Sexismus betroffen zu sein. Fangen wir aber mal vorne an, denn das Thema der Intersektionalität ist alles andere als eindimensional. Intersektionalität gewinnt dann an Bedeutung, wenn nicht nur das Geschlecht einer Person beim Thema Unterdrückung und /oder Geschlechterungleichheit eine Rolle spielt, sondern auch race. Oder zusätzlich noch die klassenspezifische Zugehörigkeit, was Triple-Oppression oder Dreifachunterdrückung genannt wird. Außerdem können weitere Faktoren wie etwa Körper, Alter, Gesundheit, Kultur, sozialer Status oder Religion bei der Mehrfachdiskriminierung eine Rolle spielen. Die Frage, ob eher race oder Geschlecht Unterdrückung ausmachen, gehört zu den zentralen und entscheidenden Themen, die bisher die Befreiungskämpfe bezüglich Geschlechterungleichheit mitbestimmt haben. Der Einbezug mehrfach marginalisierter Frauen und LGBTQI*s und insbesondere ihre Erfahrungen, so etwa innerhalb der Schwarzen Frauenbewegung, der lateinamerikanischen, muslimischen oder kurdischen Frauenbewegungen sind beim Thema Intersektionalität unabdingbar.
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Textauszug (Kapitel 1) aus:
Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray Yalla, Feminismus!
Klett-Cotta, 1. Aufl. 2019, 316 Seiten,
Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-50427-9
Fr 06. 12. 2019
Lesung Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray: YALLA FEMINISMUS!
Gespräch mit der Autorin und Marie Luise Lehner
Musik von Bad&Boujee
Kunstuniversität Linz
Hauptplatz 6 – Glashörsaal C, 5. Stock
Einlass: 20.00 Uhr, Beginn 20.30 Uhr
Eintritt frei! Um Anmeldung unter office@fiftitu.at wird gebeten
Supported by Frauenbüro Stadt Linz, Linz Kultur, Land OÖ, Bundeskanzleramt Eine Veranstaltung von FIFTITU% und dem Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen, Kunstuniversität Linz.