Kernthemen von Lisa-Viktoria Niederbergers Prosatexten sind häufig Feminismus, Klimaschutz und psychische Erkrankungen. Für ihr aktuelles Romanmanuskript Fische freischneiden hat sie zuletzt mehrere Preise erhalten, so etwa im Herbst 2021 den Kunstförderpreis der Stadt Linz. Anlässlich dessen hier ein Textauszug mit dem Titel Der Regenmantel.
„Bist du bereit?“, fragt Michi bevor wir klingeln und ich sage: „Gleich“, weil ich kontrollieren muss, ob alles passt. Ob mein Regenmantel gut sitzt. Mein Regenmantel aus schwerem, gelbem Ölzeug. Ein Regenmantel so stark, dass ihn die Hochseefischenden in der Nordsee tragen könnten, von dem alles abprallt, auch der ärgste Sturm. Ich nicke, drücke auf die Türklingel. Bussi-links, Bussi-rechts: die Tante, der Onkel, die kleine Cousine, ihr neuer Begleiter: „Kennst du schon Xaver?“ „Nein. Und das ist Michi!“, schiebe ich meinen Freund vor. Er fragt, ob wir den Hummus in den Kühlschrank stellen können. „Ja, wir essen kein Fleisch mehr, wir meinen das ganz ernst und ja, ich weiß, bei der letzten Grillparty vor zwei Jahren, da habe ich die Wildschweinwürste noch gelobt“, sage ich mir vor, übe, falls mich jemand fragt.
Niemand fragt. Samstagmittag: Die Sirene geht los, alle sind da. „Die Pandemie mag uns vieles verlernt haben, aber nicht die Pünktlichkeit“, sagt die Nachbarin und hebt den Aperol. Meine Mutter ist schon im Bikini. Die Steyrer Tante, die große Cousine und ihre Teenies sitzen mit einem aufgeblasenen Einhorn im Pool und trinken knallpinke Alkopops. So viel Familie auf einmal, ich muss mich setzen. Beginne unter dem Regenmantel zu schwitzen. Mein Herz flattert wie ein kleiner Vogel: aus dem Nest gefallen, überfordert. Michi nimmt meine Hand und legt sie auf sein Knie. Mein Cousin geht mit einem Tablett voller Heineken vorbei. Michi winkt für uns beide ab und mein Cousin legt den Kopf schief: „Ach, Alk auch keiner mehr? Habe ich dir erzählt, wie die mich unter den Tisch getrunken hat? Also früher, zwei Mal?“ Michi schüttelt den Kopf und sagt zu mir: „Magst du zählen?“ Michi hat sich gemerkt, was mir hilft. Fünf Dinge, die ich sehe: Tischdeko in Pink, Sweet Sixteen. Ein fremdes Kind läuft mit einer griechischen Landschildkröte in der Hand über den Rasen. Ein Car-Port für den Rasenmähroboter. Ein Riss in der Terrassenfliese. Michis großer Zehennagel gehört geschnitten. Vier Dinge, die ich fühle: Mein Vogelherz. Den Regenmantel, schwer ist er auf den Schultern, klebrig. Ich fühle Hunger, ich habe Durst. Das Wasser auf dem Tisch ist warm, die Kohlensäure ausgeraucht. „Ich gehe uns frisches Wasser holen, okay?“, sagt Michi und ich nicke. Ich rieche Fleisch, nein: Ich rieche tote Tiere auf dem Grill. Ich könnte keine Kuh mehr essen. Vor zwei Jahren haben sie gefragt. Gesagt, dass ich das doch immer mochte: als Kind schon die Knacker zum Frühstück. Und dann habe ich erzählt, von unseren Wanderferien im Pongau und den Schreien der Kühe. Dass der Bauernhof gerade in unserer Woche die Kälber und die Mütter entwöhnt hat. Entwöhnt, so haben die es genannt, wenn es doch heißen sollte, weggerissen voneinander. Und wie die Mütter geschrien haben nach ihren Kindern, tagelang. Zum Fürchten ist es gewesen, besonders in der Früh, beim ersten Tee auf dem Balkon. Das Schreien aus dem Nebel hinter den Fichten, wie im Horrorfilm. Dass die Bäuerin sich entschuldigt hat, dass die „sonst nie so lästig sind“, dass die Kühe „das eigentlich längst gewohnt sein sollten“ und uns eine Sulz mitgeben wollte. Dass Michi und ich gleichzeitig abgewehrt haben und gewusst: sowas kommt uns nicht ins Auto und nicht mehr in die Körper.
Meine Cousine sitzt neben mir auf der Bierbank und lächelt. Bevor ich sie fragen kann, wieso, legt sie mir die Hand auf den Bauch. Sie schiebt einfach den Regenmantel zur Seite, streichelt meine Hautfalten über der Bikinihose. „Ist da etwas, das wir noch nicht wissen dürfen?“, fragt sie und ihre Augen leuchten. „Was?“ Da ist plötzlich etwas im Regenmantel. Mottenlöcher, Risse. „Kriegst ein Kind? Bist schwanger?“, fragt sie und mein Cousin schreit „Sie wollte vorher auch kein Bier! Wer holt den Sekt aus dem Keller?“ Der Regenmantel bröckelt, fällt in gelben Flocken unter die Bierbank. „Niemand ist schwanger.“ Michi ist wieder da, sitzt neben mir wie ein vollgeschneiter Berg im Winter. Alle schauen auf meinen Bauch, enttäuschte Erwartungen in den Augen. Niemand sagt, dass ich also nur fett geworden bin, aber sie denken es. Ich sehe es in ihren Gesichtern. Diese Familie will ein neues Baby und ist enttäuscht, dass mein Körper sie hat glauben lassen, es wäre eins auf dem am Weg.
Mein Stiefvater steht auf einmal da, unsere Tupperbox mit Hummus und eine Selleriestange in der Hand. „Schmeckt gut. Kumin, oder? Aber das Tahini, das schmecke ich nicht raus.“ „Ist keines drin. Ist mir zu bitter.“, sage ich und fühle mich, als hätte ich ewig nicht geredet. „Dann ist es aber kein Hummus, sondern bloß Kichererbsenaufstrich!“ Mein Stiefvater sieht den Teller voller Koteletts, Bratwürste und Käsekrainer und gibt mir den Rest meines Essens. „Kinder, was für ein Festessen“, ruft der Steyrer Onkel und klopft sich auf den Bauch. „Und da fehlt es dir nicht?“, fragt meine Mutter und beißt in eine Wurst. Meine Cousine spricht statt mir: „Sie verhungert auch so nicht!“ Michi hält sein Besteck fest, die Knöchel seiner Finger treten hervor. Er kaut seinen Kartoffelsalat nicht, sondern schlingt ihn. Ich esse Knoblauchbrot, drei Gabeln Tomatensalat und hole den Tablettendispenser aus meiner Handtasche. Mittags sind es nur zwei, niemals auf nüchternen Magen. Jemand sagt etwas, ein Lachen, Michi knurrt. Ich sehe seine Eckzähne, seine Bartborsten rund um den Adamsapfel, seine wilde Frisur und seinen gehetzten Blick. Michi ist mein Wolfshund. Zerreißen würde er die alle, auf einen Pfiff oder einen Wink von mir. Ich verdiene diese Liebe gar nicht, denke ich und muss aufpassen. Ich habe gelernt: depressive Menschen lehnen ihre Liebsten oft ab, weil sie nicht verstehen, wie jemand sie mögen kann, wenn sie sich doch selbst so hassen.
Die Bogensberger sagt, ich kann meine Familie nicht ändern, sondern nur meine Erwartungen an sie. Ich muss sie akzeptieren mit all den Traumata, den Mustern, den Wiederholungen. Oder gehen. „Niemand zwingt Sie, in toxischen Beziehungen zu bleiben“, sagt sie. Und wenn ich mich am Dienstag in der Stunde bei ihr ausheulen werde, wird sie sagen, dass ich das kenne. Und während ich auf den Gummibaum gegenüber ihrer Couch schauen werde, wird mir vielleicht einfallen, dass das bei uns immer schon so war: Bodyshaming als Kulturtechnik, als Familientradition. Dass Fleischbeschau auf solchen Festen noch nie am Kugelgrill geendet hat. Die Cousine als Kind auch zu dick, zu große Brüste als Teenagerin. „Obszön sowas. Die provoziert damit doch die Männer“, werde ich die Oma in meiner Erinnerung sagen hören.
„Ich weiß auch nicht. Ich möchte eine Familienfeier, die sich wirklich nach Familie und nach Feiern anfühlt“, habe ich letzte Woche zur Bogensberger gesagt. Und nicht diese Veranstaltungen, wo man sich ins Koma frisst und spätestens beim Kuchen jemand was zu mir sagt, das mich verletzt. Dann sagt, ich soll das nicht so ernst nehmen „es war ja nicht bös gemeint“. Der Hinweis meiner Mutter zu Ostern, dass Sport laut Für Sie gut gegen depressive Verstimmungen hilft und die mich „patzig“ genannt hat, weil ich gesagt habe, dass das gut ist, ich also meine Tabletten wegschmeißen kann. Statt zur Therapie einfach ins Fitnessstudio gehen und alles wird gut. Da haben die Bogensberger und ich den Regenmantel erfunden. Den Regenmantel von dem alles Negative abprallt.
„Du bist mir eh nicht bös“, sagt meine Cousine, stellt ihren Teller mit Marillenkuchen ab und beginnt zu essen, weil es eine Feststellung ist und keine Frage. Michi wird wieder größer neben mir: grollt, bleckt die Zähne, gelbe Augen. „Michi, hilfst du mir später meinen Regenmantel zu reparieren? Imprägniert gehört er“, sage ich und lege alle Zuversicht und Wärme, die ich von irgendwo unten hervorwühlen kann, in den Satz. Michis Augen werden sanft, die Haare auf seinen Unterarmen legen sich wieder. Ein Kuschelwolf, der beruhigt Marmelade auf seinen Gugelhupf schmiert. „Regenmantel, bei der Hitze?“, fragt der Onkel und sagt zu meiner Mutter: „Das ist doch ein Code für was.“ Und plötzlich, ganz unerwartet, vielleicht zum ersten Mal überhaupt hat jemand in dieser Familie etwas über mich gesagt, das stimmt.
Lisa-Viktoria Niederberger, geboren 1988 in Linz, hat in Salzburg Kunstgeschichte und Germanistik studiert und als Redakteurin der Literaturzeitschrift erostepost, als Buchhändlerin und beim freien Radio gearbeitet. Das literarische Debüt „Misteln“, ein Kurzprosaband, ist im März 2018 in der edition.mosaik erschienen. Seit 2015 Veröffentlichungen von Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Talentförderungsprämie des Landes OÖ für Literatur 2019, Startstipendium 2021, Kunstförderpreis der Stadt Linz 2021, Theodor Körner Förderpreis 2021. Gegenwärtig Studium der Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz und freiberufliche Arbeit an literarischen Projekten sowie Rezensionen und kulturjournalistische Beiträge. Kuratiert seit 2021 die feministische Lesereihe „FIFTITU% liest“ (Kickoff Veranstaltung musste covidbedingt auf April 2022 verschoben werden.)
Erschienen sind zuletzt unter anderem: Jenseits der Genitalpanik: Furchtbare Himmelsweiber und göttliche Scherze (Essay) in: „Wer begreift hat Flügel“ Essays zu, mit und ausgehend von VALIE EXPORTS ARCHIV, Sonderzahl, Wien, 2021. Aus offenem Fenster Cello, in: Die Rampe, Hefte für Literatur #1/2020. Im zehnten Stock geht immer Wind in: Facetten 2020, Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz.
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