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Stadt oder Chaos

By   /  4. März 2022  /  No Comments

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Linz zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die baulichen Erfordernisse einer wachsenden Stadt waren zu bewältigen. Curt Kühne (1882–1963) und Julius Schulte (1881–1928) treiben die Entwicklung voran. Bauten wie Parkbad, Volksküche, Diesterweg- oder Weberschule, Siedlungsbauten, Industriebauten und private Wohnhäuser prägen bis heute das Stadtbild. Georg Wilbertz über die beiden Architekten und Stadtplaner, ihr vorbildliches Wirken für Linz und ihre Relevanz bis in die Gegenwart.

„So lange ich in Linz bleibe, werde ich mich energisch dafür einsetzen, daß nichts von dem uns Überlieferten zerstört werde und daß das Neue mit der nötigen Rücksicht auf das Alte entstehen möge.“ [Julius Schulte in seinem Beitrag „Die Entwicklung von Linz-Süd im Lichte des modernen Städtebaus, Tagblatt 1. Nov. 1925]

Aus diesem Eingangszitat spricht nicht nur ein bemerkenswertes berufliches Ethos, sondern es muss im besonderen Kontext der Zeit verstanden werden. Als der Architekt Julius Schulte (1881–1928) diesen Satz formulierte, befand sich Linz in einer Phase des Umbruchs. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Verwerfungen, die der 1. Weltkrieg zur Folge hatte, wuchs die Stadt und musste dieses Wachstum durch entsprechende Baumaßnahmen (v. a. Wohnungs- und Siedlungsbau) und Infrastrukturmaßnahmen auffangen und sozial bewältigen. Schulte erkannte und analysierte die Tendenzen des Umbruchs. Er realisierte den wirtschaftlichen und politischen Druck, der fast zwangsläufig auf Linz lastete. Für ihn waren damit erhebliche Gefahren für die Stadt, ihre historische Substanz und ihre Identität, die sich vor allem im Stadtbild manifestierte, verbunden. Die weitere Entwicklung sollte und durfte nicht ungeregelt von Partikularinteressen dominiert werden. Bei allen deutlichen Unterschieden zwischen Julius Schulte, der 1921 das städtische Bauamt zugunsten einer freien Tätigkeit verließ und Curt Kühne (1882–1963), der ab 1915 dieser Behörde bis 1938 vorstand, war beiden klar, dass nur Planungsansätze und -perspektiven, die die Gesamtstadt im Auge behielten, zielführend sein konnten. Und damit beginnt ihre verblüffende Relevanz für die Gegenwart. Natürlich ist nicht gemeint, das Wirken und die Konzepte der beiden Planer zu revitalisieren oder als Blaupausen für die Stadtentwicklung der 2020er Jahre in Betracht zu ziehen. Die Zeiten und ihre Anforderungen haben sich diesbezüglich natürlich geändert. Es geht eher um die prinzipielle planerische Einstellung zur Stadt und ihrer Entwicklungspotentiale und es geht um die Frage, wie in Linz die lang vermisste und ebenso lang geforderte Baukulturdebatte endlich für eine breitere Öffentlichkeit nachvollziehbar etabliert werden könn­te. Die bisher zu diesen Fragen ins Leben gerufenen Verfahren, Impulse und Formate sind – leider – nicht ausreichend. Manches erinnert sogar eher an beschwichtigende Nebelkerzen als an ernstzunehmende Diskursangebote, die wirkliche Kontroversen anstoßen und aushalten.

Zu den großen Glücksfällen der Recherche zu Julius Schulte gehörte, dass er sich in einer Reihe von Beiträgen in Linzer Tageszeitungen (Tagblatt und Tagespost) kenntnisreich und detailliert zu Fragen der zeitgenössischen und zukünftigen Entwicklung von Linz geäußert hat. Diese Texte waren bis heute nahezu unbekannt. Noch verblüffender war die Erkenntnis, dass Schultes Beiträge in vielerlei Hinsicht eine geradezu „beängstigende“ Relevanz für unsere aktuelle Situation besitzen. Immerhin sind sie rund einhundert Jahre alt. Schulte erkannte die mit Hochhausbauten in der Stadt verbundenen Probleme für das Verkehrsaufkommen (und er bezog sich auf Bauhöhen zwischen 40 und 60 Metern!), er lehnte Spekulation vehement ab und interessierte sich stattdessen für das Stadtbild. Er thematisierte grundsätzlich Fragen einer sozialverträglichen Stadtentwicklung, die wirtschaftliche In­te­ressen durchaus miteinbezog und auf schonende Weise den historischen, unersetzbaren Stadtkörper und seine prägende Architektur mit den Anforderungen der Moderne (die er als Planungsprämisse bejahte) verbinden sollte. Schulte verstand seine Textbeiträge und Vorträge als wichtige Instrumente, die die Öffentlichkeit in den Stand setzen sollte, emanzipiert und aufgeklärt nicht nur die Stadt wahrzunehmen, sondern sich aktiv am städtebaulich-architektonischen Diskurs zu beteiligen. Was in den damals hochaktuellen Bereich der allgemeinen Volksbildung fiel, wäre heute ein wichtiger Beitrag zur Baukultur. Inhaltlich anders und deutlich pragmatischer orientiert waren die Beiträge des Linzer Stadtbaudirektors Curt Kühne zur Linzer Stadtentwicklung. Sie sind nicht nur als Leistungsbericht seiner Behörde und Person zu sehen. Darüber hinaus zeigt Kühne wichtige Planungszonen und -szenarien für die weitere städtische Entwicklung auf. Der Schwerpunkt liegt dabei neben den wichtigen öffentlichen Bauten und der Infrastrukturplanung vor allem auf der Frage des Wohnungsbaus. Dass in der Zwischenkriegszeit das Zurverfügungstellen leistbaren, die sozialen Verhältnisse verbessernden Wohnraums das Hauptproblem war, ist hinlänglich bekannt. Auch aktuell ist die Situation auf dem Wohnungsmarkt vorsichtig formuliert bedenklich und die zur Lösung in Betracht gezogenen Maßnahmen (Hochhäuser gehören definitiv nicht dazu) sicher noch nicht ausreichend.

Wie differenziert und umfassend der Planungshorizont der Architekten Schulte und Kühne vor rund einhundert Jahren war, kann hier nicht wirklich dargestellt werden. Um die Texte von Schulte und Kühne wieder ins Bewusstsein zu bringen, hat sich das afo-architekturforum zu deren Herausgabe entschlossen. Seit kurzem liegt der Band als Nummer 11 der Afo-Nachsatz-Reihe vor. Mögen die Texte im Konzert der großen, teilweise heftig geführten Architekturdebatten der Moderne nur eine untergeordnete Rolle spielen, beziehen sie jedoch ihren besonderen Wert durch ihren engen, nachvollziehbaren Linz-Bezug. Diese Facette einer „Architekturtheorie“ der Moderne für Linz war bisher weitgehend unbekannt. Der Band stellt eine ideale Ergänzung zum großen Katalogband „Gebaut für alle. Curt Kühne und Julius Schulte planen das soziale Linz (1909–38)“ des Nordico Stadtmuseums dar.

Nicht mehr besucht werden kann die bis zum 18. 2. 2022 im afo gezeigte Ausstellung „Kühne, Schulte, Gegenwart“, die den Gegenwartsbezug der Bauten beider Planer vorstellte. Dagegen ist die Ausstellung „Gebaut für alle“ noch bis zum 1. Mai 2022 im Nordico zu sehen. Auch wenn sich diese auf die historischen Aspekte des baukünstlerischen Schaffens von Schulte und Kühne konzentriert, gibt sie beredt Auskunft über die Potentiale verantwortlicher architektonischer und städtebaulicher Planung für Linz. Sie zeigt vor allem, dass die auf Linz bezogene, hohe architektonische Qualität und bewusste städtebauliche Situierung sicherstellte, dass die sorgfältig geplanten Bauten und die in ihnen vertretenen Institutionen innerhalb des Stadtraums wahrgenommen wurden. Zugleich waren sie als wichtige Impulse für die weitere Stadtentwicklung gedacht. Sowohl für Kühne als auch für Schulte endete angemessene Planung nicht bei der Erfüllung funktionaler Anforderungen. Sie verstanden ihre Bauten als angemessen gestaltete soziale Orte, die im Idealfall zu einer Verbesserung der Lebenswirklichkeit breiter gesellschaftli­cher Kreise beitragen sollten. Diese Zielsetzung traf auch – bei durchaus unterschiedlicher Herangehensweise – für den Wohn- und Siedlungsbau beider Architekten zu. Es gibt einen nicht zu verleugnenden existenziellen Zusammenhang, zwischen Stadtgestalt (historisch und gegenwärtig), angemessener Planungs- und Ausführungskultur, spürbarer Identität der Stadt und der, den Bewohner*innen zu gute kommenden Lebensqualität. Dies ist kein „Schnee von gestern“ und wird in der Nordico-Schau unmittelbar deutlich.

 

Stadt oder Chaos: Titel eines am 20. März 1925 im Tagblatt erschienen Titels von Julius Schulte

Publikationen:
Andrea Bina u. Georg Wilbertz (Hg.): Gebaut für alle. Curt Kühne und Julius Schulte planen das soziale Linz (1909–38). Salzburg 2021. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Nordico Stadtmuseum, Linz, 29 €)

Tobias Hagleitner u. Georg Wilbertz (Hg.): Curt Kühne / Julius Schulte. Nachsatz 11 des afo architekturforums oberösterreich. Linz 2022. (Kommentierte Textsammlung, erhältlich im afo, 10 €)

Ausstellung:
Ausstellungsempfehlung der Referentin, leider nur mehr für eine Schau: Nicht mehr besucht werden kann die im afo gezeigte und von Tobias Hagleitner kuratierte Ausstellung „Kühne, Schulte, Gegenwart“, die bis Februar zu sehen war. Videos zur Ausstellung auf DorfTV: dorftv.at/channel/afo

Noch geöffnet bis 1. Mai im Nordico: „Gebaut für alle. Curt Kühne und Julius Schulte planen das soziale Linz (1909–38)“

Veranstaltungshinweise:
Fr., 18. 3. 22, 14.00 h: Führung durch den Linzer Urnenhain (Urfahr) und das alte und neue Krematorium

Fr., 25. 3. 22, 14.00 h: Führung zu Bauten von Julius Schulte in Linz Urfahr (Weberschule, ehemaliges Rathaus, Wohnbau Gerstnerstraße)

Fr., 8. 4. 22, 14.00 h: Führung zu Siedlungs- und Wohngebäuden von Julius Schulte am Linzer Froschberg Nähere und aktuelle Infos zu den Veranstaltungen unter: www.nordico.at/programm/fuehrungen-veranstaltungen

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Architektur- und Kunsthistoriker lebt in Linz.

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