Praktischer Anarchismus
Die Referentin #40
Die Referentin bringt seit längerer Zeit eine Reihe über den Anarchismus als frühe soziale Bewegung und Ausdruck kämpferischer emanzipatorischer Entwicklungen. Vera Bianchi über die Gruppe Mujeres Libres: Die freien Frauen setzten anarchistische Ideen in der Spanischen Revolution um.
Arbeiterinnen der Kriegsindustrie in der Ausstellung. Bild Archiv Sara Berenguer
Anarchistische Vorstellungen über das Zusammenleben freier Individuen in einer herrschaftsfreien Gesellschaft gibt es seit bald 200 Jahren, wenn wir die Frühsozialist*innen als Vorläufer*innen ansehen. Aber wann gibt es schon die Möglichkeit, diese Gesellschaftsformen in die Tat umzusetzen?
Ein solcher gesellschaftlicher Freiraum eröffnete sich 65 Jahre nach der Pariser Commune, als Arbeiter*innen auf den Beginn des Spanischen Bürgerkriegs am 18. Juli 1936 mit einer sozialen Revolution reagierten.
Auf ungefähr der Hälfte des spanischen Territoriums bewaffneten sich Arbeiter*innen und schlugen den faschistischen Putsch von General Francisco Franco und seinen verbündeten Generälen nieder. In dem darauf entstehenden Machtvakuum war auf einmal Raum für Gesellschaftsformen jenseits von Monarchie, Diktatur und republikanischem Experiment (1873/74 in der sogenannten Ersten Republik Spaniens). Die Arbeiter*innen nutzten ihre Macht nicht, um das kapitalistische System zu verteidigen, sondern begannen eine politische, ökonomische und soziale Revolution. Revolutionskomitees aus Sozialist*innen, dissidenten Marxist*innen und Anarchist*innen übernahmen die Macht und organisierten Kollektivierungen von Fabriken und städtischen und ländlichen Betrieben. Auch die bewaffneten Einheiten, die an der Front gegen die faschistischen Putschisten kämpften, wurden hierarchiefrei geführt – in Form von Milizen ohne Dienstgrade, Hierarchien und Gehorsamspflicht nach oben.
Die revolutionären Umstände halfen einer bis dahin kleinen anarchistischen Frauengruppe, den Mujeres Libres. Diese hatten sich zunächst als Zeitschriftenredaktion gegründet und mit der gleichnamigen Zeitschrift an Anarchistinnen und andere Arbeiterinnen gewandt, monatlich seit April 1936. Die drei Gründerinnen Lucía Sánchez Saornil, Mercedes Comaposada Guillén und Ámparo Poch y Gascón waren seit Jahren in der spanischen anarchistischen Bewegung aktiv, sahen aber aufgrund des dort mitunter auftretenden patriarchalen Verhaltens die Notwendigkeit, sich als Frauen zu organisieren. So gab es bereits Vernetzung unter anarchistischen Frauen, als viele Arbeiterinnen im Juli 1936 Netzwerke suchten, um die soziale Revolution durchzuführen.
Durch die besondere gesellschaftliche Situation bekamen nicht nur die bestehenden Gruppen enormen Zuwachs an Mitgliedern, sondern es gründeten sich in vielen Städten und Dörfern neue Ortsgruppen. Diese waren dezentral und nicht-hierarchisch organisiert und führten vor Ort die unterschiedlichsten Aktivitäten durch. In der Zeitschrift Mujeres Libres lassen sich viele davon nachlesen; ich fasse hier einen Teil davon unter den Stichpunkten Bildung, Ausbildung, freie Kindererziehung und Unterstützung der republikanischen Seite im Spanischen Bürgerkrieg zusammen.
Bildung und ökonomische Unabhängigkeit
Die wichtigsten Voraussetzungen für die Befreiung der Frauen sahen die Mujeres Libres einerseits in der ökonomischen Unabhängigkeit, andererseits in der Fähigkeit, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen und eigene Gedanken auszudrücken. Um sich und andere Arbeiterinnen dazu in die Lage zu versetzen, organisierten Mitglieder der Mujeres Libres vor allem in den drei Großstädten der republikanischen Zone – Madrid, Barcelona und Valencia – Bildungskurse und Möglichkeiten der Ausbildung. Die Bildungskurse reichten von Alphabetisierungskursen über Sprachkurse bis zu Kursen in Soziologie, Mathematik und Geografie. Berufliche Kurse boten die Mujeres Libres in Barcelona unter anderem für Krankenschwestern, Ingenieurinnen und für Landwirtinnen an; in Madrid gab es unter anderem Ausbildungskurse in Stenografie, Mechanik und Schneidern.
Die Herausgabe der zunächst monatlich erscheinenden Zeitschrift Mujeres Libres, Kultur und soziale Dokumentation diente mehreren Zielen: zum einen, Frauen „geistig, kulturell und sozial zu bilden“ (vorausgesetzt, sie konnten bereits lesen), indem in fast jeder Ausgabe revolutionäre Frauen in der Geschichte vorgestellt wurden. Zum anderen ermöglichte die Publikation einen regelmäßigen Austausch zwischen den Ortsgruppen: in der Rubrik „Aktivitäten der Gruppe Mujeres Libres“ wurde z. B. von der Gründung einer Bibliothek, von Bildungskursen und von der Unterstützung Geflüchteter berichtet. Auf diese Weise bekamen die Mitglieder Anregungen aus den anderen lokalen Gruppen. Und schließlich sollte die Zeitschrift Frauen für den Anarchismus interessieren und politisieren. Die Redaktion gab zwischen Mai 1936 und Oktober 1938 13 Ausgaben in unterschiedlichen Formaten heraus; zunächst monatlich, seit dem Beginn von Bürgerkrieg und Revolution in wechselnden Abständen.
Freie Kindererziehung
Neben der Befreiung der Frauen durch Bildung, Ausbildung und ökonomische Unabhängigkeit sahen die Mujeres Libres auch die Befreiung der Kinder als unerlässlich für eine freie Gesellschaft an. Durch eine gewaltfreie Erziehung sollten die Kinder frei aufwachsen, in einer koedukativen und freien Schule ihre Interessen kennenlernen und diesen ohne Zwang nachgehen. Mitglieder der Mujeres Libres unterhielten in Barcelona und Terrassa zwei Geburtskliniken, in denen sie Kurse in „bewusster Mutterschaft“ für Schwangere und Mütter sowie Vorsorgeuntersuchungen für Babys und Kinder anboten, Amparo Poch y Gascón gab Kurse in Kindererziehung. Kinder sollten zu freien, selbst denkenden Menschen erzogen und so die zukünftigen Träger*innen einer freien Gesellschaft werden. Die Mujeres Libres plädierten für die Ausbildung neuer Lehrerinnen, da die bürgerlich-kapitalistischen die Kinder in ihrem Sinne weiterhin beeinflussen und so die Revolution konterkarieren würden. Außerdem sollte niemand ohne Phantasie, Intuition und Inspiration Lehrerin werden.
Bewaffneter Kampf gegen Faschismus
In den Bereichen der Bildung für ökonomische Freiheit und der freien Kindererziehung wurden die Mujeres Libres aufgrund ihrer anarchistischen Überzeugung aktiv. Im Gegensatz dazu ergab sich der dritte Bereich, auf den ich hier eingehe, aus den äußeren Umständen der Bürgerkriegssituation: Viele Mujeres Libres unterstützten aktiv sowohl die soziale Revolution als auch den Kampf gegen die Franquist*innen – an der Front und im Hinterland. In den republikanischen Volksmilizen, die sich im Juli 1936 gründeten, waren viele Frauen aktiv, darunter viele Anarchistinnen, die bewaffnet neben ihren männlichen Genossen im Schützengraben lagen und kämpften. In den ersten drei Monaten gab es eine eigene Kolonne der Mujeres Libres, und Anarchistinnen wie Concha Pérez Collado kämpften monatelang in gemischten Milizen. Dieses selbstbestimmte Eintreten für die eigenen Ideale und die Freiheit der Mitmenschen auch mit der Waffe in der Hand wurde Frauen nach drei Monaten wieder verboten: Die Volksfrontregierung, wie die legale republikanische Regierung hieß, erließ am 21.10.1936 ein Dekret über die Eingliederung der Milizen in die regulären Streitkräfte. Danach gab es wieder Hierarchien, unterschiedlichen Lohn für die verschiedenen Dienstgrade, und Frauen wurden vom Kampf mit der Waffe ausgeschlossen, so dass sie entweder die Front verlassen mussten oder als Krankenschwester, Köchin, Wäscherin oder im Postdienst eingeteilt wurden. Tatsächlich wurde das Verbot des weiblichen Frontkampfes aber nicht in allen Abschnitten umgesetzt.
Direkte Aktion und gegenseitige Hilfe
Auch in den Städten und Dörfern kämpften die Mujeres Libres für den Sieg im Bürgerkrieg und die Fortsetzung der sozialen Revolution. In der republikanischen Zone bestand ein großes Problem in der Lebensmittelknappheit, denn hier lebten mehr als die Hälfte der Spanier*innen, aber die großen Getreidefelder befanden sich in der franquistischen Zone. Die anarchistischen Praktiken der direkten Aktion und der gegenseitigen Hilfe wandten die Mujeres Libres hier an: Direkte Aktion bedeutet, nicht die Verantwortung für die Verbesserung der eigenen Situation jemand anderem zu übertragen, sondern unmittelbar an den Missständen anzusetzen. Direkte Aktionen können z. B. Streiks, Demonstrationen, Besetzungen und Lebensmittelorganisationen sein. Die Mujeres Libres versuchten die Lebensmittelknappheit auf vielfältige Weise zu lösen, z. B. durch Verbreitung von Erkenntnissen aus den Landwirtschaftswissenschaften, wie mit weniger Anstrengung mehr produziert werden konnte, und mit praktischen Tipps zur Vermeidung des stundenlangen Schlangestehens vor Lebensmittelgeschäften.
Eine Form der direkten Aktion ist nach Peter Kropotkin die gegenseitige Hilfe, eine gelebte Solidarität unter den Menschen. Gegenseitige Hilfe leisteten die Mujeres Libres vor Ort, wenn sie Kinderbetreuung für Arbeiterinnen organisierten sowie öffentliche Mittagstische, denn viele Arbeiterinnen versorgten neben der Lohnarbeit sowohl ihre Kinder als auch ältere Familienmitglieder, die nicht mehr selbst kochen konnten. Auch die Vorträge von Mujeres Libres-Ortsgruppen zu sexueller Aufklärung und Empfängnisverhütung waren eine Form der direkten Aktion und gegenseitigen Hilfe.
Literatur:
Vera Bianchi: Feministinnen in der Revolution. Die Gruppe Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg. Münster, 2. Auflage 2020
Vera Bianchi: Mujeres Libres – Freie Frauen in zwei Epochen. Anarchistinnen in Spanien: Kampf um Anerkennung in den 1930ern und 1970ern. In: Graswurzelrevolution 475, Januar 2023;
www.graswurzel.net/gwr/2022/12/mujeres-libres-freie-frauen-in-zwei-epochen
Ergänzung zum Bildabdruck:
Das hier verwendete Bild wurde auch abgedruckt in Vera Bianchi (Hg.): Mujeres Libres. Libertäre Kämpferinnen. Bodenburg 2019, S. 155.
Die Anarchismus-Textreihe in der Referentin widmet sich dem Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt, zeichnet Porträts über frühe Anarchist*innen und benennt aktuelle Tendenzen im anarchistischen Denken und seiner Praxis. Die Serie ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, die ebenso Themen und Autor*innen der Reihe betreut.
Siehe auch: anarchismusforschung.org.
Redaktionell geführte Veranstaltungstipps der Referentin