Unter anderem über „niemals angestrengte, niemals aufgelöste, stets glattrasierte Gesichter der Macht“ schreibt Otto Tremetzberger in seinem neuen Buch „Die Unsichtbaren“, das im November erschienen ist. Ines Schütz hat es gelesen.
Das Cover von Otto Tremetzbergers Roman „Die Unsichtbaren“ weckt Erinnerungen: Ein Kind in den Siebzigerjahren (darauf deuten jedenfalls die beigefarbene Cordhose mit Hosenträgern, das rot-weiß karierte Hemd und die roten Sandalen) hält sich die Augen zu – „einschauen“ hat man früher bei uns dazu gesagt. Vielleicht murmelt es noch die letzten Zahlen ganz schnell, um dann loszustürmen und die anderen zu suchen. Vielleicht möchte es aber auch selbst nicht gesehen werden – also Augen zu und weg. Daran haben wir doch alle einmal geglaubt, zumindest kurz, genauso wie der Ich-Erzähler im Roman. „Unsichtbarsein. Ein Bubentraum, denke ich. Als Kind habe ich mir vorgestellt, man könnte durch Wände gehen, einfach so, wenn man nur wollte, aber aus Angst, in der Mauer steckenzubleiben, habe ich es nie getan.“
Unsichtbarsein heißt in diesem Roman aber auch, zu wenig Bedeutung haben. Wer keine Spuren hinterlässt, wird auch leicht übersehen, wer schwach ist, zählt nicht. Zumindest nicht in der Welt, in der sich der Ich-Erzähler im ersten Teil des Buches bewegt: ein Büro im dreizehnten Stock der ACIM Technical Solution GmbH, einen Stock unter der Chefetage, die der Ich-Erzähler und sein Kollege wie zu Schulzeiten „Direktorium“ nennen. Ein Zuviel an Bedeutung macht offensichtlich auch unsichtbar, auf alle Fälle ununterscheidbar hinter dem gleichen Äußeren: „Immer aufs Neue staune ich über dieselbe graue, wie auf die Haut gemalte Tönung in ihren niemals angestrengten, niemals aufgelösten, stets glattrasierten Gesichtern der Macht. Oder ist es Make-up, oder sind es Masken aus Elfenbein?“
Bei Besprechungen in der vierzehnten Etage hat der Erzähler oft den Eindruck, er sehe und höre alles wie durch einen Filter hindurch und fühlt sich zurückversetzt in seine Kindheit: Schon damals hatte er die Welt wie durch ein Wasserglas gesehen, aber dafür gab es einen Grund: die Unverträglichkeit von künstlichem Licht.
Auf „seiner“ Etage geht es nicht viel besser. Hier scheinen zwar viele wichtig, aber ob das auch alles echt ist? „Was ich mir denke, was ich niemals ausspreche: Hier ist keiner er selbst. […] Wir tragen Bezeichnungen, Titel. Facility Manager. Senior Sales Manager … Rollenbeschreibungen. Rollen, das ist wahr, aber wir haben es nicht nötig, einen Text zu lernen. Eines Tages um acht sitzt man an seinem Schreibtisch. Man beginnt mit seiner Arbeit so selbstverständlich, wie man nachts schläft – und wie im Schlaf wacht man manchmal auf, für einen Augenblick verwirrt und orientierungslos.“
Der Ich-Erzähler ist Teil in diesem Spiel der Wichtigkeiten, auch wenn er ab und an gern ein wenig ausbrechen möchte. Herumblödeln im Aufzug zum Beispiel, allein vor dem Spiegel Grimassen schneiden und den Clown spielen. „Aber in der Kabinenwand sind Mikrofone, in den Deckenpaneelen ist eine Kamera eingebaut. Die Aufzüge werden seit dem Auffliegen einer Betriebsspionage überwacht.“ Manchmal kippt der Ich-Erzähler aus dieser eingespielten Maschinerie heraus. Dann scheinen die anderen über Menschen wie über Film- oder Romanfiguren zu reden, kommen ihm ihre Stimmen wie ein fernes Rauschen vor, dann spielt sich alles wie durch einen Schleier hindurch ab – und er steht daneben.
Zuhause wird Paella mit Kaninchen und französischer Rotwein aufgetischt, und plötzlich erscheint dem Erzähler auch seine Freundin, die Schauspielerin Anna, völlig fremd: „Unser Leben kam mir vor wie eine Erfindung; eines dieser Stücke, die jemand […] inszenierte, Abklatsche, Reste von Wirklichkeiten, Kulissen.“ Dabei hatte er selbst die Arbeit am Theater aufgegeben, um genau dem zu entgehen: „Mein Leben war mir schließlich wie eine Fälschung vorgekommen. Was ich erlebte, waren Kopien von Einbildungen und Fantasien, Ereignisse, von denen ich gelesen, von denen ich bloß geträumt hatte, eigene und fremde Vorstellungen, die sich eines Tages als wahr herausstellen würden. Wenn ich ins Theater ging, meist gegen Mittag, war ich nie sicher, wäre ich nachts noch derselbe?“
Trotz dieser gelegentlichen „Aussetzer“ spult sich der Alltag immer gleich ab. Doch dann ist da plötzlich diese Notiz auf dem Schreibtisch des Erzählers, er solle K. anrufen. Den Jugendfreund, der zu jenen gehört, die einem nicht im Gedächtnis bleiben. Wären da nicht immer wieder Zufälle, die den Erzähler an ihn denken lassen, er würde ihn glatt vergessen, er wäre für ihn nicht existent. Der Freund, mit dem er sich in Kindertagen Namenszettel mit „Ivan Lendl“ oder „Boris Becker“ an die Tennis-Tasche gehängt hatte – „Ein Stolz war in uns, wenn wir auf den Platz gingen, siegessicher, die Taschen geschultert, das Racket im Arm, die Büchse mit den gelben Filzbällen … Mit diesen Schildern, fanden wir, hatten wir das Recht, uns wie Lendl oder Becker zu fühlen, Lendl oder Becker zu sein.“ In der Erwachsenenwelt ist K. ganz eindeutig nicht zu den Siegern zu zählen: Er demonstriert „Gegen Staat und Kapital“, lebt in einem desolaten, verlassenen Haus – und liegt nach einem „Handgemenge“ im Krankenhaus. „Du sollst K. anrufen!“ – diese Worte bringen etwas zum Kippen im Leben des Erzählers und auch in der Erzählung selbst. Die Entscheidung, K. im Krankenhaus zu besuchen (in dem er selbst als Kind eine Zeit lang war), wirft ihn heraus aus seinem Alltag, aus dem, was er für seinen Alltag gehalten hatte, und erschließt ihm eine neue Welt. Vielleicht lässt sie ihn aber nur wieder eintauchen in ein Leben, das für ihn verschüttet war: „Später wurde mir klar, bei dieser Begegnung geschah etwas mit mir, als wäre eine Art Schalter betätigt worden; ein Weckruf wie für einen Schläfer. Nach und nach verstand ich dann: Nach zwanzig Jahren habe ich wieder damit begonnen, zu beobachten. Als hätte ich nach langer Zeit die Augen geöffnet. Augen, die nicht bloß in meinem Kopf, sondern auch an den Beinen, den Schultern, den Fingern säßen, mit denen ich alles um mich aufnähme, haufenweise späterer Erinnerungen sammelte, die ich schließlich aus mir herauspressen würde.“
Welches Leben ist das „echtere“? Gibt es hinter den Masken und Kulissen so etwas wie ein „wahres“ Leben oder konstruieren wir uns das auch immer nur selbst? Kann man der eigenen Wahrnehmung trauen oder geht nichts „ungefiltert“? Der Roman beantwortet keine Fragen, aber er wirft sie auf. Und er zeigt, dass wir die Grenzen, die wir um unser Konstrukt von Identität ziehen, nicht zu ernst nehmen sollten, weil sie auch fließend sein könnten: „Mir fällt ein, dass es egal ist, unter welchen Umständen man lebt oder nicht. Dass man in jedem Augenblick ebenso der eine wie ein anderer sein könnte.“ In seinem Roman „Die Unsichtbaren“ spielt Otto Tremetzberger diese Idee konsequent durch, so entsteht ein Text der Vielstimmigkeit, der Mehrgesichtigkeit. Klar umrissene Charaktere haben hier genauso wenig etwas verloren wie eine geradlinige, vorhersehbare Handlung. „Die Unsichtbaren“ erzählt von einer Fülle an Leben, von all dem, was sein könnte: „Man könnte ein bunter Hund sein oder unsichtbar.“ Und wer weiß, vielleicht funktioniert das mit dem Einschauen ja doch? n
Otto Tremetzberger, Die Unsichtbaren, 224 Seiten, Limbus Verlag, 2016