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Landschaft klanggemalt

By   /  29. August 2024  /  No Comments

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Im großflächig angelegten vierteiligen Zyklus Salzkammer(sc)hall von Georg Nussbaumer wird der regionale Raum der Kulturhauptstadt Salzkammergut auf unterschiedliche Weise akustisch neu vermessen. Zwei Teile von Salzkammer(sc)hall haben bereits stattgefunden – zwei kommen noch im Herbst: Georg Wilbertz über das Projekt.

Landschaften haben akustische Identitäten. Zumeist fallen uns diese weit weniger auf als die visuell erfahrbaren Charakteristika unserer Umgebung. Das, was sich akustisch um uns herum abspielt, wird meist nur beiläufig oder unbewusst wahrgenommen (Ausnahmen bilden Warnklänge oder Gefahrensituationen, die das Gewohnte überlagern). Entsprechend verwundert nehmen wir unsere eigentlich längst vertrauten akustischen Lebensräume wahr, wenn wir uns auf sie konzentrieren, wenn wir bewusst den Augensinn schließen und den Ohren die Dominanz der Wahrnehmung vertrauensvoll überlassen. Eine mehr oder weniger unbekannte Welt wird uns bewusst, deren einzelne Elemente wir erst entschlüsseln und zuordnen müssen, um sie zu einem sinnlich verständlichen Gesamteindruck werden zu lassen. Dies, obwohl es Geräuschkulissen (ein wunderbar theatralisches Wort) sind, die uns tagtäglich begleiten und prägen.

Die weitgehende Dominanz des Augensinns ist sicherlich kein neues Phänomen. Jedoch dürfte das Verhältnis zwischen Sehen und Hören in früheren Zeiten deutlich ausgeglichener gewesen sein. Akustische Wirklichkeiten hatten eine andere, konkretere Relevanz für die Erfahrung von Lebensraum und -wirklichkeit als dies heute der Fall ist. Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber dies ist unter anderem die Folge einer klanglich verdichteten Dauerberieselung und Permanentbeschallung, die auf vielen Ebenen unseren Alltag bestimmt. Die Dichte und die nicht immer nachvollziehbare Gewichtung alles Klanglichen und Geräuschhaften erschweren das rationale Verstehen und emotionale Erleben unserer akustischen Gegenwart. Das Einzelgeräusch, seine Herkunft und Intention hatte in vormodernen Zeiten eine andere Präsenz und Durchsetzungskraft als heute.

In seinem Standardwerk „Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und sym­bolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts“ (das französische Original erschien 1994) legt der französische Historiker und Mentalitätenforscher Alain Corbin dar, wie die Glocken der ländlichen Orte nicht nur akustische Räume „vermessen“ (nah und fern werden unmittelbar durch die Lautstärke erfahrbar), sondern ein wichtiger Faktor der emotionalen und gesellschaftlichen Identitätsbildung sind. Im Dorf kannte man „seine“ Glocken und die Bedeutung ihrer Klänge. Die physikalisch-räumliche Komponente (Reichweite und Intensität des Klangs) wurde dabei durchdrungen vom Aspekt der Zeit. Tages- und Arbeitszeiten, Feiertage oder besondere Ereignisse wurden durch den Klang der Glocken angezeigt und in den Alltag integriert. Der mehr oder weniger weit tragende Glockenklang war ein wichtiger Ordnungs- und Orientierungsfaktor des ländlichen Raumes (in den Städten lagen völlig andere akustische Verhältnisse vor). Akustisch definierte er zugleich den traditionell gewachsenen Raum der jeweiligen Gemein­schaft.

Klangvermessung und Identität
Die Klänge von Orten oder Landschaften trugen in historischen Zeiten deutlich stärker zur Bildung von Identitäten und Gemeinschaften bei. Sie waren zugleich ein Faktor für das Erkennen von Umgebung, topographischen Eigenheiten und örtlichen Gegebenheiten. Klangcharakteristika „zeich­nen“ – bei genauem Hinhören – Landschaften exakt. In seinem aufwendig inszenierten, großflächig angelegten vierteiligen Zyklus Salzkammer(sc)hall nimmt der Künstler Georg Nussbaumer (organisatorisch maßgeblich unterstützt durch Norbert Schweizer) diesen Gedanken auf und vermisst den regionalen Raum der Kulturhauptstadt Salzkammergut 2024 auf unterschiedliche Weise akustisch neu. Es bleibt aber nicht bei der Nutzung und Darstellung physikalischer Phänomene. Nussbaumer und Schweizer geben dem Salzkammergut durch ihre groß angelegten Performances eine ungewohnte klangliche Identität. Neu sind dabei vor allem die Kontexte, die ausgewählten Orte und die schieren Dimensionen, innerhalb derer diese „Neuvermessungen“ in ihren vier Episoden (Der Glögglwaggon, Der langsame Schuss, Der gesungene Horizont und Die Landschaftsorgel) realisiert werden. Das aufwendige, meist großdimensionierte „Instrumentarium“ greift im Gegensatz zur überraschenden räumlichen und zeitlichen Kontextualisierung der Klänge auf Bewährtes aus Tradition und Brauchtum zurück. Glocken, Glöckler, Chöre, Kapellen, Prangerschützen etc. werden zu den klangerzeugenden Trägern der vier Inszenierungen. Bei Nussbaumer brechen sie allerdings aus der Tradition aus und werden tragende Teile ungewohnter künstlerischer Ereignisse. Dass Gewohntes für Publikum und Mitwirkende radikal neu erfahrbar wird, gehört zu den wesentlichen künstlerischen Intentionen, die in Salzkammer(sc)hall verwirklicht werden. Die beteiligten, in der Region sprichwörtlich verwurzelten Gruppen, Kapellen, Schützen, Chöre und Installationen (Glocken) stellen nicht nur die weittragende akustische Durchsetzung des Vorhabens sicher, sondern liefern durch ihre traditionelle Verankerung in der Region einen Gutteil der Identitätsfindung gleich mit. Es entsteht Überraschendes im Gewand des Vertrauten. Zugleich erfüllen Nussbaumer und Schweizer eine (zumindest auf dem Papier) wesentliche Intention des Kulturhauptstadtjahres: bei ihnen bestimmen lokale Akteur*innen maßgeblich das Geschehen und sind elementarer Teil der künstlerischen Botschaft.

Gesungene Horizonte
Wie bereits angedeutet, steht im Zentrum dieser Botschaft ein experimentierendes, bisher gewohnte Dimensionen sprengendes Ausloten des Verhältnisses von Klang (Musik) und Landschaft. Jeder Teil des vierteiligen Zyklus, dessen Halbzeit bereits erreicht wurde (Gesungener Horizont und Landschaftsorgel stehen noch aus), verfolgt dabei eine eigenständige Strategie der Klangerzeugung und -inszenierung. Die unterschiedlichen Formen der Klangerzeugung werden eingebettet in die jeweils ausgewählte Topographie. Sie nutzen und unterstreichen deren Charakteristika und schaffen ungewohnte Symbiosen und Konfrontationen zwischen Landschaft und Klang. Dabei geht Nussbaumer einen sehr direkten Weg. Prangerschützen erzeugen im zweiten Teil (Der langsame Schuss) Klang- und Schalllinien über extreme Distanzen hinweg und sch(l)ießen Landschaftsräume durch akustische Vektoren zusammen. Im dritten Teil (Der gesungene Horizont, Aufführung am 29. September 2024) wird die Gebirgssilhouette zur Notation eines vielstimmigen, komplexen Chorgesangs. Insbesondere dieser Teil des Gesamtprojekts verdeutlicht Nussbaumers besonderen Ansatz. Innerhalb der Musikgeschichte hat der kompositorische Bezug zwischen Klang, Musik und Landschaft eine lange Tradition. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand das Bemühen um musikalischen Ausdruck landschaftlicher Qualitäten unter anderem in den musikimpressionistischen Kompositionen eines Claude Debussy oder den von komplexen programmatischen Ideen unterlegten symphonischen Werken von Gustav Mahler oder Richard Strauss (Eine Alpensinfonie). Im Gegensatz zu diesen musik- und bedeutungsästhetisch elaborierten Kompositionen nutzt Nussbaumer im gesungenen Horizont „schlicht“ eine reale Bergkette als Partiturlinie. Der Komponist bringt damit einen naiv-bodenständigen Ansatz zur Geltung und bindet diesen Programmpunkt erneut ein in die vermeintlich einfache Bezugnahme zu den vertraut daherkommenden Traditionen (Jodler) volkstümlicher Musik- und Klangproduktion. Erreicht wird eine Direktheit des Bezugs von konkreter Landschaft und Klang, die den klangmalerischen, ästhetisch motivierten Werken eines Debussy, Mahler oder Strauss bei all deren Bemühen um klangbildnerische Authentizität versagt bleiben musste.

Im letzten Teil des Projekts (Die Landschafts­orgel) wird die Landschaft dann endgültig zum „Instrument“ der Klangerzeugung. In der Schottergrube Vorchdorf wird die Energie und Klangkraft von ca. 300 Blasmusiker*innen freigesetzt. Sie bewegen sich aus verschiedenen Richtungen kommend aufeinander zu. Vergleichbar den Kompositionen von Charles Ives (1874–1954) kommt es zu klanglichen Überlagerungen, Unschärfen und Konzentrationen. Bereits Ives Vater George Edward Ives (1845–1894) ließ als experimentierfreudiger Kapellmeister Musikgruppen aus verschiedenen Richtungen aufeinander zu marschieren. Es kam zu komplexen räumlichen, zeitlichen und klanglichen Überlagerungen, Verdichtungen und Unschärfen. Charles Ives setzte diese Erfahrungen später in seinen symphonischen Werken um.

Hörintensitäten
Nussbaumer betont, dass sich durch die Ausbreitung des Schalls (Klangs) unterschiedliche Hörintensitäten und -erlebnisse einstellen, die von verstörend laut in unmittelbarer Nähe der Klangquelle bis hin zu zart und leise in entsprechender Entfernung reichen. Die hörbaren Unterschiede sind allerdings nicht nur den unterschiedlichen Distanzen geschuldet, sondern werden maßgeblich mitgeprägt durch die Charakteristika der Topographie (Berg, Tal, Ebene, Bewuchs etc.). Wie sich der Klang in der Landschaft und damit im Verhältnis zu den Zuhörer*innen verhält, wird auf diese Weise zum ortsspezifischen „Hörbild“. In dem Moment, in dem das Brauchtum – meist zu besonderen Anlässen – sich in den Orten und Landschaften bemerkbar machen will oder muss, gewinnt das akustische Moment eine sonst ungewohnte Bedeutung. Man klappert, glöggelt, jauchzt und jodelt vor sich hin, von den Auftritten und Umzügen der heimatlichen Blaskapellen gar nicht zu reden. Die Intensität dieser traditionellen Inszenierungen wird gesteigert durch die Verbindung mit den traditionell vertrauten Elementen des Brauchtums (Trachten, Kostüme etc.). Orte, Land­schaften und dörfliche Gemeinschaften verwandeln sich bei diesen Gelegenheiten in neu kontextualisierte akustische Identitätssphären. Nussbaumers Zyklus spielt sehr bewusst mit diesen Effekten. Seinen besonderen Reiz und seine besondere Span­nung erhält dieser konzeptionelle Ansatz dadurch, dass ländliche Tradition und Brauchtum innerhalb des ästhetischen Diskurses zur Gegenwartskunst eher als – oft unvereinbare – Antagonismen gesehen werden. Zwar gab es in den Avantgarden der Moderne bis heute auch immer die Hinwendung zum Volkstümlichen. Stichworte sind hier Primitivismus, Ursprünglichkeit und die Authentizität einer Kunst ohne Künstler. Trotzdem gehören Tracht, Kostüm und Blasmusik nicht unbedingt zu den elaborierten Codes aktueller Kunstproduktion. In Zeiten, in denen um Begriffe wie Heimat, Identität, Tradition etc. mit Vehemenz (und häufig politisch missbräuchlich) gerungen wird, erhält der Salzkammer(sc)hall fast nebenbei eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Konnotation. Man sollte diesen Aspekt jedoch nicht überstrapazieren, da es Georg Nussbaumer vornehmlich um eine minutiös inszenierte, ungewohnte Landschafts-, Raum- und Zeit­erfahrung geht. Im Gespräch betont er denn auch, welch faszinierende Erfahrung es war und ist, wenn sich die beteiligten Akteure nach erfolgreicher „Kunstproduktion“ im Dorf zusammensetzen und sich freuen, Teil eines Kunstwerks geworden zu sein.

SALZKAMMER(SC)HALL
Ein vierteiliges Sound- und Land-Art Projekt mit Chören, Musikkapellen, Prangerschützen und einem glöckelnden Waggon in der Region Salzkammergut.
Salzkammer(sc)hall ist ein Projekt für die Kulturhauptstadt Bad Ischl/Salzkammergut 2024. Dabei werden 4 klingende Säulen der „Salzkammergutkultur“ – die zugleich auch zu deren Klischees gehören – unter Verwendung von Gewohntem neu und in die Zukunft weisend fortgeschrieben.
Zwei Teile,
Der Glögglwaggon, eine kinetische Klangskulptur auf Schienen, und Der langsame Schuss, ein temporäres akustisches Relief des gesamten Salzkammerguts aus hunderten Schüssen, haben bereits stattgefunden.


Es folgen noch:
Der gesungene Horizont: 29. Sept. 2024
Die Landschaftsorgel: 12. Okt. 2024

Mehr Info:
salzkammerschall.at

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About the author

Architektur- und Kunsthistoriker lebt in Linz.

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