Xenakis. Robert Stähr verwechselt zunächst die beiden Komponisten – um sich dann zwischen Elektroakustik und Tonband, zwischen Neuer Musik und Notation im größeren Zusammenhang mit dem Werk von Anesthis Logothetis auseinanderzusetzen. Anlass dazu ist eine im Schundheft Verlag erschienene Publikation, die unter dem Titel „LOGOtheSEN“ Texte zu Anestis Logothetis versammelt. Den dort abgedruckten einleitenden Beitrag hat Robert Stähr der Referentin zur Verfügung gestellt.
Xenakis. In den Regalen schau ich bei „L“ nach, zuerst unter „Elektronische Musik Musique Concrete“, dann unter „Zeitgenössische Musik“. Beide Male erfolglos. „Klassische Musik“, Unterabteilung „20./21. Jahrhundert“? Wieder nichts gefunden, keine CD mit Stücken von Anestis Logothetis. Oder war es … eine LP? – Der einzige Tonträger, den ich von dem griechischen Komponisten besitze, ist eine … Compact Disc.
Hab ich die CD – irrtümlich – falsch eingeordnet und jetzt Mühe, sie in meinem Musikarchiv zu finden? Ich verschiebe die weitere Suche auf später. Auf dem Sofa liegend, Klassische Musik hörend, kommt mir der Verdacht: Ich hab ihn verwechselt. Ich sehe unter „Elektronische Musik Musique Concrete“ bei „X“ nach; dort steht die einzige CD, die ich besitze von … Iannis Xenakis: ein griechischer Komponist und Architekt, dessen kompositorisches Oeuvre stark von seinem Interesse an mathematischen und akustischen Gesetzmäßigkeiten geprägt ist und der die sogenannte „Stochastische Musik“ entwickelte, in der zufällige („stochastische“) Elemente wie das Fallen von Regentropfen oder Menschenansammlungen eine entscheidende Rolle spielen. Auch Zahlentheorie und Mengenlehre hat Xenakis auf Kompositionsverfahren angewendet.
Warum aber habe ich diesen Komponisten mit Anestis Logothetis verwechselt? Zwei Gemeinsamkeiten sind, abgesehen von der griechischen Herkunft und der späteren Übersiedlung in westeuropäische Länder, jedenfalls auszumachen: das Kreieren eigener musikalischer Notations- bzw. Kompositionssysteme und die Beschäftigung mit elektronischer Musik.
Auf Websites, die über „Leben und Werk“ des Komponisten Auskunft geben, erfahre ich, dass Logothetis nach seiner Übersiedlung nach Österreich in Wien neben Komposition Klavier und Dirigieren studiert hat. Er erfuhr seine Ausbildung im geistigen Klima der künstlerischen Nachkriegsavantgarde, die im Bereich notierter Musik von Serialismus und Zwölfton-Technik geprägt war. Davon ausgehend entwickelte Logothetis graphische Notationssysteme, die es ihm erlaubten, improvisatorische Elemente in seine Kompositionen einzubauen. In den 1950er Jahren nahm er an den „Darmstädter Ferienkursen“ für Neue Musik teil und arbeitete im Elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks in Köln – beide damals Brennpunkte und Begegnungsstätten der zeitgenössischen Komponisten-Szene. Zurück in Wien, fand er ein Betätigungsfeld am Institut für Elektroakustik der Musikhochschule.
Logothetis komponierte zum einen Stücke für verschieden große Ensembles von akustischen (nicht elektronisch verstärkten) Instrumenten, wobei er deren Kombinationen im Falle einiger Werke der freien Wahl der Aufführenden überließ. Derart offene, fakultative Vorgaben erinnern stark an die musikalische Philosophie des US-Amerikaners John Cage, einen der einflussreichsten Pioniere radikal experimenteller musikalischer Verfahrensweisen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; die „Fluxus“-Bewegung und mit Zufall arbeitende Ansätze künstlerischen Schaffens („Aleatorik“) bilden um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts das prägende Umfeld dafür.
Zum anderen arbeitete Logothetis immer wieder mit Tonbändern. Er schuf zum Teil collagehafte, vorgefundene Sounds mit Sprache/Stimmen u. ä. kombinierende und diese elektronisch verfremdende Kompositionen, Musikstücke, die – so mein Eindruck beim Hören von Auszügen – einer gewollt spröden bis ruppigen, auf Brüche und Diskontinuitäten setzenden Ästhetik verpflichtet waren, welche, durch das akustische Fernglas heutiger digitaler Klangerzeugungs- und -kombiniermöglichkeiten gehört, trotz oder gerade wegen ihres damaligen, „Hörgewohnheiten“ herausfordernden Avantgarde-Charakters reizvoll verstaubt anmutet. Zu Logothetis’ Genre gehören zudem sogenannte „Radio Operas“, deren Tradition bis in die 1920er Jahre zurückreicht.
Wie viel an spontanen Entscheidungen vonseiten des Komponisten in der Gestaltung seiner Musik steckt, was hingegen an „Klangereignissen“ strukturell geplant war, erschließt sich mir zumindest beim Hören entsprechender Audiofiles im Netz nicht – doch das stört, mich zumindest, auch nicht: Struktur und Aura belauern einander.
Von Anestis Logothetis’ Beschäftigung mit Elektronik und Tonbandmusik lassen sich Verbindungslinien in verschiedene Richtungen ziehen: zunächst zurück zu … Xenakis, der zumindest bei einigen seiner Werke in ähnlichen Gefilden „wilderte“ und damit – wie auch Logothetis – lange vor den Möglichkeiten digitaler Klangerzeugung so etwas wie Pionierarbeit im Feld musikalischen Arbeitens mit analoger Elektronik leistete.
Über das Einbeziehen von Haus aus „außermusikalischer“ Klangquellen stößt man auf die sogenannte „Musique Concrete“; deren französische Hauptvertreter Pierre Henry und Pierre Schaeffer schufen – wiederum viele Jahre, bevor diese Bezeichnung geprägt wurde – Klanglandschaften (keine „soundscapes“), an filmische Strukturen erinnernde Montagen akustischer Umgebungen aus urbanen und ländlich geprägten Räumen, arbeiteten mit menschlichen Stimmen, Rhythmen und anderem mehr. Die mir bekannten Stücke der beiden Komponisten (herausragend: das ca. einstündige „La Ville“/ „Die Stadt“ von Henry) muten weniger spröde als Tonbandkompositionen von Logothetis an, haben zum Teil sogar meditative Wirkung – ohne an gestalterischer Präzision einzubüßen.
Diese Musik bildet gleichsam die Basis für den Zeitsprung in nur auf das erste Hören ganz andere musikalische Gefilde, zu Richtungen, die als „Ambient“ und „Noise“ bezeichnet werden und gemeinhin nicht zu den Ausprägungen zeitgenössischer E-Musik gezählt werden. Es sind musikalische Genres, die – im Falle von „Ambient“: Musik als Ambiente, Klangumgebung – auf Erik Saties zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte „Musique d’Ameublement“ zurückgehen oder – vor allem bei „Noise“ – genuin außermusikalisches Material verwendende Ansätze aus „analoger Zeit“ als Hintergrund haben.
Einer meiner – jenseits von „E“ und „U“ agierenden – Favoriten ist der Komponist, Musiker, Kunsttheoretiker Brian Eno. Eno, so etwas wie Neuerfinder der „Ambient Music“ nach Satie, ihr Weiterentwickler und Verfeinerer, veröffentlicht seit den 1970ern kontinuierlich Alben mit Stücken, in denen er elektronisch generierte Klangflächen mit Naturgeräuschen und anderen akustischen Quellen amalgamiert, die seiner Intention nach sowohl für aktives Zuhören als auch als Hintergrundmusik dienen können. Sein Oeuvre, das zwischen „Ambient“ und „Pop“ pendelt und beide Genres auch in Richtung neuer musikalischer Ufer verbindet, ist zudem durch einen nahtlosen Übergang von analoger zu digitaler Klangerzeugung gekennzeichnet.
Der Einsatz digitaler Technik vervielfacht einerseits die Möglichkeiten, Klangquellen zu verändern, zu kombinieren; andererseits verleitet die niederschwellige Handhabung dieser Möglichkeiten viele autodidaktische Musiker zu … Beliebigkeit in der Wahl ihrer Mittel, einem gedankenlosen Kombinieren heterogener Quellen, die musikalische Bedeutung dort suggerieren sollen, wo keine zu finden ist. Das gilt beileibe nicht für alle Musiker, die im sich schon lange überlagernden Feld von „Ambient“ und „Noise“ tätig sind; der inflationäre Gebrauch dieser Kategorien freilich trägt sicher nicht zu deren Präzisierung bei. Enos „Hintergrundmusik“ war und ist mit Sicherheit keine Klangtapete für Lounge und Fahrstuhl.
Das führt zurück zu Anestis Logothetis: Die mit analogen und zum Teil direkt physischen Mitteln (wie geschnittenem und neu montiertem Bandmaterial) von Logothetis und Zeitgenossen geschaffenen Kompositionen zeigen „Ecken und Kanten“, lassen den Verdacht beliebiger Kombinatorik nur selten aufkommen. Montage und Collage sind – anders als etwa bei der literarischen Arbeit mit sprachlichem Material – nicht präzise unterscheidbar.
Is there any escape from noise? There is so much noise. I can hear the music. Was sind paranormale Tonbandstimmen? Es sind Stimmen unbekannter Herkunft. Es sind paranormale Tonbandstimmen. … unbekannter Herkunft. Escape … hear the music. (zit.: Negativland; Laurie Anderson)
LOGOtheSEN
Texte zu Anestis Logothetis
Mit Beiträgen von: Robert Stähr, Angelika Ganser, Peter Hodina, Richard Wall, Wally Rettenbacher, Angela Flam, Waltraud Seidlhofer, Herbert Christian Stöger (Text und Textbilder) Sylvia Dhargyal (Grafik)
Verlag und Herausgeber: unartproduktion,
Bestellung: office@unartproduktion.at
Einzelheft: 5 Euro
Jahresabo: 5 Schundhefte zu 15 Euro
www.unartproduktion.at
www.schundheft.at
#zanzenberg © 09/2019