Im Löcker Verlag ist aktuell Michael Guttenbrunners Prosawerk Im Machtgehege als Sammelband erschienen. Zum 100. Geburtstag des Dichters, Essayisten und zeitlebens Widerständigen, der im Literaturbetrieb stets Außenseiter blieb, schreibt Richard Wall.
Der Dichter und Essayist Michael Guttenbrunner trug das Herz auf der Zunge und pflegte Schluderei in Wort und Bild verlässlich zu kritisieren. Er galt als Außenseiter und hielt Distanz zu den Lakaien des Literaturgeschäfts. Im schnelllebigen Kulturbetrieb dieser Tage nahezu vergessen, umgab ihn zu seinen Lebzeiten eine Aura, die sich aufgrund seiner kompromisslosen Haltung gegen Sprachverhunzung, Konsumismus (P. P. Pasolini), Alt- und Neofaschismus um seine Person gebildet hatte. Man könnte auch sagen, ihm ging eine Fama voraus, die aus Gerüchten bestand, von sensationslüsterner Journaille in die Welt gesetzt. Unter den Literaten hatte er kaum Freunde, und die Kritik (bis auf wenige Ausnahmen) sah in ihm einen ungehobelten, aus der Zeit gefallenen Rabauken, dessen Schriften man glaubte nicht lesen zu müssen.
Es gibt nur wenige Dichter seiner Generation, die sich, wie er, so fundiert mit Bildender Kunst und Architektur auseinandergesetzt haben. Mit Fritz Kurrent, der 1950 mit Wilhelm Holzbauer, Otto Leitner und Johannes Spalt die „arbeitsgruppe 4“ begründet hat, verband ihn eine jahrzehntelange Freundschaft; mit Werner Berg hingegen nur eine kurze. Wer im Frühjahr dieses Jahres die Lentos-Ausstellung „Rainer – Lassnig. Das Frühwerk“ gesehen hat, wird auch auf Guttenbrunner gestoßen sein: Er und Maria Lassnig waren befreundet, sie malte u. a. einen Akt von ihm, der, als das expressive Werk 1947 in Klagenfurt gezeigt wurde, einen Skandal auslöste, weil der Penis des Dargestellten aufgrund der Farbgebung unmittelbar ins Auge stach. Zudem stand er mit dem Dichter und Kunsthistoriker Klaus Demus und mit dem Morphologen Heimo Kuchling, Lehrbeauftragter an der Kunstuni Linz und an der Akademie in Wien, in Gedankenaustausch.
Guttenbrunners Zugang zur Bildenden Kunst war einerseits von seinen autodidaktischen Studien grundiert, andererseits berührten ihn Kunst- und Bauwerke unmittelbar kraft ihrer ästhetischen wie geistigen Qualitäten. Kurzum, er konnte sich für sie begeistern, vorausgesetzt er sah in den Ergebnissen, dass der Schöpfer, weiblich oder männlich, ernsthafte formale Absichten verfolgt hatte. Ihn interessierte weder „dekoratives Hundertwasser“ noch die lauen Ergebnisse einer „dreihundertjährigen manieristischen Entwicklung“. In seinen Prosabänden Im Machtgehege, auf die ich noch näher eingehen werde, sind Begegnungen mit und Hommagen an Künstler wie Herbert Böckl, Arnold Clementschitsch, Giovanni Segantini, Alfred Wickenburg und Wander Bertoni festgehalten.
Dass er aus bäuerlich-proletarischen Verhältnissen kam, verschwieg der 1919 geborene Kärntner nicht: „Mein Vater war bis zum Krieg 1914 Rossknecht im Gurktal, und ich bin ihm 1934 auf dem Zollfeld in dieser Bestallung gefolgt. Mein Bett stand im Stall neben den Barren. Zwei große, wenig verschiedene Braune bildeten zusammen den Anblick fremden Lebens, denn jetzt, da ich mit ihnen arbeiten sollte, erschienen mir die Pferde fremd, als unübersteigliches Hindernis. Ich musste alles lernen, und der Dienst drängte. Ich lernte füttern, „wassern“, striegeln, aufzäumen, anschirren und fahren. Wir mussten pflügen, eggen, walzen und im Winter Holz liefern, geschlagenes Holz, das unter dem Schnee begraben im Wald lag.“ (Im Machtgehege II),
Mit 14 Jahren kam er erstmals mit dem Gesetz in Konflikt: „Der Februar 1934 hat mich, zusammen mit andern, in die Illegalität geführt. Ich habe Flugzettel gestreut und die auf Seidenpapier gedruckte und aus der Tschechei eingeschmuggelte Arbeiterzeitung kolportiert.“ (Im Machtgehege II)
Als Schüler der Höheren Graphischen Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt in Wien, die er seit 1937 besucht hatte, erlebte er den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht. Wegen seiner Weigerung, das Horst-Wessel-Lied zu singen, wurde er von der Schule verwiesen. Alsbald landete er in der Rossauer Kaserne, angeklagt wegen „illegaler Betätigung für die verbotenen Sozialdemokraten“. Zur Wehrmacht eingezogen stand er – notorisch jede Art von Autoritär und Hierarchie ablehnend – als Aufsässiger und Befehlsverweigerer dreimal vor dem Kriegsgericht und entkam nur knapp der Todesstrafe. Er war alles andere als ein disziplinierter Soldat: Er missachtete Befehle, sprach dem Alkohol zu, verlängerte eigenmächtig seinen Urlaub, führte aufsässige Reden, beleidigte und bedrohte Vorgesetzte.
Sein erster Gedichtband, Schwarze Ruten, der zur Gänze kriegsbedingt war, erschien 1947 bei Kleinmayr in Klagenfurt. „Er enthielt“, so Guttenbrunner, „was im Krieg entstanden war, was er verschont hatte und was gerettet und ausgearbeitet werden konnte.“ Kurz nach Kriegsende wieder in Kärnten, attackierte er einen britischen Offizier, der einen Ausweis von ihm verlangt hatte. Einige Monate Irrenanstalt waren die Folge. Diese dumpfe Haft verarbeitend führte zu seiner ersten Prosadichtung, Spuren und Überbleibsel, ebenfalls 1947 erstmals in Klagenfurt erschienen.
Guttenbrunners literarische Form, die seinem Wesen entsprach, blieb vorerst die Lyrik; er veröffentlichte in unregelmäßigen Abständen die Bände Opferholz (1954), Ungereimte Gedichte (1959), Die Lange Zeit (1965) und Der Abstieg (1975). Aufgrund der Tatsache, dass er keine Gedichte mehr schreiben konnte, wie er mir einmal sagte, begann er mit der Niederschrift von kurzen Prosastücken. Damit begann, vorerst absichtslos, eine neue Werkphase: Im Machtgehege (Verlag Günther Neske, Pfullingen, noch ohne Nummerierung) wurde erstmals 1976 veröffentlicht.
Viele Dichter, die über die Erregung, zur poetischen Form begabt zu sein, hinausgekommen sind, fanden früher oder später zur Prosa, zur Erzählung, zum Roman. Guttenbrunner hatte kein Interesse, einen Plot zu erfinden. Er rieb seine Sprache an der Fülle des Erlebten und an den Verrücktheiten der Moderne. Er begegnete all dem Drängenden, indem er ein Leben führte, das sich vollkommen, seiner Haltung entsprechend, dem Leid verpfändete und gegen „Komfortgesinnung und Reklamegeist“ das Wort erhob. Er hielt nichts von dem Verdikt, nach Auschwitz sei Schweigen angemessen. Vergessen, Verdrängen, Wegschaun war ihm nicht Gegeben. „Dass einer nicht floh, sondern das gelebte weiterlebt, findet die dümmste Interpretation.“ (Im Machtgehege IV)
Den Krieg thematisierte er zeitlebens: Jenes ungeheure Zwangserlebnis ließ ihn nicht los, dass er nicht vergessen konnte, wurde ihm immer wieder angekreidet. Im Machtgehege ist eines der außergewöhnlichsten autobiographischen Prosaprojekte der jüngeren österreichischen Literatur. Hier wird nicht chronologisch erzählt, sondern die Textsplitter – manche aus nur wenige Zeilen bestehend, manche mehrere Seiten lang – sind im Buch wie unser assoziierendes Denken angelegt. Von den ersten Kindheitserinnerungen ausgehend, die man sich als Zentrum vorstellen kann, werden um diese kreisförmig, aber in unterschiedlichen Abständen, brisante und merkwürdige Stationen seines Lebens sowie kritische Vignetten zu politischen und kulturbetrieblichen Schandtaten der Gegenwart angelegt. Formal erinnern manche Texte an Baudelaires Prosagedichte, manche an Attacken in der Tradition von Karl Kraus, dessen Fackel er schon als Jugendlicher kennengelernt hatte. Der großartige wie sprechende Titel „Machtgehege“ verweist auf die existentielle Gefangenschaft und Befangenheit der Menschheit, die unfähig ist, aus einem Zustand der politischen, religiösen sowie ideologischen Unmündigkeit auszubrechen.
Michael Guttenbrunner ist vor 15 Jahren viel zu früh an den Folgen einer zu spät behandelten Lungenentzündung gestorben. Am 7. September wäre er 100 Jahre alt geworden. Mit einer treffenden wie wertschätzenden Passage aus einem Nachruf seiner Tochter Dr. Katharina Guttenbrunner, die das Werk ihres Vaters betreut, sei in diesen Tagen an ihn erinnert: „Er war ein Mann der Extreme, die in seiner Prosa vollständig miteinander verwoben und voneinander durchdrungen schienen. Ungeheuer explosiver Zorn verbunden mit zartestem Mitgefühl für alles Lebende, weitest gehende Bedürfnislosigkeit materiellen Ansprüchen gegenüber mit einer förmlich greifbaren Begierde nach Büchern, die er besitzen wollte, stolzes Selbstbewusstsein mit größter Verehrung anderer, autoritär patriarchale Durchsetzung mit anarchistischer Umsetzung, völliger Rückzug in die Einsamkeit mit lebensvoller Freude an Freunden und Geselligkeit.“ (Michael Guttenbrunner, Texte und Materialien, Wien 2005)
Nun ist im Löcker Verlag, der eine mehrbändige Werkausgabe vorbereitet, das ursprünglich nach und nach in acht Bänden im Rimbaud Verlag herausgekommene Prosawerk Im Machtgehege (Aachen 1994–2005) als Sammelband erschienen. Die Neuauflage kommt zur richtigen Zeit: Guttenbrunners Prosa ragt aus all dem Wortgeklingel hervor als Säule, auf die gebaut werden könnte, auch wenn ringsum alles bröckelt. Die Lektüre sei jeder und jedem an Herz gelegt.
Michael Guttenbrunner, Im Machtgehege, Werke Band 1, herausgegeben und mit einer Nachbemerkung versehen von Helmuth A. Niederle, 455 Seiten, Löcker Verlag, Wien 2018, ISBN 978-3-85409-792-1, 29,80 Euro