Die Referentin hat Gero gebeten, den Begriff und das Phänomen transrace zu reflektieren – er hat sich im Rahmen seines Studiums mit sozialen Identifikationen auseinandergesetzt. Gero hat aus diesem Anlass Kiki und Sarah zum Wohnzimmergespräch eingeladen und sie stellen fest: Drei weiße* Akademiker:innen sitzen auf der grünen Samtcouch bei Bio-Frühstück. Sieht so der Elfenbeinturm aus?
Wir unterhalten uns über das Thema transrace und für diejenigen, die noch nie davon gehört haben, folgt eine kurze Erklärung. Am ehesten stößt man auf diese Thematik über Social Media oder durch das Buch Identitti von Mithu Sanyal1. In letzterem wird eine Geschichte einer Studierenden und ihrer Professorin erzählt. Die Professorin Saraswati wird zu einem Vorbild, einer Identifikationsfigur für eine Studierende, welche selbst hin- und hergerissen ist, was ihre eigene Herkunft und Identität betrifft. Die Bewunderung gegenüber der Professorin für Postcolonial Studies schlägt schnell in Enttäuschung und ein Gefühl von Verrat um, denn es stellt sich heraus, dass Saraswati nicht die ist, als die sie sich ausgibt. Angefangen beim Namen, der Biografie, bis hin zur eigenen Rasse* sei alles erfunden. Mithu Sanyal erzählt somit die Geschichte einer Person, die sich als transrace identifiziert und sich einer anderen Rasse* zugehörig fühlt, obwohl sich dies nicht durch Abstammung herleiten lässt. Diese Erzählung basiert auf der wahren Geschichte von Rachel Dolezal, welche an der Eastern Washington University ihren Lehrauftrag für afrikanische und afroamerikanische Studien verlor, weil ein Bild von ihr als weißes* blondes Kind veröffentlicht wurde und sie somit „geoutet“ wurde. Dolezal verwendete als Erklärung den Begriff transrace, um darauf hinzudeuten, dass es sich nicht um Betrug, sondern um eine soziale Identifikation handle und sie sich immer schon als schwarz* gefühlt habe.
Bevor wir jedoch in diese Diskussion einsteigen, müssen wir vorher abklären, wie wir die Begriffe Rasse* verwenden und was sich für ein Verständnis von Rassismus dahinter verbirgt.
Rasse* als Differenzkategorie ist, wie Judith Butler es bereits eindrücklich in Bezug auf die Kategorie Gender dargestellt hat, keine naturgegebene, biologische Größe, sondern eine soziale Konstruktion. Somit ist diese Kategorie nie unabhängig vom jeweiligen kulturellen, politischen, historischen und gesellschaftlichen Kontext zu sehen, in welchem Menschen und Gruppen rassifiziert werden. Rassifizierung bedeutet, dass Personen aufgrund einer rassistischen Strukturierung der Gesellschaft, als die vermeintlich „Anderen“ konstruiert werden (Othering). Es finden sich in der deutschsprachigen Rassismus-Debatte unterschiedlichste Schreibweisen des Rasse-Begriffes, von einer Übernahme des englischen Terminus race bis hin zu einem Verzicht auf den Rassebegriff zugunsten von Ethnizität. Wir verwenden Rasse mit einem Asterisken versehen, um dem Konstruktionscharakter dieser wirkmächtigen Differenzkategorie bereits begrifflich anzudeuten. Das Sternchen am Ende von Begriffen wie schwarz, weiß soll deutlich machen, dass diese Begriffe zur rassifizierenden Markierung dienen2. Dieses Vorgehen wird u. a. von Vertreterinnen der Critical Whiteness Studies (CWS) verwendet. Den geschichtlichen Ursprung und die Transformationen der Critical Whiteness Studies darzustellen, würde den Rahmen des Artikels sprengen. Daher wird an dieser Stelle nur eine Grundprämisse der Critical Whiteness Studies erwähnt, der Perspektivenwechsel. Und zwar richtet sich der Blick nun auf die, welche Rassismus (oft unbewusst und unwillentlich) reproduzieren und von ihm profitieren, nämlich die „ganz normalen Weißen“3. Analysiert werden Privilegierungen, die weißen* Mehrheitsangehörigen wie selbstverständlich zukommen – und Rassismus wird als weltumspannendes Macht- und Herrschaftssystem beschrieben. Um Rassismus verändern zu können, ist es also notwendig, dass sich die Subjekte, die in ihren Leben permanent von einer rassistischen Strukturierung der Gesellschaft profitieren, für diese Veränderung verantwortlich fühlen. Rasse* als soziale Konstruktion schreibt auf massivste – und nicht nur mit Blick auf die Kolonialgeschichte – tödlichste Weise gesellschaftliche Ungleichheiten fest und verfestigt eine globale Vormachtstellung von weißen* Privilegien.
Damit kehren wir zurück zum Thema transrace und zu uns selbst – zu uns, die wir uns, als privilegierte Weiße* auf dem grünen Samtsofa sitzend, über transrace unterhalten.
Im Gespräch stellen wir fest, dass wir das Wort transrace als Analysekategorie für treffend halten. Analog zu Transgender soll es darauf hinweisen, dass es um die persönliche Identifikation von Menschen innerhalb diskriminierender, festgeschriebener sozialer Strukturen geht. Dass ein Wechsel in der Kategorie Rasse, im englischen crossing the line genannt, möglich ist, zeigen viele Beispiele. Am bekanntesten ist das Phänomen passing. Um Diskriminierung zu entfliehen, haben manche BIPoC4 versucht, als weiß wahrgenommen zu werden. Eines der bekanntesten Beispiele ist Walter White, nicht die Figur aus Breaking Bad, sondern ein Aktivist des NAACP, der National Association for the Advancement of Colored People. Er nutze die Möglichkeit als Weißer* gelesen zu werden, um in den 1920ern in den Südstaaten der USA Lynchmorde und andere Verbrechen an der schwarzen* Bevölkerung zu dokumentieren. Dies ist jedoch als eine Überlebensstrategie zu werten und hat wenig mit einer selbstbestimmten Identifikation gemein. Auch bei Menschen mit multiethnischer Herkunft ist erkennbar, dass diese „Line“ alles andere als scharf gezogen werden kann und ein Wechsel zwischen den Kategorien möglich und legitim sein kann.
Bei transrace existieren bisher jedoch nur eine Handvoll Beispiele von Personen, die sich selbst so bezeichnen, daher handelt es sich wohl um ein Thema des eingangs erwähnten Elfenbeinturms. Sprich, der Begriff ist einerseits als Phänomen in spezifischeren Kunst- und populärkulturellen Diskursen angekommen, andererseits in den akademischen Zirkeln noch umstritten.
Dennoch eröffnen sich in unserem Gespräch viele spannende Fragen. Fragen wie:
Darf sich eine Person einfach als schwarz* identifizieren, ohne jemals die Erfahrungen gemacht zu haben, in einer rassistischen Gesellschaft aufgewachsen zu sein und daher nicht diese Art von Diskriminierung erfahren zu haben? Was sind „authentische“ Erfahrungen von BIPoC und wer hat wiederum die Macht zu bestimmten, wessen Erinnerung zählt5? Gelten biologische bzw. genetische Beweise als objektiver als etwa die soziale Herkunft? Wenn Rasse* doch konstruiert wird und durch phänotypische Merkmale, wie Aussehen, Akzent, Name, usw. zugeschrieben wird, kann sie dann nicht ebenso wie Gender einfach frei gewählt werden? Oder, und wir kommen zu einer Frage, wo sich transrace mit einem anderen Strang des zeitgenössischen Diskurses trifft: Ist es eine besondere Form der kulturellen Aneignung, sich als Angehörige*r der Dominanzgesellschaft als marginalisierte Person sozusagen performativ herzustellen? Denn nichts anderes als kulturelle Aneignung und performatives Herstellen ist doch transrace. Es ist eine Inszenierung des eigenen Subjekts, in dem die Merkmale des Otherings, also Hautfarbe, Name, Herkunft erfunden werden.
Rassen* sind historisch betrachtet eine Erfindung6. Genauer gesagt, eine Erfindung von Weißen* um die Ausbeutung, Versklavung, Ermordung, Vergewaltigung, … der Menschen in der Kolonie zu rechtfertigen. Wenn also Rasse* per se eine Erfindung ist, dann steht es doch jeder Person frei, sich diesbezüglich immer wieder neu zu erfinden. Oder? Und würden wir uns, die wir auf der grünen Samtcouch sitzen, als Weiße* und im Sinne einer Betrachtung unserer Privilegien, einfach als transrace deklarieren oder erfinden dürfen? Das ausschlaggebende Gegenargument wurde bereits oben genannt, denn Kolonialisierung ist in ihren weitreichenden Auswirkungen eben keine Erfindung. Ein weiteres Gegenargument ist, dass es in den medial bekannten Fällen von transrace stets zu neuen Privilegien für die transrace-Personen gekommen ist. Die eingangs erwähnte Rachel Dolezal bspw. erlangte durch ihr Schwarzwerden einen gesellschaftlichen Status, den sie wohl anders nicht erreicht hätte. Sie wurde universitäre Lehrbeauftragte für afrikanische und afroamerikanische Studien und Präsidentin der örtlichen NAACP. Sie erlangte dadurch kulturelles und ökonomisches Kapital, wie Pierre Bourdieu es bezeichnen würde. Dolezal kam also das Privileg zu, ihre Rasse frei zu wählen. Ein Privileg, das jedoch erst durch ihre Zugehörigkeit zur weißen* Mehrheit entstanden ist. Denn BIPoC-Personen können sich ihre rassistische Markierung nicht einfach wählen, wie ein modisches Styling, und können sich nicht einfach so entscheiden, ein anerkannter Teil der weißen* privilegierten Bevölkerung zu sein. Auch ihre Erfahrungen der rassistischen Diskriminierung, die sie in einer rassistisch strukturierten Welt bestimmt machen mussten, können sich nicht einfach abstreifen lassen, wie ein unliebsam gewordenes Accessoire. Rassifizierten Personen kommt nämlich nicht das „Privileg der Unsichtbarkeit“ zu, wie es Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr in ihrem gleichnamigen Buch benennen.7 Das heißt, Weißsein* wird in der Gesellschaft als Norm angesehen und Weiße* können beispielsweise einen Raum betreten und keiner wird sich denken „Ah schau, ein Weißer“ – in diesem Sinne sind sie „unsichtbar“.
Dolezals „racial transition“ ist demnach eine direkte Folge einer rassistischen, gesellschaftlichen Matrix von Privilegierung und De-Privilegierung – und verhilft ihr schlussendlich wieder zu Ansehen, Status und Kapital, also zu Privilegien. Folglich sind die Parallelen zum Thema der kulturellen Aneignung nicht von der Hand der weisen. Was zunächst als Widerspruch wirkt, zeigt jedoch, dass hinsichtlich sozialem Status und Zugehörigkeit derselbe Mechanismus greift: Denn auch diesbezüglich geht es um die Frage nach Macht, Ausbeutung und Profit. Aber das ist eine andere Geschichte – nicht nur aus dem Elfenbeinturm –, die demnächst auf der grünen Samtcouch diskutiert wird.
1 Sanyal, Mithu (2023): „Identitti“, btb Verlag.
2 Tißberger, Martina (2020). „Soziale Arbeit als weißer* Raum – eine Critical Whiteness Perspektive auf die Soziale Arbeit in der postmigrantischen Gesellschaft“, Soziale Passagen, 12(1), 95–114. 96
3 Tißberger, Martina (2017). „Critical whiteness. Zur Psychologie hegemonialer Selbstreflexion an der Intersektion von Rassismus und Gender“, Springer VS. 16
4 BIPoC ist eine Abkürzung für Black People, Indigenous People and other People of Color.
5 Mit der Formulierung „Wessen Erinnerung zählt“ wird auf das gleichnamige Werk von Mark Terkessidis verwiesen, der darin die Art und Weise, wie verschiedene Gesellschaften mit ihrer kolonialen Vergangenheit und rassistischer Diskriminierung umgehen, herausarbeitet. Er analysiert, welche Erinnerungen in der öffentlichen Wahrnehmung dominieren und welche marginalisiert werden und beleuchtet die Rolle von Machtstrukturen und gesellschaftlichen Narrativen bei der Formung des kollektiven Gedächtnisses. Mark Terkessidis (2021): „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheiten und rassistische Diskriminierungen heute“ erschienen in Hoffmann und Campe Verlag.
6 Vgl. u. a. „Die Erfindung der weißen Rasse, Bd.1, Rassistische Unterdrückung und soziale Kontrolle“ von Theodore W. Allen.
7 Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr: „Das Privileg der Unsichtbarkeit: Rassismus unter dem Blickwinkel von Weißsein und Dominanzkultur“, (2008)
Sarah Mo Praschak ist künstlerische Fotografin, Radio- und Fernsehmoderatorin.