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Freiheit muss geschaffen werden

By   /  29. August 2024  /  No Comments

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Die Anarchismus-Reihe in der Referentin: Eva Schörkhuber über die Antimilitaristin und Anarchafeministin Pınar Selek. Deren aktivistische, schriftstellerische und wissenschaftliche Arbeit kreist um eine Auffassung von Autonomie, die einem autoritären Staat, in dem Armee und patriarchale Traditionen seit jeher eine gewichtige Rolle spielen, ein Dorn im Auge ist.

Dezember 2010. Foto Streetpepper (CC BY 3.0)

Pınar Selek, 1971 in Istanbul geboren, lebt heute im französischen Exil. Seit mittlerweile zwei Jahrzehnten versucht der türkische Staat, sie wegen falscher Anschuldigungen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen.

„Schon als ich noch auf der Straße lebte, wollte ich Räume für Autonomie schaffen. Wie konnte man all die unterdrückerischen Institutionen umgehen, die sich gegenseitig bedingen? Das waren der Staat und die Armee, aber auch die Ehe, die Familie. Wie kann man Autonomie schaffen? Dagegen zu sein ist gut, aber man muss auch lernen, etwas anderes aufzubauen.“1

Bereits in ihren jungen Erwachsenenjahren begann Pınar Selek damit, autonome Gegenstrukturen aufzubauen. Gemeinsam mit Straßenkindern und anderen Menschen ohne festen Wohnsitz besetzte sie ein Haus am Istanbuler Taksim Platz, um ein offenes Kulturzentrum einzurichten. Diese Werkstatt der Straßenkünstler:innen war eine Möglichkeit, soziale Ordnungen, auf denen „unterdrückerische Institutionen“ basieren, zu verändern. Neben den Obdachlosen und Straßenkindern trafen sich dort vor allem Trans-Personen und Sexarbeiter:innen, aber auch Student:innen und Bewohner:innen aus der unmittelbaren Nachbarschaft. In einem Gespräch mit Guillaume Gamblin erinnert sich Pınar Selek:

„Die Werkstatt war zu einem neuen Begegnungszentrum geworden. Und unser Straßenstand war nun fester Bestandteil des Viertels; man trank dort Tee oder man hielt sich einfach kurz auf, ohne etwas Bestimmtes zu tun. Auf den Straßen leben ganz unterschiedliche Menschen, die untereinander keine engen Beziehungen pflegen. Mit den Workshops haben wir begonnen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen.“

„Für wen produzierst du dieses Wissen?“
Während ihrer Zeit bei der Werkstatt der Straßenkünstler:innen studierte Pınar Selek auch Soziologie. Ihre praktischen Versuche, „Autonomie zu schaffen“, begleitete sie mit empirischen Untersuchungen und theoretischen Überlegungen. So verfasste sie ihre Abschlussarbeit über jene Trans-Personen, die sich in der Ülkar Straße, in der Nähe des Taksim Platzes, aufhielten und dort sowohl von der Polizei als auch von türkischen Rechtsextremen, den Grauen Wölfen, misshandelt und vertrieben wurden. Über die Straßenkinder, deren Lebensweisen sie geteilt und so gut kennengelernt hatte, schrieb sie allerdings nie, denn: „Ihre Geheimnisse waren ihre Existenzgrundlage.“

Was es bedeutet, Geheimnisse zu wahren, zu denen eine im Zuge wissenschaftlicher Forschungen Zugang erhält, musste Pınar Selek kurze Zeit später am eigenen Leib erfahren. Sie hatte sich immer wieder mit klandestinen, militanten Befreiungsbewegungen beschäftigt und dabei vor allem die Frage nach den Konsequenzen von politischer Gewalt verhandelt: „Nach und nach verband sich bei mir die feministische Kritik mit der Kritik an Hierarchien; ich bekam das Gefühl, dass die Gewalt die soziale Ordnung und die bestehende Politik legitimiert und weiter nährte.“ Von diesem antimilitaristischen Standpunkt aus führte sie Interviews mit Mitgliedern des militanten Flügels der PKK, der kurdischen Arbeiter:innenpartei. Sie interessierte sich vor allem für ihre Beweggründe, an den bewaffneten Kämpfen teilzunehmen; sie sprach mit ihnen in Deutschland, aber auch in ihren Verstecken in den Bergen und in den kurdischen Autonomiegebieten. Auf dieses Wissen, vor allem auf die Namen, wollte der türkische Staat zugreifen, als Pınar Selek am 11. Juli 1998 vor der Werkstatt der Straßenkünstler:innen verhaftet wurde. Zunächst dachte sie, sie sei wegen des besetzten Hauses in Polizeigewahrsam genommen worden, doch es stellte sich heraus, dass es um ihre aktuellen Forschungsarbeiten ging. Mit dem Versprechen, dass sie sofort wieder frei kommen werde, wollten die Behörden die Namen der kurdischen Kämpfer:innen aus ihr herauslocken – vergeblich; unter Folter wollten sie die Namen aus ihr herauspressen – ebenso vergeblich.

Pınar Selek schwieg und wurde schließlich angeklagt, Propaganda einer terroristischen Vereinigung zu verbreiten sowie an einem „Bombenanschlag“ auf einen Markt in Istanbul federführend beteiligt gewesen zu sein. Zweieinhalb Jahre saß sie dafür im Gefängnis, obwohl ein vermeintlicher Kom­plize, der unter Folter „gestanden“ und sie schwer belastet hatte, mittlerweile widerrufen und ein Sachverständiger die Explosion am Markt eindeutig auf eine defekte Gasflasche zurückgeführt hatte. 2002 wurde sie freigesprochen, das Verfahren aber wird bis heute immer wieder aufgerollt.

Gegen jede Form von Krieg
Die Zeit im Gefängnis war geprägt von Folter und extremen Schmerzen, aber auch von Solidarität unter den politischen Gefangenen, die trotz der entsetzlichen Haftbedingungen aufrechterhalten wurde: „Im Gefängnis lebte ich zweieinhalb Jahre lang ein kollektives Leben in einem Schlafsaal zusammen mit 60 Personen. […] Wir teilten alles, das war schön. Gleichzeitig hatten wir leider keinen Platz für uns selbst. […] Man konnte kaum etwas anderes machen, als sich gegenseitig zu beobachten und zu überwachen […]. Ich habe klar gesehen, dass das gegen die Freiheit gerichtet war – und zwar sowohl gegen die soziale als auch gegen die individuelle Freiheit.“

Angesichts dieser Erfahrungen während der Haft, aber auch angesichts der äußerst brutalen Versuche, auf das ihr anvertraute Wissen zuzugreifen, vertritt Pınar Selek das Recht auf Geheimnis als libertäre Position: Ein Geheimnis zu wahren und es dadurch dem Zugriff „unterdrückerischer Instituti­o­nen“ zu entziehen, zählt für sie zu jenen sozialen und individuellen Freiheiten, die von großer Bedeutung sind:
„Die Freiheit ist jene Kraft, welche die Wirklichkeit des Augenblicks verändert. Sie wird nicht einfach so angeboten, sondern sie muss mit großer Anstrengung geschaffen, gepflegt, entwickelt und genährt werden.“

Noch im Gefängnis beginnt Pınar Selek, ein Buch über Antimilitarismus zu schreiben. Sie analysiert darin, inwieweit die nationalstaatlichen Strukturen in der Türkei auf einem tief verankerten Militarismus und in weiterer Konsequenz auf der Verfolgung von Minderheiten – auf dem Genozid an den Armenier:innen, auf der Unterdrückung von Kurd:innen – basieren. Und sie kritisiert Friedensbewegungen, die zwar gegen Militärbündnisse wie die NATO auftreten, nicht aber gegen militärische Interventionen, die aus einer nationalen Sicht unumgänglich erscheinen wie etwa die Invasion der türkischen Armee auf der Insel Zypern.

„Antimilitaristin zu sein bedeutete, […] nicht gegen einen bestimmten Krieg zu sein, weil der aus spezifisch imperialistischen Interessen geführt wird, sondern gegen jede Form von Krieg.“

An den patriarchalen Grundfesten rütteln
Diese prononciert antimilitaristische Haltung liegt auch Pınar Seleks Kritik an bewaffneten revolutionären Gruppen zugrunde. Dementsprechend abwägend äußert sie sich zu den kurdischen Befreiungskämpfen, die vor wenigen Jahren in und um Rojava stattgefunden haben.2 Es ginge ihr nicht darum, die Personen zu verurteilen, die mit Waffen gegen Herrschaft kämpften; sie plädiere schlicht dafür, zuerst alle anderen möglichen Widerstandsformen auszuloten: „Ich kenne keine anarchistische Transformation, die sich auf eine Armee stützt. Wenn man damit beginnt, Waffen zu benutzen, muss man sich eine Struktur wie bei einer Armee geben.“

In militärischen Strukturen spiegeln sich patriarchale Herrschaftsverhältnisse nicht nur wider, sie verstärken sich darin: Für ihre Studie Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt hat Pınar Selek mit 58 Männern aus armenischen, kurdischen und türkischen Herkunftsfamilien über ihr Aufwachsen und ihren Militärdienst gesprochen. Dabei zeigt sich, wie eng das soziale Korsett auch für Männer ist, wobei diese mit durchaus gewaltvollen Disziplinierungsmaßnahmen dazu angehalten werden, sich an der Spitze von Autoritätshierarchien zu behaupten.

„Wenn du den Kampf gegen das Patriarchat beginnst, stößt du auf enorme Machtstrukturen. Du bekämpfst daher in gleicher Weise den Staat, den Kapitalismus, das umweltzerstörerische System, den Nationa­lismus, den Rassismus, den Militarismus, den Heteroseximus. Du kommst zur Überzeugung, dass diese Systeme aus sich selbst den Sexismus hervorbringen, weil die sozi­alen Geschlechterverhältnisse auf sozialen und politischen Institutionen gründen.“

In ihren aktivistischen, schriftstellerischen und wissenschaftlichen Arbeiten führt Pınar Selek seit vielen Jahren diesen Kampf – gemeinsam mit anderen feministischen und antimilitaristischen Gruppen aus verschiedenen Ländern. Ihr Einhalt zu gebieten, das versucht der türkische Staat seit Jahren, indem er das Gerichtsverfahren gegen sie immer wieder neu aufrollt. Der letzte Prozess, der am 28. Juni 2024 hätte stattfinden sollen, wurde auf Februar 2025 vertagt. Zu den längst entkräfteten Vorwürfen ist ein neuer hinzugekommen: Pınar Selek soll im Rahmen eines Vortrages, den sie an der Universität Nizza über kurdische Frauen im Exil gehalten hat, wiederum Propaganda für die PKK verbreitet haben – absurd, wenn eine:r sich ihre Kritik am bewaffneten Kampf vor Augen führt. Bedrohlicher als einschlägige Propaganda ist wohl ihre Beharrlichkeit, auf verschiedenen Ebenen Räume für Autonomie aufzubauen und dadurch an den patriarchalen Grundfesten zu rütteln.

1 Alle Zitat von Pınar Selek sind, wenn nicht anders angegeben, folgendem Band entnommen: Guillaume Gamblin (Hg.); Die Unverschämte – Gespräche mit Pınar Selek. Übers. aus dem Französischen von Lou Marin, Heidelberg: Verlag Graswurzelrevolution 2023.
2 Vgl. dazu: Selbstverwaltung in Nordsyrien. Rojava – Hoffnungen und Grenzen. Ein Interview mit der Anarchafeministin Pınar Selek. In: Graswurzelrevolution, Juni 2018; abzurufen unter: www.graswurzel.net/gwr/2018/06/selbstverwaltung-in-nordsyrien
(Stand 29. 07. 2024)

Solidaritätswebseiten:
pinarselek.fr (französisch)
pinarselek.com (türkisch)
www.sosf.ch/de/article/kommunique-der-koordination-der-solidaritaetskollektive-mit-pinar-selek (deutsch)

Die Anarchismus-Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, die ebenso Themen und Autor*innen der Reihe betreut.
Siehe auch: anarchismusforschung.org

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About the author

ebt als Schriftstellerin und Kulturwissenschafterin in Wien; sie ist Mitglied der Redaktion von PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben und im Papiertheaterkollektiv Zunder; zuletzt erschienen ist der Roman Die Gerissene (Wien, Edition Atelier 2021). Eva Schörkhuber ist außerdem, gemeinsam mit Ilse Kilic, in dieser Referentin mit einem Interview über ihr neues Buch vertreten.

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