Brunhilde Pomsel arbeitete als Sekretärin für NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, einen der größten Verbrecher des Dritten Reichs. Im Film Ein deutsches Leben erlebte Silvana Steinbacher eine der letzten Zeitzeuginnen an den Schaltstellen des Massenmords. Die Erinnerungen dieser skrupellosen MitläuferInnen weisen unangenehme Parallelen auf.
Ich habe die Szenerie noch deutlich vor Augen. Bei einem familiären Geburtstagsfest stritten einige Verwandte lange über die Volksabstimmung zur Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf, mein Vater versuchte mehrmals zu beruhigen. Einige Male habe ich von diesem Fest erzählt, bis meine Cousine und mein Bruder meine Erinnerungen an einigen Stellen gravierend zurechtrückten: Das Fest sei damals friedlich verlaufen und über Zwentendorf wurde nur kurz und in einhelliger Meinung gesprochen. Ich muss wohl einige Erinnerungssplitter über beinahe vierzig Jahre verschoben oder falsch abgelegt haben. Was also können wir über Jahrzehnte hinweg verlässlich und wahrheitsgetreu abrufen, inwiefern können wir unserem Gedächtnis überhaupt trauen?
Diese Gedanken beschäftigen mich, während ich auf den Beginn des Films Ein deutsches Leben warte. Brunhilde Pomsel musste sich an Begebenheiten vor mehr als siebzig Jahren erinnern. Musste sie? Wollte sie nicht eher ihr Gewissen erleichtern, sich rechtfertigen? Wie sehr lässt sich abgesehen davon dem Denkvermögen einer Frau trauen, die über einhundert Jahre alt ist? Ich bin skeptisch, doch bei letztem Punkt zu Unrecht. Brunhilde Pomsel erweist sich in diesem Film als geistig sehr rege. Doch gleich vorweg: Diese Eigenschaft wird die einzige bleiben, die ich an dieser Frau als beeindruckend hervorheben kann.
An einem Sonntagnachmittag sehe ich mir gemeinsam mit rund fünfundzwanzig Menschen diese Dokumentation an. Neben mir sitzt ein Mann um die dreißig, die langen Einstellungen, Nachdenkpausen und die mitunter langsame Sprechweise der alten Frau, denen der Film seinen Platz einräumt, strapazieren seine Seh- und Hörgewohnheiten spürbar, er rückt unruhig auf seinem Sitz hin und her, in der Mitte des Films schläft er kurz ein. Nach dem Ende des Films wird er aber mit seiner Begleiterin sofort über Brunhilde Pomsel zu diskutieren beginnen. Neben mir eine alte Frau, die die Dokumentation aufmerksam verfolgt, vereinzelte Besucher verlassen aber auch bald den Saal. Im Raum, so empfinde ich, herrscht eine Atmosphäre der Nervosität und Ungeduld. Erst als in einer Einspielung eine Leichenentsorgung im Warschauer Ghetto zu sehen ist, hören wir alle nur noch das Knistern des historischen Materials, kein Rascheln im Saal, nichts. Seltsam, denke ich, denn die Aussagen von Brunhilde Pomsel sind für mich so ungeheuerlich, dass sie von Beginn an Stille erzeugen müssten.
Worum geht’s? Die Blackbox Film & Medienproduktion Ein deutsches Leben ist am 7. April in den Kinos angelaufen. Brunhilde Pomsel war von 1942 bis Kriegsende im NS-Propagandaministerium Sekretärin von Joseph Goebbels. (Was hat er ihr diktiert, denke ich schon bald.) Goebbels war bekanntlich einer der engsten Vertrauten Hitlers und durch seine antisemitische Propaganda einer der wesentlichen Wegbereiter des Holocaust.
In Schwarz-Weiß-Bildern und stark ausgeleuchteten Close-ups erzählt Pomsel über diese Zeit. Ihre Erinnerungen, die oft im Plauderton daherkommen, ergänzen die vier Regisseure durch teils nie zuvor gezeigte historische Aufnahmen und Zitate aus Goebbels Tagebuch.
Ich bemerke während des Films – habe ich das Recht dazu? –, dass ich viele Pomsel’sche Wortmeldungen kaum aushalte. Eine Auswahl:
„Ist es denn wirklich so schlimm, wenn man für sich selbst versucht, das Beste herauszuholen.“
„Schuldig fühle ich mich nicht. Es sei denn, man wirft dem ganzen deutschen Volk vor, dass es letzten Endes dazu beigetragen hat, dass diese Regierung überhaupt ans Ruder gekommen ist. Das sind wir alle gewesen. Auch ich.“
„Nichts haben wir gewusst.“
„Auch das Schöne hat Flecken und auch das Schreckliche hat Sonnenstellen.“
„Wir haben mitgeklatscht, es ging nicht anders, es war ein Naturereignis. Die ganze Menge konnte nichts dafür.“
(Anm.: Diese Aussage bezieht sich auf Joseph Goebbels Zitat: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ in seiner Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943).
Spätestens bei diesem Zitat packt es auch den Mann neben mir. Er wird für ein paar Minuten ruhig sitzen bleiben. Was hat Goebbels ihr diktiert, rast es mir immer wieder durch den Kopf, und hat sie bei der Reinschrift nur an ihr perfektes Zehnfingersystem gedacht? Über den Inhalt ihrer Arbeit spricht sie nämlich nicht. Wurde sie nicht gefragt, wollte sie nicht oder hat sie sich nicht mehr „erinnert“?
Vor einigen Jahrzehnten hat mir ein Ehepaar erzählt, wenn es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, hätte es sich nicht kennengelernt und wäre jetzt nicht glücklich verheiratet. Auch das schwingt in meinem Kopf mit, als ich Brunhilde Pomsel zuhöre, denn sie erzählt vom Büroalltag, als hätte sie in einer Modeagentur gearbeitet, in der es gar lustig zugegangen sei. Der gepflegte, modische Chef, sein sensibles Hündchen, seine lieben Kinder. Und vor allem: Ihr tolles Gehalt, um das sie alle beneideten. Immer wieder erwähnt sie, sie sei ein völlig unpolitischer Mensch gewesen. Ein Leben in der Idylle also, wenn man bereit war alles beiseite zu schieben, so wie auch Hitlers Sekretärin Traudl Junge in dem 2006 entstandenen Film Im toten Winkel, so wie einige meiner Verwandten. Der zeitliche Bogen kann bis heute gespannt werden, – natürlich in einer anderen Dimension des Elends.
Ein paar Tage nach diesem Film lese ich von einer Studie, deren Ergebnisse ich nicht in dieser Drastik erwartet hätte: 56 Prozent der Befragten stimmen der Aussage sehr oder ziemlich zu, dass die Diskussion über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust beendet werden sollte. Außerdem sieht ein Drittel der Befragten Gutes wie Schlechtes an der NS-Zeit, wobei jeder zweite 15- bis 20-Jährige ein mangelndes Wissen über den Hitlerfaschismus angibt. Junge und mäßig gebildete Menschen zeigen eine erhöhte Tendenz für autoritäre Zugänge.
Dieses Ergebnis animiert mich, mir die Postings zu eben jenem Film der Zeitung Der Standard1 anzusehen. Laut Umfrage sind deren LeserInnen jung, gebildet, urban und mobil. Wie ich erwartet hatte, reagiert eine Mehrheit der siebzehn Postenden ablehnend bezüglich der skrupellosen und verdrängenden Pomsel’schen Welt, doch ich finde auch einige verworren formulierte Textbeiträge. Ein Leser oder eine Leserin meint „Sekretärinnen waren nur Frauen ihrer Zeit“ (Aha! Was meint er/sie damit? Wie wären diese denn charakterlich ausgestattet? Waren Männer anders strukturiert?) Ein Kommentar nimmt zum Film gar nicht Stellung. Eine Thematik dieser Dimension sei zu komplex, lese ich, um sie in einem Zeitungsforum diskutieren zu können. Summa summarum empfinde ich das Ergebnis dieser Wortspenden eines sogenannten gebildeten Publikums als eher verzichtbar. Vielleicht müssen sie aber auch verzichtbar bleiben?!
Ich frage mich, warum die Regisseure zu den bereits zahlreich vorhandenen Materialien über ZeitzeugInnen noch diesen Film hinzugefügt haben? Brunhilde Pomsel wird voraussichtlich eine der letzten sein, die über die NS-Diktatur sprechen konnte und: Sie saß – äußerst bequem – im Epizentrum der Schreckensherrschaft, auch wenn sie sich verdächtig oft als unpolitisch und kleines Rädchen bezeichnet. Interessanterweise gibt einer der Regisseure zu Protokoll, sie sei „eine scharfe politische Beobachterin“ gewesen. Also doch? Wann hat sich dieser grundlegende Wandel bei ihr vollzogen? So vieles passt da für mich nicht zusammen. Warum sind die Regisseure offensichtlich bemüht auch ein eher positives Bild von Pomsel zu zeichnen? Wahrscheinlich haben sie Nähe und Sympathie zu dieser Frau entwickeln müssen, um diesen Film überhaupt drehen zu können.
Einige Tage später stelle ich mir die für viele unvermeidliche Frage, wie ich mich während der NS-Zeit verhalten hätte. Ich bin mir sicher, dass ich diese Jahre nicht als Heldin erlebt hätte. Wenn mir zu einer Sophie Scholl also leider der Mut gefehlt hätte, so nehme ich doch an, dass ich nicht für ein gutes Gehalt und ein angenehmes Leben alles verdrängt und meine Sinne völlig ausgeschaltet hätte. Aber das bleibt natürlich Theorie.
Den Kinostart konnte Brunhilde Pomsel übrigens nicht mehr erleben. Sie starb am 27. Jänner 2017 – zynisch wie der Zufall manchmal spielt – in der Nacht auf den Internationalen Holocaust-Gedenktag.
1 „Ein deutsches Leben“: Kronzeugin mit eingeschränkter Sicht. Der Standard, 04. 04. 2017
Ein deutsches Leben
A/D 2016, 113 Minuten
Regie: Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer, Florian Weigensamer.