Anlässlich der in diesem Jahr völlig umgekrempelten Linzer Klangwolke Sounding Linz entwirft der Komponist und Klangkünstler Klaus Hollinetz im Vorfeld einige Überlegungen, Gedanken und historische Referenzen rund um Klangräume, Soundscapes und das Projekt Linzer Klangwolke 2020.
Der Klang der Stadt
In einem beinah konstanten Rhythmus erklingen Schritte von festen Stiefeln. Ihr Klang reflektiert sich an Wänden, in Durchgängen und Passagen, klingt immer unterschiedlich auf Steinen oder Asphalt, im Regen oder im Innenbereich. Mit der Klangkünstlerin Katrinem gehe ich zusammen mit einem kleinen Grüppchen Interessierter schweigend auf einem genau festgelegten Parcours durch die Linzer Innenstadt. Wir passieren Szenen, in denen nichts außer dem Lärm von Baustellen und der Roll- und Motorengeräusche der Autos hörbar ist, umrunden Brunnen mit sich immer wieder verändernden Plätschern. Eine kleine, fast harmlose Übung, die doch ganz unmittelbar die Vielgestaltigkeit der Lautsphäre der Stadt bewusst hörbar macht. Die Genauigkeit der Bewegung hilft uns, Ablenkungen zu entgehen und sich auf Wechsel und Gestalt von Klängen zu konzentrieren.
Klingt die Stadt nicht eigentlich ganz einzigartig und wunderbar? Lassen sich nicht alle Klänge mit einem nur ein wenig fokussierterem Bewusstsein in einen Reigen einfügen, mit dem unser Alltag sich viel deutlicher strukturiert? Und nehmen wir nicht eigentlich schon immer alle Klänge und ihre Räume ganz konkret und unmittelbar wahr und orientieren uns an dieser Wahrnehmung als essentielle Wirklichkeit unseres Lebens?
Dieser erste Klangspaziergang „SCHUHzuGEHÖR“ ist eines der ersten Projekte von Sounding Linz, einer sich entwickelnden Phase von vielgestaltigen Klangprojekten, die sich nach und nach in der gesamten Stadt ausbreiten und die an einem gesamten Tag und auch in einer noch intensiveren Stunde als Linzer Klangwolke 2020 kulminieren werden.
Linzer Klangwolke?
Erinnern wir uns. Der Komponist und Klangarchitekt Walter Haupt hatte die Idee, die zum Brucknerfest 1979 im damals noch recht neuen Brucknerhaus aufgeführte Musik Bruckners live ins Freie auf den gesamten Donaupark und ins Radio zu übertragen. Er hatte so die erste Linzer Klangwolke eingeleitet. Der international tätige Klangkünstler Sam Auinger, einer der Masterminds des heurigen Projekts, war damals sein Assistent. „Haupt war eigentlich hauptsächlich auch am Radio interessiert, und die Idee war ja nicht nur eine Übertragung ins Freie, sondern – durch das suggerierte Ins-Fenster-Stellen der Radiogeräte – den Raum als gesellschaftliche und politische Realität, als eine Art Bruckner-Raum zu gestalten.“ Der damals notwendige technische Aufwand war enorm und sprengte beinahe die gegebenen Möglichkeiten, war aber dennoch bescheiden im Vergleich zu heutigen Beschallungsmöglichkeiten. Und zunächst gab es eben nur Klang und auch gar keine Show, ein bisschen Laserlicht vielleicht, nichts, was heute Kinder nicht auch mit Pointern erzeugen könnten.
Man hatte dabei aber nicht einfach nur ein spektakuläres Event für ein zahlreiches Publikum im öffentlichen Raum geschaffen, sondern den Raum selbst als Gestaltungsmedium entdeckt. Der Klang formt den Raum, lässt ihn uns auf eine neue Art erfahren. Und es waren die Radios in den offenen Fenstern, die diesem Ansatz sein „magisches Fluidum“ verliehen. Laufzeitverschiebung und Gleichzeitigkeit, Projektion und Rezeption, ein großes Rauschen, das sich dennoch vom Klang des Alltags unterschied.
Eine der spektakulärsten Klangwolken-Projekte in Folge war für mich und viele andere Alvin Currans Konzert für Schiffshörner, „Waterworks“, im Jahr 1987, ein Projekt der Ars Electronica in der Ära Gottfried Hattinger, der damals meinte: „Ich hatte das Gefühl, dass es nicht mehr reicht, im Großen Saal des Brucknerhauses ein Konzert zu veranstalten, das dann nach draußen übertragen wird, ich wollte, dass man den wunderbaren Donauraum selber spielen lässt.“
Der Raum selbst spielen lassen! Nicht die Klänge einfach der Umgebung aufoktroyieren, sondern durch ihre spezielle durchdringliche Klanglichkeit den Klangraum selbst hör- und erlebbar zu machen.
Soundscape – Klangraum
Das mag uns durchaus an andere Projekte erinnern. An die Versuche vielleicht, revolutionäre Gedanken in eine neue, inszenierte Musik einfließen zu lassen, wie in dem großen „Konzert für Fabriksirenen und Dampfpfeifen“, 1922 in Baku. Nebelhörner der Flotte, alle Fabriksirenen, zwei Kanonengeschwader und viele Soldaten, Maschinengewehre, Wasserflugzeuge, Chöre und viele andere waren involviert, Beteiligte und Zuhörer in einem. „Das Fest war sehr beeindruckend, es war keine Überraschung, dass die Musik weit über die Stadtgrenzen hinaus gehört werden konnte.“ Ein berühmtes Foto zeigt den Komponisten Arsenij Avraamov auf dem Dach eines hohen Hauses, mit Flaggen dirigierend. Eine Klang-Gestaltung der Welt als proletarisches Konstrukt.
Oder es erinnert an die Versuche der italienischen Futuristen, mittels Geräusch-Maschinen, den intonarumori, eine neue, der modernen Zeit entsprechende Klangästhetik in die Musik einzubringen. Ein Entwurf aus dem gegensätzlichen politischen Spektrum, möchte man meinen, eine ebenso kräftige wie gewalttätige Musik, als künstlerisches Äquivalent einer zunehmend gewalttätigeren Zeit. „Wir müssen diesen engen Kreis der reinen Töne durchbrechen und den unerschöpflichen Reichtum der Geräusch-Töne erobern.“ Der Futurist Luigi Russolo in seiner noch so kriegsbegeisterten Rhetorik 1913 stellt trotzdem, zusammen zum Beispiel mit den Erfindern der Zwölftontechnik oder den in alle Erdteile ausschwärmenden Ethnomusikologen, damit aber die Weichen für ein neues und umfassenderes Verständnis von Klang und Musik.
Klang und Krach
Eine Zündschnur für ein anderes Verständnis von Klängen hat auch der amerikanische Komponist John Cage mit seinem „stillen“ Stück 4’33 gelegt. Nicht das Spiel selbst erzeugt und gibt uns die Töne, das machen wir selbst, absichtlich und auch unabsichtlich, der Instrumentalist bleibt an seinem Instrument untätig und skizziert nur mehr die Zeit, die uns gegeben sei, für die Konzentration auf die hereindringenden Klänge Achtsamkeit und Aufmerksamkeit aufzubringen. „Heute brauche ich das Stück nicht mehr,“ sagte Cage später, und „… wenn ich in meinem Apartment (an der 6th Avenue in New York) Musik hören will, dann öffne ich die Fenster.“ Die differenzierte Wahrnehmung der Alltagsklänge und -geräusche als musikalischer Akt.
Wenn ein Baum im Wald umfällt und niemand hört zu, ist dann ein Geräusch zu hören? Die Antwort ist so einfach wie bestürzend: Nein. Denn ein Klang ist das Konstrukt unserer Wahrnehmung. In der Realität gibt es nur ein Schallereignis, sich ausbreitende Luftdruckschwankungen, Reflexionen, Überlagerungen. Der kanadische Klangökologe R. Murray Schafer antwortet 1977 recht poetisch: „When a tree crashes in the forest and knows that it is alone, it sounds like anything it wishes — a hurricane, a cuckoo, a wolf, the voice of Immanuel Kant, the overture of Don Giovanni or a delicate air blown on a Maori nose flute.“ Es geht also nicht einfach um Hören als physiologischer Vorgang, sondern um das Zu-Hören, eine bewusste Handlung, die auch geübt und gelernt werden kann und muss.
Schafer wies uns 1977 in seinem Buch „The Tuning of the World“ (gleichermaßen das Stimmen und die Stimmung der Welt; damals aber auch recht treffend als „Klang und Krach“ übersetzt) auf die Flüchtigkeit und den politischen, historischen, gesellschaftlichen und physischen Umgang von Klängen hin. „I pointed out how all sounds of the present will soon become sounds of the past and asked whether there should be museums for disappearing sounds? Actually I was beginning to assemble a reference library of significant sounds found in descriptions from other places and times.“ Das damals entstehende Archiv von Klängen des Alltags einer Stadt, von den spezifischen Sounds und akustischen Eigenheiten mündete in das bis heute aktive Vancouver Soundscape Project. Schafer prägte den bis heute einflussreichen Begriff „soundscape“ für die auditiven Gegebenheiten, aktiven und passiven akustischen Realitäten. Und die bekanntesten Klänge des Vancouver Soundscape Projects sind die die Hafenbucht durchflutenden Klänge der Nebelhörner, die mit ihren typischen und durchdringenden Lauten den Schiffen den Raum für das Manövrieren bestimmen.
In den Wüsten des Alltags
Wir sind allzeit von Klang umgeben, und das Hören strukturiert unseren Alltag und schafft Orientierung und Wirklichkeit. „Phylogenetisch ist der Hörsinn ein Warnsinn; anders als den Sehsinn können wir ihn nicht kontrollieren, können ihn als Raumsinn auch nicht dem gerichteten Blick entsprechend auf ein begrenztes Feld fokussieren: das Gehör liefert (schon im Mutterleib) ununterbrochen Informationen, die wir zur Orientierung in der Welt verarbeiten. In diesem Sinne sind wir ihm schutzlos ausgeliefert, noch mehr aber deshalb, weil die Welt ununterbrochen akustisch an uns herantritt – eine völlige Abwesenheit von Schall gibt es nicht.“ Der Komponist und Akustikforscher Peter Androsch, auch einer der Ideengeber und Leiter der heurigen Klangwolke, stellt mit seiner Arbeit im Rahmen des Projektes Hörstadt, den Klang als eine der wesentlichen Ressourcen unseres Lebens in den Mittelpunkt. In der Linzer Charta, vielleicht auch als eine Art Gegen-Entwurf zum Manifest der Futuristen, wird der nachhaltige und menschengerechte Umgang mit allen Klängen hervorgehoben. „Der akustische Raum ist formbar. Er kann gestaltet, gepflegt und entwickelt werden.“ Die Umgebung wird nicht mehr unablässig von unvermeidlichen Klängen, gewissermaßen als Abfall unserer Zeit geflutet, sondern mittels einer „Inklusiven Akustik“ werden auch alle klingenden Räume gestaltet und betreut. Nicht mehr nur die reflexhaft installierte Lärmabschirmung gilt als alleinige Möglichkeit, sondern ein umfassendes Klang- und Lärm-Management.
Linzer Klangwolke!
In den letzten Jahren ist das einstmals mit großer Ambition begonnene Projekt der Linzer Klangwolke zu einer Art großen Show verkommen, bei der das eigentliche Erlebnis der Klänge und ihrer Ausbreitung und Wirkung zur Nebensache geworden sind. Für viele war das bereits gewohnte Feuerwerk am Ende der „visualisierten Klangwolke“ (was für ein Euphemismus) der Höhepunkt und Sinn des immer bemühter werdenden Massenevents. Spektakuläre Showelemente, theatralische und plakativ-edukative Inhalte konnten kaum den Sinnverlust kompensieren. Wer erinnert sich noch an die einzelnen Klangwolken? Wozu auch. Mich interessiert diese Entwicklung schon lange nicht mehr. Und die Corona-Krise und ihre Einschränkungen ließen heuer ohnehin keine Prolongation dieser Entwicklung zu. Warum also nicht (endlich!) die Idee der Klangwolke wieder komplett neu denken? Die GestalterInnen der Linzer Klangwolke 2020 und des Projektes Sounding Linz, die alle lang mit der musikalisch-künstlerischen Entwicklung dieser Stadt verbunden sind, haben dafür eine zunehmend komplexere und sehr umfangreiche „Wolke“ von Ideen und Aktionen zusammengestellt. Nun steht Linz und seine gesamte „soundscape“ wieder im Vordergrund und die besten Ideen aus den vergangenen Jahren werden auch noch als Referenzen mit eingebracht. Die heutigen medialen und kommunikationstechnischen Realitäten machen es möglich, die Funktionen des Radios, durch eine mögliche Einflussnahme und Beteiligung aller, zu der „sozialen Skulptur“ zu machen, die uns immer vorgeschwebt ist. Wir brauchen dazu keine „fremde“ Musik mehr, denn die eigenen, gefundenen und entdeckten Klänge werden hier als selbstständiges Medium dienen.
Wir haben vielleicht aufgehört zu suchen, denn eine Suche impliziert ein Subjekt, das vorbestimmt werden muss. Wir sind nun in die Phase des Findens getreten, und die prinzipbedingte Offenheit des Findens umfasst alles, unsere Umgebung, unsere Welt.
„Das Pariser Leben“, schreibt Charles Baudelaire schon 1846, „ist reich an poetischen und wunderbaren Sujets. Das Wunderbare umgibt uns und durchtränkt uns wie die Luft; doch wir sehen es nicht.“ Und hören auch nicht zu, möchte man dazufügen.
Are we quietophiles?
In den Tagen im April dachte ich über die Auswirkungen nach und beschäftigte mich mit der veränderten akustischen Situation, die zu dieser Zeit herrschte (bzw. sich schon bald wieder änderte) und die sich doch gravierend auswirkte. Jede und jeder hat es erfahren, wie sich ein „Downscaling“ oder (noch besser) ein „Niederfahren“ (was für ein Wort!) unserer manisch-aktiven Lebensweise auswirken kann. Der Himmel ist beinahe unmittelbar blauer und klarer, die Sterne sind sichtbarer geworden, die Luft ganz merklich sauberer, und jede und jeder hat das „irgendwie“ nicht einfach nur gespürt, sondern es auch, trotz aller anderen Nachteile, als angenehm und entspannt wahrgenommen.
In den Medien war leider nur wenig von der zumindest damals deutlich reduzierten Lärmbelastung die Rede. An meinem Haus führt z. B. eine Straße vorbei, die sich in den letzten Jahren dank Google etc. zu einer Ausweich- und Durchfahrtsstrecke entwickelt hat, mit massiven Auswirkungen auf die Lärmbelastung und -belästigung. In diesen Wochen des „Lockdowns“ gab es wieder so wenig Verkehr, wie ich es seit meiner Kindheit in den frühen 60ern nicht mehr erlebt habe, tagsüber wenig und nächtens gar keinen mehr. Wie befreiend fühlte sich das an, die Vögel in der Früh den Morgengesang anstimmen zu hören und nicht mit dem Donnern eines LKWs aufzuwachen. Und untertags zu erleben, wie es sich anfühlt, wenn kein ununterbrochenes Dröhnen der Flugzeuge den Himmel und die Umgebung permanent durchdringt.
Mir ist natürlich klar, dass das besondere Umstände waren, mit wirtschaftlichen Auswirkungen, die noch immer nicht gänzlich abzusehen sind. Aber es ist an der Abnahme der Lärmbelastung niemand gestorben und ich, ja ich persönlich in meinem individuellen Lebensentwurf, habe es sehr genossen! Soll ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn mir eine Veränderung zusagt, auch wenn es weitreichende Konsequenzen in verschiedenen Bereichen haben wird?
Ich denke, dass es um einen neuen Umgang mit der Lautsphäre gehen wird müssen, mit einer veränderten Differenzierung zwischen den „wanted sounds and unwanted sounds“. Und ich denke, dass es um die Erfahrung der Stille geht, der Ruhe, wenn alles ein wenig auf sich selbst zurückgeworfen wird und zu einer umfassenderen Reflexion des eigenen Standpunktes, der eigenen Situation, aufruft.
„Silence“, sagt der amerikanische Klangökologe Gordon Hempton, „is not the absence of something … but the presence of everything.“
Sounding Linz
Soundinglinz.at ist ein Projekt der Klangwolke und versteht sich als Plattform künstlerischer Forschung mit partizipatorischer Agenda. Hier werden akustisch bemerkenswerte Orte dokumentiert, kommentiert und auf einer Linzkarte eingetragen. Alle sind eingeladen, die oberösterreichische Landeshauptstadt Linz mit eigenen Ohren akustisch zu erforschen und ihre Erfahrungen zu teilen.
Mehr Infos: soundinglinz.at
Das Programm läuft bereits seit Mitte August. Sounding Linz findet am 12. September 2020 in ganz Linz statt.