Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe AnarchistInnen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Über den 1865 geborenen ‚Sammler und Historiker des Anarchismus‘, über Max Nettlau, schreibt in dieser Ausgabe Andreas Gautsch.
„Nettlau (Max; geboren 30. April 1865 in Neuwaldegg, bei Wien), freiheitlicher Sozialist ohne öffentlichen Wirkungskreis, kleinen Kreisen bekannt als Bearbeiter historischen sozialistischen Materials, Sammler derartiger Dokumente und Druckwerke im weiteren Umfang, die im I[nternationaal] I[nstituut voor] S[ociale] G[eschiedenis] konserviert sind, und auch als Vertreter mancher von der Routine abweichender Anschauungen, was sich alles aus seiner eigenen Entwicklung erklärt.“1 So beginnt Max Nettlau im März 1940 die Schrift Biographische und Bibliographische Daten, die er für die Bibliothekarin Adama van Scheltema-Kleefstra am erwähnten IISG in Amsterdam verfasste. Drei Sachen lassen sich in diesem kurzen Auszug herauslesen. Nettlau war ein Historiker der sozialistischen Bewegung, hatte eine größere Sammlung aufgebaut und liebte das Understatement. Letzteres lässt sich auch an seinem Werdegang und politischen Auffassungen zeigen. Dass Max Nettlau überhaupt zur Geschichtsforschung kam, war zumindest von seinem Studium her nicht vorgesehen. Er studierte indoeuropäische Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt der keltischen Sprache, ab 1882 in Berlin und promovierte dort über die cymrische Grammatik. Ab 1885 führten ihn seine Forschungen immer wieder nach London, wo er auch in Kontakt mit der sozialistischen Bewegung kam. Knapp 15 Jahre zuvor hatte sich die sozialistische Bewegung an den Fragen nach Zentralismus oder Föderalismus und der Haltung gegenüber der Staatsmacht gespalten. Vor allem, nachdem die autoritäre Richtung mit Karl Marx als ihrem bekanntesten Vertreter, die Antiautoritären, für die u. a. Michael Bakunin stand, ausschloss.
Auf der Suche nach den anarchistischen Nebenflüssen
Nettlau trat für die antiautoritäre oder anarchistische Seite ein und begann Ende der 1880er Jahre erste Artikel über die Entstehung dieser Bewegung zu verfassen und ihre Geschichte zu studieren. Für Marx hatte er wenig Bewunderung übrig, er verabscheute „den totalistischen Sadismus und Grössenwahn von Marx und Engels, die sich (…) einbildeten, eine für alle Zeiten geltende Formel des Sozialismus gefunden zu haben und daraufhin alle anderen Sozialisten ihr Leben lang bekämpften und zu vernichten suchten und sie mit Ausnahme ganz weniger mit Geringschätzung oder Verachtung behandelten.“2
Nettlaus Vorstellung von sozialistischer Bewegung war eine ganz andere, „an Stelle des nacheinander und statteinander (wobei immer einer den andern erschlägt und sich an seinen Platz setzt) das nebeneinander (sic!), das Zusammenleben (convivance), das Platz für Alle (…)“3, was sich auch in der Gestaltung seiner Sammlung wieder findet. Grob gesagt sammelte er alles, was er bekommen konnte, Zeitungen, Zeitschriften, Pamphlete, Flugblätter, Briefe – und er führte viele Gespräche mit Zeitzeugen. Nur die Klassiker, die in jeder Bibliothek zu finden waren, die sammelte er nicht. In seinem Fokus lag nicht die Hauptströmung des Sozialismus, sondern die vielen Nebenflüsse. In einem Brief an den Anarchisten Siegfried Nacht erklärte Nettlau seinen Ansatz folgendermaßen: „Ich hatte immer Sympathie für die schwächeren, nicht erfolgreichen Sachen, und so war mir nichts auf diesem Gebiet zu gering, ohne dass ich persönlich die Kleinigkeiten überschätzen würde. Ich strebte nie nach der Einheit, freute mich über jede Verschiedenheit, und das kam der Sammlung zugute, die, sagen wir, das sozialistische Flusssystem bis zu den geringsten Bächen hinauf nach Möglichkeit verfolgt und den sich im Sand verlierenden Steppenflüssen und den von Felsen verschlungenen, aber doch anderswo wieder auftauchenden Karst-Flüssen.“4
Was noch hinzukommt und die Sammlung im Laufe der Jahrzehnte so spektakulär und einzigartig machte: Sie war international! Und so waren auch seine Forschungsarbeiten. Sein erstes großes Werk war eine umfangreiche Bakunin-Biografie – die er von 1892 bis 1900 schrieb. Jedoch fand er für diese Arbeit keinen Verlag und deshalb ließ er 50 handgeschriebene Exemplare drucken und verschickte diese an mehrere europäische Nationalbibliotheken und Freunde wie Gustav Landauer und Petr Kropotkin. Auch wenn in der Folge seine Bakunin-Biografie im geringen Umfang in Englisch, Spanisch und Deutsch erschien, ist das charakteristisch für die Forschungsarbeiten von Nettlau. Neben seinen großen biographischen Büchern über den italienischen Anarchisten Enrico Malatesta oder den französischen Elisée Recluss sind viele seiner Arbeiten verschollen, ungedruckt geblieben und im besseren Fall in der ganzen Welt verstreut in den verschiedensten anarchistischen Zeitschriften. Sein Hauptwerk, eine auf sieben Bänden angelegte Geschichte der Anarchie ist bis heute noch nicht vollständig erschienen. Zu Lebzeiten wurden nur die ersten drei Bände gedruckt und die handschriftlichen Manuskripte von Band 6 und 7 liegen bis heute unveröffentlicht im IISG in Amsterdam.
Wie man sein Erbe Sinnvoll durchbringt
Die Frage, die in diesem Zusammenhang von Interesse ist: Wie konnte sich Max Nettlau ein Leben in einem nicht gerade lukrativen Geschäft wie Anarchismusforschung und Sammlung von Sozialistika leisten? Die Antwort ist recht einfach: Eine Erbschaft. Sein 1892 verstorbener Vater hinterließ ihm ein Vermögen von 50.000 Goldfranken. Von den Zinsen dieses Kapitals hatte er einen jährlichen Etat, der ungefähr 3 Mal so groß war wie das Jahresgehalt eines Zeitungsredakteurs, wobei er die Hälfte des Geldes für Bücher und Miete ausgab und die andere Hälfte für (Forschungs-) Reisen und Lebenserhaltung. Nach dem 1. Weltkrieg schrumpfte auf Grund der einsetzenden Inflation sein Vermögen gegen Null und Nettlaus Lebenssituation änderte sich drastisch. Der „kapitalistische Nichtstuer“5, wie er sich selbst bezeichnete, hatte nun ein Einkommen von einem Drittel oder Viertel eines ungelernten Taglöhners6. Sein Versuch, beruflich Fuß zu fassen, um zu geregelten Einnahmen zu kommen, scheiterte. Übrig blieben ihm seine publizistischen Tätigkeiten und die Zuwendungen von Freund_innen und Genoss_innen. Denn auch die Sammlung mit ihren Depots in Paris, München und London verschlang weiterhin Geld. Sie hatte einen enormen Umfang eingenommen, wie Nettlau 1920 berichtete:
„Anarchistisches, Bücher und Broschuren: 3.200; Zeitschriften: 1.200; Freiheitliches (dabei auch der revolutionäre Teil des Syndikalismus etc.): 1.300 Druckwerke und 600 Zeitschriften;
Sozialistisches: 10.500 Druckwerke und 2.750 Zeitschriften; Sozialreform: 2.000 Druckwerke und 2.300 Zeitschriften; Politisch-Radikales etc.: 13.000 (inkl. die Zeitschriften). Das gibt 36.850; – dazu mehrere tausend weniger prononzierte Literatur, wodurch 40.000 erreicht, wenn nicht überschritten wird. Dazu dann die tausenden kleineren Sachen. Dabei sind mehr als 10.000 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, von denen teils einzelne Nummern, teils sehr viele oder alle Nummern, manchmal ganze Kisten voll, vorhanden sind;“7
Der Weg der Sammlung nach Amsterdam
Auf Grund Nettlaus prekärer Lebenssituation wurden die Überlegungen, die Sammlung an einen sicheren und guten Ort zu bringen, immer dringlicher. 1925 zeigte das Moskauer Marx-Engels-Institut Interesse an seiner Sammlung und bot ihm Geld sowie einen Arbeitsort für seine Bakuninstudien. Nettlau lehnte ab. 1928 verkaufte er an den holländischen Historiker N. W. Posthuums, jedoch im letzten Moment trat Nettlau vom Verkauf zurück. Es sollten weitere sieben Jahre vergehen, bis er sich von seiner geliebten Sammlung trennen konnte. Im buchstäblich letzten Augenblick, bevor Faschismus und Krieg sie zerstören konnten, verkaufte er seine komplette Sammlung ans IISG in Amsterdam. 1937 konnte er sie dann zum ersten Mal in ihrem vollständigen Umfang sehen und er zeigte sich mehr als zufrieden mit dem Ergebnis. Ein Jahr später übersiedelte Nettlau selbst nach Amsterdam und arbeitete bis zu seinem Tod 1944 an seinen Memoiren und an der Erschließung seines ungeheuren Nachlasses, der heute zwar digitalisiert und online abrufbar, aber immer noch nicht vollständig aufgearbeitet ist.
Rudolf Rocker, ein großer Bewunderer von der Person Nettlau und seinem immensen Wissen, erzählt in seiner Biographie, die er über ihn verfasste, folgende Anekdote, die einiges über das Selbstverständnis und die Selbsteinschätzung dieses ungewöhnlichen Forschers der Anarchie zeigt. „Ach nein, lieber Rocker, wir wissen alle nicht viel und lange nicht genug, und gerade wenn die Zeit unserer besten Erfahrungen beginnt und wir das Beste leisten könnten, stellt uns der Tod ein Bein und macht Schluß mit unserer ganzen Weisheit. Deshalb müssen wir zusammentragen, was möglich ist, damit andere daran weiterbauen können. Dabei wird es, glaube ich, ohne Gelächter nicht abgehen, wenn jene anderen unser angebliches Wissen unter die Lupe nehmen und vielleicht gar nicht begreifen werden, weshalb wir so viel Hirnschmalz darauf verwendet haben.“8
Es wird wohl auch noch einiges an Hirnschmalz notwendig sein, um Nettlaus Nachlass umfassend aufzuarbeiten.
1 Max Nettlau: Biographische und Biblographische Daten von 16–18. III. 1940, in: Geschichte der Anarchie. Ergänzungsband, S. 21
2 Ebd. S. 25
3 Ebd. S. 24
4 Maria Hunink: Das Schicksal einer Bibliothek, Max Nettlau und Amsterdam’, in: International Review of Social History Vol. 27 (1982) 4–42, S. 9
5 Ebd. S. 12
6 Ebd. S. 12
7 Rudolf Rocker: Max Nettlau, Leben und Werk des Historikers vergessener sozialer Bewegung, Berlin, 1978, S. 229
8 Ebd., S. 220 Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.