Kathrin Stumreich wurde 2016 für ihre Arbeit „What would Ted Kaczynski’s daughter do …?“ der Marianne-von-Willemer-Preis für digitale Kunst verliehen. Im Sommer wird es im AEC eine Ausstellung zu ihren Arbeiten geben. Lisa Spalt bleibt im Medium und beschreibt einen ausufernden Versuch, Kathrin Stumreich über das Internet kennenzulernen.
Aus vielerlei Gründen konnte ich Kathrin Stumreich und ihre Arbeiten bis jetzt nicht live erleben. Also googeln: Kathrin Stumreich bezeichnet sich auf ihrer Website selbst als interdisziplinär arbeitend. Und aus ihrer Biografie ist zu ersehen, dass sie tatsächlich beängstigend umfassend interessiert und ausgebildet ist. Immerhin hat sie in Antwerpen und Michelbeuern Mode studiert, hat sich in Wien mit Philosophie und Ethnologie beschäftigt, vor allem aber an der Angewandten das Studium der Digital Arts mit Auszeichnung absolviert. Ach ja, und Physiotherapie kann sie auch noch.
Aber ich will mich ja vor allem mit ihren Arbeiten beschäftigen, eigentlich zuerst mit der einen, mit der Stumreich den Marianne-von-Willemer-Preis 2016 gewonnen hat. Dann allerdings fällt mir doch eine andere auf. Sie trägt den Titel „Sonnenlauf“ und stammt aus der Serie „oetztal augmented“. Ein mich heimelig anrührender Heureiter gerät da – auf eine bewegliche Konstruktion montiert – in Bewegung. Das Ding scheint, so der Beipacktext, eine Art Sonnenuhr darzustellen, doch die Sonne lenkt den Heureiter, der da seinen künstlich induzierten Schatten wirft, eben nicht, es ist ein bisschen Technik, und das sagt doch schon einiges über unsere Zeit aus, in der man nicht von der Sonne abhängig ist, wenn man Licht braucht, in der man aber dennoch immer noch mit dem Kopf im Heureiterzeitalter steckt.
Plötzlich erinnere ich mich, wie oft ich als Kind dachte, dass diese Heureiter dastehen wie Leute, die ihre Arme zum Himmel strecken und Beschwörungsformeln dazu murmeln. Die Heureiter Vorarlbergs oder eben des Ötztals – das waren für mich die Joshua-Trees der Mojave-Wüste, eine Art von Figuren, die mit dem Himmel kommunizieren. Ich denke mir: Wenn ich will, kann ich dieses Hochstrecken der Heureiter-Arme als einen magischen Akt sehen. Ich kann behaupten: Der alte Heureiter war in Wirklichkeit eine für mächtig gehaltene Priesterin, die es möglich machte, der Natur zu trotzen, eine Stellvertreterin der Menschen, die zwar mit Hilfe von Beschwörungsformeln gutes Wetter herbeizaubern mussten, aber schließlich dafür nicht den ganzen Tag auf dem Feld stehen konnten. Die Heureiter sind die Entsprechung zu den Gebetsfahnen der Tibeter. Und die Beschwörung, die da über die Heureiter simuliert wurde, schien früher eben lebensnotwendig angesichts der Natur, die ihre Likes und Dislikes nach Lust und Laune verteilte und ihre Gladiatoren, die wir einmal waren, nach Belieben leben oder töten ließ. Ich erinnere mich nun auch wieder, welches Machtgefühl die Arbeit mit dem Gerät erzeugte: Da produziert ein ganz kleiner Mensch Vorräte und schafft es dadurch, seine ziemlich irre Mutter Natur zu überlisten, die ihn immer nur dann füttert, wenn es ihr gerade passt bzw. ihm meistenteils nur den Po verhaut, wenn sie keine Lust zum Kochen hat. Und ich denke mir: Diese Überlistung ist heute nötiger denn je. Oder sind wir nicht inzwischen zu groß geworden, als dass wir noch an den Brüsten der Natur hängen dürften? Wir wären doch schlecht beraten, darauf zu vertrauen, dass die Gute am Mittag eine Pfanne auf den Tisch knallt, in die wir dann alle unsere Löffel stecken. Nix da mit „Sie säen nicht, sie ernten nicht“. Die Menschheit ist erwachsen und weiß kaum noch, wo die Mama eigentlich wohnt, so lange hat diese die Jungen schon nicht mehr zum Sonntagskaffee eingeladen. Begonnen aber hat die Entfremdung und Selbstermächtigung – das behaupte ich jetzt einmal – mit dem Heureiter. Der führte – von der Form her – direkt zur Antenne. Und was aus ihm geworden ist, können Sie jeden Tag erleben, wenn die Kinder am Mittagstisch ihre Smartphones streicheln. So sehr sich aber die Gerätschaften verändert haben – die Notwendigkeiten und Bedürfnisse bleiben auf ewig dieselben: Liebe, Nahrung, Information, Coca Cola und ein tolles Profilfoto beim Lieblingsnetzwerk – das macht einen großen Teil unseres Lebens aus. Und das alles verschafft uns heute die Technik.
Was aus dem Wunsch nach der Kontrolle der Natur hervorgegangen ist, endete aber auch in der Kontrolle des Menschen durch den Menschen. Ja, der Mensch ist heute in doppelter Weise das Unberechenbare geworden: als Bürgerin, die abgehört werden muss, und als Geheimdienst, der überwacht.1 Berechenbarkeit und Beeinflussbarkeit erscheinen so verlockend wie nie, an sie glauben wir.
Kennen Sie das Paar-Zahlen-Experiment? Es geht so: Eine Versuchsperson bekommt immer zwei Zahlen vorgelegt und muss sagen, ob sie zusammenpassen. Die Experimentatorin beurteilt die Antworten, und zwar ganz simpel einer Gauß’schen Kurve folgend, mit „wahr“ und „falsch“. In Wirklichkeit gibt es also kein System, nach dem man sinnvolle Urteile fällen könnte, die ProbandInnen setzen das aber wie selbstverständlich voraus. Während ihnen immer neue Zahlenpaare vorgelegt werden, adaptieren sie ihre Erklärungen und versuchen, ein Muster hinter dem Ganzen zu entdecken. Irgendwann erreicht die Kurve der Wahr-Aussagen hier 75%. Und die Befragungen zeigen: Alle ProbandInnen haben spätestens in diesem Moment ein kompliziertes System von Regeln entwickelt, die ihrer Ansicht nach die Urteile der Experimentatorin regeln. Ja, manche behaupten sogar noch nach der Aufdeckung des Schwindels, sie hätten WIRKLICH das System entdeckt, mit dem man Urteile vorhersagen könne. Dieses Schlussfolgern ist aber trotz aller Absurdität nicht dümmlich, es beruht auf einer Notwendigkeit: Wenn wir den Hintern des Tigers aus dem Busch herausragen sehen, wäre es klug, sich den Vorderteil dazuzudenken, wenn wir nicht gefressen werden wollen. So funktioniert das Denken, so funktioniert Berechenbarkeit, so funktionierte der Kult und so funktioniert die Technik: „Wenn – dann“ ist die Formel, nach der wir agieren.
In Melanesien landeten im Zweiten Weltkrieg US-amerikanische Militärs, bauten Rollfelder und wurden von Flugzeugen mit Gütern versorgt. Die Einheimischen sahen diesem Zauber gebannt zu. Ihrer Logik nach konnte – Schlussfolgerung! – nur das Bauen des Rollfelds diese immensen Vögel angelockt haben, die in ihren Bäuchen „Cargo“ mitbrachten – phantastische Güter, die man hierzulande noch nie gesehen hatte. Es war also auch nur zu logisch, dass die Menschen nach dem Abzug der US-Truppen ihre eigenen Rollfelder bauten und – um dem göttlichen gefüllten Geflügel zu zeigen, wo es hingehörte – auf diese holprigen Bahnen ihre Flugzeuge aus Stroh oder Holz stellten. Diese Beschwörung sollte die Götter beeinflussen.
Die Objekte und Installationen, die Kathrin Stumreich baut, erinnern mich nun auf eine packende Weise an solcherart Kulte. Sie alle haben etwas eigenartig Tröstliches für mich – ob es nun um die automatisch gesteuerte Heureiter-Sonnenuhr geht oder eben die Arbeit, mit der Stumreich den Marianne-von-Willemer-Preis gewonnen hat: Sie vermitteln mit den Eindruck von Kultobjekten, die Berechenbarkeit und Beeinflussbarkeit simulieren, den Schutz vor Mächten, die wir nicht im Griff haben, und sie bieten die Möglichkeit, das ganze Gewurstel zu reflektieren.
„What would Ted Kaczynski’s daughter do …?“ lautet der Titel von Stumreichs ausgezeichneter Arbeit, die aus einem Video, einem Wikipedia-Eintrag auf einem I-Pad, einem Audioguide und ein paar Objekten besteht, auf die ich noch zurückkommen werde. Jedenfalls: Wenn die Priesterin einst der Natur entgegentrat und die NSA der unberechenbaren Menschheit, dann tritt hier eine neue Agentin auf den Plan, die nun wiederum der Macht von NSA und Konsorten entgegentritt. Die Frau ist die fiktive Ingenieurin und Ethnolinguistin Chrystal Tesla, Tochter von Ted Kaczynski, der als der UNA-Bomber bekannt geworden ist. Chrystal, deren Vorname wohl nicht von ungefähr an die Droge Crystal Meth erinnert, ist etwas schizophren, nämlich technikaffin und technophob, sie denkt logisch nach, zieht ihre Schlüsse und baut dann Geräte, die sie in ähnlichem Sinn vor den Abhörorgien der NSA schützen sollen, wie das William S. Burroughs in den 70er-Jahren von seinen Tapes behauptete: Er entwickelte in seinem Text „Electronic Revolution“ nach den Abhörorgien Nixons eine ganze Sammlung von künstlerischen Taktiken, die die Technik, die sich die Politik unter den Nagel gerissen hatte, aneignen und gegen jene selbst wenden sollten.
Auch Stumreichs Geschichte spiegelt ihre Zeit. Darin spielt nun Genetik ebenso eine Rolle wie die Settings der Digital Natives oder die DIY-Bewegung; am wichtigsten aber die uns schon so vertraute Atmosphäre mittlerweile allgegenwärtiger digitaler Überwachung, die neuerdings schon unser Überich formt, sodass wir am Abend wie die Kindlein zu ihr beten, damit ihr großes Auge auch dann auf uns ruhen möge, wenn wir im Schlaf von einem psychopathischen Weltverschwörer niedergemetzelt werden. Aus dieser unserer Zeit heraus entwickelt Tesla ihre Simulationen von Abwehrgeräten, ihre Fetische. Und diese Fetische des 21. Jahrhunderts sehen natürlich aus wie technische Geräte. Dennoch ruft Stumreich den DIY-Aspekt der alten Kult-Objekte auf, wie wir sie aus dem ethnologischen Museum kennen. Es geht hier um Selbstermächtigung, und die kann nicht in Serie gekauft werden. So erschafft Chrystal Tesla, diese Heldin unserer Tage, mit Hilfe der alten Technik des Brettchenwebens zum Beispiel Kupferbänder, die die Verortung von Handys stören sollen. Oder sie erzeugt einen von ihr erfundenen, ganz speziellen Faraday’schen Käfig, in dem sich die NSA-Argusaugen verfangen sollen etc. Ich will die Geräte hier nicht alle beschreiben – sehen Sie sich die Sache im AEC selber an!
Wichtig scheint mir an der Sache, dass hier ein Gebrauch von Technik gepflegt wird, der vom Pfad abweicht, den ein paar mächtige Leute vorgezeichnet haben. Und so einem schiefen Gebrauch wohnt eben immer ein spezieller Zauber inne. Das hat u. a. Michel de Certeau in seinem Buch „Kunst des Handelns“2 bemerkt: Es ist der Zauber der Auflehnung, der uns zum Beispiel anrührt, wenn Menschen ein seelenloses Gelände völlig gegen seine Intention verwenden, indem sie es für ihr Parkour-Training oder eine Flashmob-Rezitation der „Ode an die Freude“ benützen. Da geht es um tatsächliche kleine Aneignungen, um tatsächliche kleine Möglichkeiten des Überlistens von Macht oder zumindest um Geschichten, die von einer solchen Überlistung erzählen. Ja, es geht um solche Geschichten, um moderne Mythen und Märchen, die nicht ausschließlich der Ohnmacht entstammen, wie das bei Verschwörungstheorien der Fall ist, sondern auch der Freude an der Entdeckung und am Spiel. Kunst kann Geschichten anbieten, die komplett abheben und uns gerade damit auf einen – allerdings gewendeten – Boden der Tatsachen zurückholen. Darüber muss ich nachdenken, seit ich im Netz ein paar Arbeiten von Kathrin Stumreich gesehen habe.
1 An dieser Stelle sei der Film „Das Netz“ von Lutz Dammbeck genannt, den Stumreich auf ihrer Website zitiert. In „Das Netz“ wird die Geschichte des UNA-Bombers mit den LSD-Experimenten der US-Regierung, geheimen ExpertInnentreffen und künstlerischen Bewegungen in Beziehung gesetzt (YouTube!).
2 Michel de Certeau: „Arts de Faire“, Paris 1980. (Deutsch: „Kunst des Handelns“, Berlin 1988)
Die Ausstellung wird am 21. Juni, um 18.30 h, im Ars Electronica Center eröffnet.
Ein interessanter Artikel! Ich denke auch, die Arbeiten muss man live erleben. Schöne Grüsse aus Osnbrück