Utopien erzählen
Die Referentin #42
Ein Jahr des Linzer Kollektivs Time’s Up im Zeitraffer. In Full Swing. Es hat sich extrem viel getan – sie selbst sind vom Eindruck geflasht. Anlässlich der aktuell im Theater Phönix laufenden Produktion Tell Me About It hier der Versuch einer Time’s Up-Chronik-Weiterschreibung von Christian Wellmann.

Turnton in Rostock. Foto Time’s Up
Time’s Up, TU: Hardest Working Künstler:innenkollektiv (von Linz). Anfang des Jahres wurde ihr Buch Futures Brought to Life wieder mitgetragen, ab März gab es ein künstlerisches Forschungsprojekt mit der Angewandten in Wien, der Auftakt zu How Dare You. (Futuring-) Workshops mit der Caritas und der Kunstuni Linz, sowie ein längerer Workshop Räume für Träume mit dem Zirkus des Wissens und Pick a Ticket im Wiener ZOOM-Kindermuseum.
Parallel dazu eine konstante Produktionsphase für zwei größere Projekte: das immersive Hörspiel Tell Me About It im Phönix und Turnton 2047 – Utopie einer Küstenstadt? in Rostock. Beide sind im Kontext von Turnton zu sehen, als erfahrbare Zukunft – und tragen Jahre des Entstehens oder Wachsens in sich. „Heuer ist das so kulminiert und alles geht nun an die Öffentlichkeit“, beschreibt TU ein sehr intensives Jahr für alle Beteiligten.
Turnton 2047 – Utopie einer Küstenstadt?
Das Projekt auf der MS Dresden, die das Schifffahrtsmuseum Rostock beherbergt, baut inhaltlich auf vielem auf, das es bereits von Turnton 2047 gibt. Es ist aber extrem erweitert, verfeinert – u. a. mit Hydropia, dem fiktiven Forschungsschiff, das im Hafen von Turnton angelegt ist und besucht werden kann. Es beinhaltet auch ein neues Hörspiel und die dritte Ausgabe der Turnton Gazette (Nr. 38). Es ist eine neue Geschichte aus Turnton im neuen Format: „Mittels Artefakten und Hörstationen wird ein Einblick in den Alltag dieser Stadt gewährt und dabei über das Eintreffen des verschollen geglaubten Forschungsschiffs ‚Hydropia‘ erzählt“, so der O-Ton zum 2025er-Update, angesiedelt zwischen künstlerischer Vision und wissenschaftlicher Realität. Seit Corona ist es das größte TU-Projekt. Auch die Laufzeit von einem Jahr ist gigantisch – die Ausstellung läuft noch bis 5. November 2026. Zeit genug also, falls noch jemand vorhat, die Destination anzusteuern. Nach der Eröffnung werden bald Vorträge, Workshops, etc. stattfinden.
Neben dem Lentos (Turnton Docklands, 2017) ist die Ausstellung länger in Malta gestanden, Teile davon waren in Rumänien, bei der Vienna Biennale, selbst beim Höhenrausch (Rise). Es geht ins zehnte Jahr und war zehnmal an der Öffentlichkeit. „Die Welt hat sich seither maßgeblich weitergedreht, die Umweltbedingungen sind noch fieser geworden, die sozialen Fundamente bröckeln heftiger. Es bedarf ‚stärkerer‘ Gegenpositionen bzw. auch klarerer Ideen oder sichtbarerer Zeichen, wie es trotz allem möglich ist, alternative Vorschläge zu machen. Dass man in der Zivilgesellschaft andere Wege zu gehen anstößt und trotzdem noch das Mit- und Füreinander aufzeigt“, denkt TU stets optimistisch an mögliche Zukünfte. „Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass es eine gute, vernünftige Kombination von nicht-fossilen Energiequellen gibt, dass sich das tatsächlich soweit einmal über weite Strecken (Anm.: bis 2047) etabliert haben wird.“ Man blickt einem möglichen Morgen nicht furchtvoll, sondern vielmehr mit Wissen, Neugierde und Mut entgegen. Ein positives Weltbild widersteht den sich breitmachenden Ängsten und gibt Anstöße für eine mögliche Welt, in der wir leben wollen.
Die große Bereicherung in all diesen Neuerungen ist die intensive Zusammenarbeit mit Ozean-Forschungsinstituten. „Die Zusammenarbeit war großartig, sei es das Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW), das GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel oder das Thünen-Institut. Wir haben da auch sehr viel lernen dürfen und müssen. Unsere Fiktionalisierungen und Darstellungen auf der narrativen Ebene waren wiederum eine Bereicherung für sie – so war das Feedback“, beschreibt TU die fruchtbare Zusammenarbeit mit den Instituten, mit denen sie seit Herbst 2024 eng zusammenarbeiten. So werden nun Möglichkeiten zur Regeneration von Ozeanen intensiver besprochen, ebenso Seegras-Wiesen. Durch die Ostseenähe geht es auch um die Algenblüte und Übersäuerung der Meere.
Das Interesse an Workshops und Vermittlungsarbeit, die in Kooperation mit den Instituten stattfinden werden, ist groß. Mit GEOMAR wird es eine Vortragsreihe über Problematiken mit der CO2-Einspeicherung in Ozeanen geben. Vom TU-Team hat sogar jemand eine einwöchige, meeresbiologische Expedition mitgemacht, was natürlich ins Projekt getragen wurde.
Geplant ist das Projekt ja bis 2047, das ist schon fast der halbe Weg, spricht die Referentin an. „Die Ausgangsidee war, dass wir das potentiell erleben können, schaun wir mal ... Es gibt keinen Druck. Es gibt diese Alltäglichkeit, die Möglichkeit der Identifizierung, dass man sich selbst reininterpretieren kann, weil es ja nicht völlig weit weg ist.“
Schlussendlich wollen sie in Rostock bald die Medusa-Bar betreiben: „Mit der Bar hat man die Ebene des Alltags, wo man sich einfinden kann. Darum sind alltägliche Themen wichtig, die jeden betreffen, wo man einhaken kann. Der Versuch, dass man die Leute abholt, damit das nicht zu nerdig wird. Dass man nicht zu dogmatisch wird, sich nur in Ästhetik verliert – denn dann ist es inhaltlich leer. Diese Mischkulanz ist das Prinzip, wo wir dranbleiben.“

Turnton in Rostock. Foto Time’s Up
Tell Me About It
Das für das Theater Phönix erarbeitete Hörspielformat Tell Me About It, in dem man ins Leben der fiktiven Stadt Turnton eintaucht, kann ab Dezember im Phönix: Studio erfahren werden. Danach gibt es verschiedene Vorführungstermine, zu denen man sich (vorläufig) per Mail anmelden muss. „Dann können wir recht angenehm schauen, wie wir das weiterbetreiben und adaptieren wollen – in welchem Rhythmus und in welchen Formaten“, sieht TU der Laufzeit eines geplanten, optimistischen vollen Jahres gelassen entgegen. Ein ca. einstündiger Slot findet für 14 Personen statt und funktioniert wie ein Theater-Hörstück. Das Thema ist auch perfekt für Schulen geeignet, ab ca. 14 Jahren. Man nimmt dabei die Rolle der Personen ein, die an den Tischen sitzen. Fiktive Charaktere aus Turnton sprechen, es gibt ein Gespräch jeweils an einem der Dialog-Tische. Sieben Hörstationen mit jeweils einer Situation, die sich wiederholt. Es werden Geschichten einer (zukünftigen) Gesellschaft erlebbar, die sich angesichts der verheerenden Umweltzerstörung dazu entscheidet, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. In Rostock war der interne Arbeitstitel Turnton on the Boat, im Phönix ist er Turnton on Stage. „Jetzt haben wir eine Bühne, das ist schon anders. Das Publikum spielt sozusagen mit“, zeigt man sich begeistert.
In der Medusa-Bar – der Hafenkneipe – wird ein (fast) normaler Abend im Jahre 2047 sichtbar. Jelly-blaues Licht schwebt förmlich im Raum, u.a. unterstrichen von Silke Müllers und Katja Seiferts maritimen Illustrationen. „Das Schöne an der Bar ist der Grundgedanke, den wir gerne bei Turnton sehen: Dass es nicht darum geht, dass wir die Zukunft erklären – wir sind nicht die Hellseher:innen oder Zukunftsexpert:innen. Auch gerade wegen der Komplexität und Unverständlichkeit von Zukunftsszenarien erlauben wir uns, größere Themen auf Liebe, Tod, Sehnsüchte, Hoffnungen runterzubrechen. In den Dialogen sind immer wieder kleinere Verweise, die dann das Zukunftsszenario mittragen: Wie die Erwähnung eines Fortbewegungsmittels, das man jetzt noch nicht kennt, oder wenn synthetisierter Quallenschleim und die Geiselnahme von Davos besprochen wird – alles, das es so noch nicht gibt“, präzisiert TU.
Die Eindrücke kann man mit der im Phönix aufliegenden Turnton Gazette abrunden und vertiefen. Die dritte Edition, die bereits für das Rostock-Projekt erschienen ist, dient als Informationskanal und ist gleichzeitig als Requisit zu sehen – eine 2047 erscheinende, aber bereits im Jetzt veröffentlichte Wochenzeitung. Im akustisch perfekt ausgemessenen Phönix:Studio kommt zudem ein ausgeklügelter 3D-Sound zur Anwendung. Mit dem von TU eingesetzten DIY-Verfahren, entwickelt von OTTOsonics aus Ottensheim, kommen federleichte Lautsprecher (als Open Source zum Selbstausdrucken und -bauen via 3D-Drucker) zum Einsatz.
Eigene Zukünfte
„Wir sind weiterhin neugierig – wir alle geben uns nicht zufrieden mit simplen Lösungen oder Erklärungen. Dass es eine Lösung gibt, die alles retten wird, haben wir schon lange vom Tisch, das geht sich für uns nicht aus. Was wir können, ist Geschichten zu erzählen. Das Futter für diese Geschichten nehmen wir gerne aus aktuellen Erkenntnissen. Das verweben wir natürlich mit Humor oder mit positiver Stimmung. Wir haben schon den Eindruck, dass Turnton viele Menschen anspricht, weil es die Katastrophen nicht negiert, sondern aufwirft, wie es sich damit umgehen lässt“, so TU.
2026 werden also die Phönix- und Rostock-Projekte weitergeführt. „Weil beide lange stehen bleiben, haben wir die Chance etwas auszuprobieren, daran zu feilen und für zukünftige Aufbauten etwas mitzunehmen. Super, dass wir nun diese Kulissen haben, wo wir endlich einmal immer weiterarbeiten können. Wo wir nicht nach einer Woche, noch immer völlig erschöpft vom Aufbau, wieder abbauen müssen“, bläst eine (mögliche) Weiterentwicklung Luft in ihre Segel. „Dass wir jetzt sofort die nächste große Erweiterung von Turnton machen werden, wird es wahrscheinlich nicht. Jetzt ist aber plötzlich Raum und Zeit da, und Interesse von wissenschaftlichen Partner:innen und Künstler:innen. Man könnte auch integrieren, wie man von 2047 auf das Jetzt im Jahr 2025 blickt. Die Frage, wofür Turnton noch Basis sein kann, ist, glauben wir, ein Schwerpunkt für 2026. Man muss nicht die riesige, nächste ‚Addition‘ machen, sondern das, was da ist, seriös vertiefen“, blickt TU ohne Nebelscheinwerfer ins Morgen. Ein Morgen, das auch 2026 das 30. Jubiläum des im Linzer Hafen vor Anker liegenden Kollektivs mit sich bringen wird. Überraschungen nicht auszuschließen.
Time’s Up
Tell Me About It
Theater Phönix
Uraufführung/Premiere: Di, 02. 12.
Danach mehrere Termine im Dez 2025 und Jänner 2026.
timesup.org
www.theater-phoenix.at/stueck/tell-me-about-it
schifffahrtsmuseum-rostock.de/ausstellungen/sonderausstellung-turnton-2047
Redaktionell geführte Veranstaltungstipps der Referentin
(5. Dezember 2025)