Die Referentin #42 - Aktuelle Beiträge

Cottage versus Core

Stefan Schmitzer | Kunst und Kultur, 4. Dezember 2025
Die Referentin #42

Nachtschatten im Frauenhaarmoos: Phytopoetische Dialoge vom Autorinnenduo Sofie Morin und Ulrike Titelbach. Stefan Schmitzer rezensiert das heuer erschienene Buch und fragt: Ist das noch Nature Writing oder schon Romantik? 

Arisaema fargesii
Auch mit dem Feuerkolben Arisaema fargesii wäre sicher ganz trefflich phytopoetisch zu dialogisieren. Bild CC by Matilda Smith

„Nachtschatten im Frauenhaarmoos“ heißt das Buch, und umfasst ungefähr fünfundsiebzig Textseiten mit, laut Untertitel, „phytopoetischen Dialogen“ zwischen einer „Ulrike“ und einer „Sofie“. Wir lesen Folgen von Absätzen in kunstsprachlicher Prosa, jeweils einer der zwei Sprecherinnen zugeordnet, in einer Art von Figurenrede, bei der wir mutmaßen dürfen, es spielten die beiden Co-Autorinnen des Buches, Ulrike Titelbach und Sofie Morin, ungefähr eh sich selbst, aber: sie spielen. Es liegt Inszenierung vor, nämlich die einer Art Gespräch, das sich, auf der Grundlage dezidiert künstlicher formaler und thematischer Regeln, das Gepräge von Natürlichkeit, Wüch­sigkeit verleiht. Diese Regeln lauten ungefähr: Ulrike und Sofie sprechen/schreiben je über eine konkrete Pflanzenart, meist unscheinbare und für Laien im agrarfernen einundzwanzigsten Jahrhundert unidentifizierbare Kräuter, wie sie auf heimischen Garten- und Flurböden gedeihen; dabei spre­chen die beiden Personen einander schon auch an, aber ihr Personsein, ihre motivierte Zwiesprache wird absichtsvoll in den Hintergrund gerückt, und das je betrachtete Grünzeug nebst den Assoziationen dazu steht im Fokus.

Zweierlei geschieht nun beim Lesen: erstens lernen wir allerhand über die gegenständlichen Kräuter – ihre Geschichte in der (Volks-)Medizin, in Mythen, Darstellungen … –, und zweitens bekommen wir das voyeuristische Gefühl, wir würden (ungefähr) zwei Gärtnerinnen beim nachdrücklichen Flirten miteinander über den Gartenzaun hin beobachten. Da wird dann zwar durch die sprichwörtliche Blume gesprochen, aber es geht ziemlich an’s Eingemachte: der Umstand, dass Blumen und ihre Blüten allerhand Lippen und Zungen haben, und Härchen, und dass sie sich biegen lassen, dass sich gegebenenfalls Säfte in ihnen verbergen oder gar austreten, wird hier poetisch produktiv. Dazu kommen noch die Vorstellungen, die wir uns in wört­licher und metaphorischer Weise machen können, wenn die Pflänzchen als Gegenstand dieser oder jener menschlichen Weiterverarbeitung geschildert werden, verwan­delt in (Hexen-) Küchen … Also: Die Lesart, derzufolge die Figuren Sofie und Ulrike einander da nicht bloß über Blütenstände und -zungen, und über vergessene ikonografische Gehalte z. B. einer Alaune, Kalla, Goldrute poetisch korrespondieren, sondern nach der die eine Gärtnerin vielmehr vom Zugriff auf den Körper der anderen phantasiert und sie das wissen lässt – sie bleibt, da sie nie ganz greifbar bestätigt wird, ein ungreifbar und frei im Texthintergrund wirksames Atmosphärenphänomen. Eben ein Flirt – ein Spiel mit stets prinzipiell verleugenbarer Doppelzüngigkeit, ein Reden über Gefühle, das sich als Reden über Sachen verkleidet. (Alternativ dazu bleibt freilich denkbar, es sei der Rezensent der einzige, der das so liest, und mithin ein Schelm. Wie, mit Freud gesagt, manches Mal eine Zigarre eben eine Zigarre ist, so sei auch der Feuerkolben, Arisaema franchetianum, auf diesen Seiten nichts weiter als er selbst. Es bleibt an den geneigten Leser*innen, den Fall zu entscheiden.)

Diese phytopoetischen Dialoge, sie vernutzen also entlegenes Pflanzenwissen künstlerisch, und erzählen (wie gesagt, mutmaßlich) von einem Liebeswerben im Cottagecore-Modus. Fragt sich, ist das noch Nature Writing oder schon Romantik? Also: Gehört das noch unmittelbar zu jener literarischen Tendenz der letzten zehn, fünfzehn Jahre, die bei H. D. Thoreaus „Walden“ aus den 1850ern neu ansetzt und um Fragen des adäquaten Sprechens für bzw. über die per definitionem sprachlose Natur kreist, und um Modi von Empathie und ethischem Denken? Oder ist unser Autorinnenduo, im Sinne der Romantik – romanticism –, da den entscheidenden Schritt hinter Thoreau zurückgegangen, und sind ihre Frauenhaarmoos-Gespräche einer Literatur eingeschrieben, in der es um individuelle Sehnsucht geht, um das absichtsvolle, sozusagen kritische Wiederverzaubern der durch Vernunft doch schon erschlossenen Wirklichkeitsaspekte? Das letztere wohl nicht, oder bloß, wenn wir die andere Sorte Romantik – romance – solchen Literaturge­spensterwelten unumwunden mit zuordnen.

Als Vademecum zu den phytopoetischen Dialogen mag ein anderes Buch dienen, das von einer unserer beiden Autorinnen stammt und im gleichen Verlag und Jahr erschienen ist: „augen im hoiz“ von der Welserin Ulrike Titelbach ist eindeutiger als „Nachtschatten …“ ein Lyrikband und steht unter dem Untertitel „kurzgedichte in zwei klangfarben“. Mit „Nachtschatten …“ teilt „augen …“ eine Reihe von Gegenständen, wozu weiter unten mehr – das Alleinstellungsmerkmal des letzteren Buches ist, dass Titelbach angesichts dieser Gegenstän­de die klanglichen und semantischen Unter­schiede zwischen dem Hochdeutschen und dem oberösterreichischen Dialekt inszeniert. Jedes Kurzgedicht – nicht alle sind im strengen Sinn Haikus, aber sie gehorchen doch alle dem gleichen Funktionsprinzip – liegt doppelt vor, in Hochdeutsch und im Dialekt, und mitnichten sind alle Übertragungen ganz deckungsgleich, gerade dann nicht, wenn sie wörtlich übersetzt sind.

Wie die Dialoge mit Morin handelt auch dieses Buch von Gegenständen und Sachverhalten, die einer ungefähr Cottagecore- oder Goblincore-Existenz zugehören mögen – die Katze, die Gottesanbeterin („Fangschrecke“), der Fischteich, das Sitzen am Piano, die feinen Körperwahrnehmungen … Der Begriff Cottagecore fiel schon weiter oben (auf). Er bezeichnet, was die halbwüchsige Tocher des Rezensenten „eine aesthetic“ nennen würde, wobei sie das Wort im deutschen Redefluss englisch ausspräche, um eine auf Social-Media-Platt­formen wie Instagram und Pinterest gewachsene Übereinkunft darüber zu signalisieren, bestimmte ästhetische Marker mit bestimmten Bedeutungen aufzuladen – kon­kret diejenige solche aesthetic, die darauf abzielt, so ein individuell naturverbundenes Gärtner*innenleben, Kleinhäusler*innenleben vom sozialen Sein, von den wirtschaftlichen Vorbedingungen so eines Lebensvollzugs gänzlich zu abstrahieren. Re­ale Arbeitswelten, Arbeitsteilungs- und Klas­senfragen, die solche Gärten, Häuschen und Ökosysteme hervorbringen, sind in der Cot­tagecore-Welt, die sich uns darbietet, wenn wir das Schlagwort in Pinterest eingeben, nicht vorgesehen. Die Gartenhaus-Lebenswelt ist von allen Spuren der (Garten-)Arbeit als Erwerbszwang befreit. (Goblincore, analog dazu, bezeichnet übrigens eine aesthetic, die das Kleine, scheinbar Hässliche, Nutzlose und Kaputte an den Kanten von Natur und Menschenwelt betont – Pilze, Kröten, Kleintier unter Steinen …) Cottagecore bezeichnet damit die Diskussion, die sich zur Einschätzung der beiden Bücher führen ließe (beispielhaft für eine große Anzahl anderer künstlerischer Produkte der Gegenwart), bzw. zu der sie uns produktiverweise einladen: 

Ist das ästhetische Entsozialisieren, der Rückbezug/Rückgriff auf’s Kleine, auf den Eigengarten, auf die individuelle Romanze oder Beziehung, kurz: ist die Entscheidung, vom Inventar der gründlich industrialisierten Welt so zu handeln, als wäre sie das nicht, Produkt der gleichen Kunst- und Denkbewegung wie 1820 ff.? Ungefähr: Stadtflucht? Oder ist, unter den entsprechend geänderten Bedingungen in der sozialen Wirklichkeit, auch diese spezielle Geste der Abwendung von ihr etwas anderes, Neues? – Morin und Titelbach in „Nachtschatten …“, Titelbach allein in „augen …“, und mit den beiden, oft weit weniger reflektiert, die Schar der Goblin-, Fairy-, Cottagecore-Artists auf Pinterest oder Etsy (die „etsy-witches“, wie das politische Kabarett in den USA sie als Wähler*innenblock identifiziert), sie schildern uns ja nun keine andere oder gar heile Welt, in der z. B. landwirtschaftliche Produktion nicht mehr entfremdet wäre. Das unterscheidet sie von den alten Romantikern: wo William Blake durchaus programma­tisch darauf hinaus wollte, „England’s green and pleasant land“ von den „dark satanic mills“ zu befreien – da wählen Titelbach und Morin nur just den Bildausschnitt gerade so und nicht anders, wenn sie von Goldruten, Fangschrecken und dem Postbus reden (der unbedingt in so eine Welt hineinpasst, Fixum österreichischen Landlebens seit der Motorisierung des Landes).

Keine andere oder heile Welt, kein Programm, nur eine Wahl des Bildausschnitts … Nature Writing, welches nicht der Romantik zugehört, aber vielleicht romantisch (im Sinn von verträumt und flirty) ist … Wird da am Ende schon wieder ein Modus utopischen Denkens und Dichtens spürbar, sichtbar? – Dass z. B. die Differenz zwischen den Klangfarben von Dialekt und „Hochsprache“ sinnlich, vor­schein­lich unmittelbar kontempliert werden kann in diesen Gärten, und dass die nicht sofort auch die Dimension von Klassenunterschieden zwischen den Spreche­r*in­nen öffnet, von Sprach- als Erfahrungs- und also als Machthorizonten … Oder dass das Schlangenkraut, da es doch auf jeder Halde wachsen kann, Halbschatten und hinreichend Wasser vorausgesetzt, uns alle gleich viel bzw. gleich wenig angeht, dass wir mithin zumindest die Peripherie unserer Lebenswelten noch gemeinsam haben können (… dass es prinzipiell möglich wä­re, einander voraussetzungslos zu begegnen …). Der Modus stammt nicht zuerst von Morin und Titelbach. Er ist mutmaßlich umfassender, Reservoir noch unformulierter Kritik am Gegenwärtigen, aber selten so klar zu spüren wie in diesen zwei Büchern.    

Nachtschatten im Frauenhaarmoos.

Sofie Morin, Ulrike Titelbach: Nachtschatten im Frauenhaarmoos. Phytopoetische Dialoge. 
Wien: edition melos 2025. 96 Seiten, Hardcover, € 28,00. ISBN 9783950575804

augen im hoiz.

Ulrike Titelbach: augen im hoiz. kurzgedichte in zwei klangfarben. Wien: edition melos 2025. 
108 Seiten, Hardcover, € 28,00. ISBN 9783950575828

Stefan Schmitzer
*1979, lebt als Autor und Kritiker in Graz und ist Mitherausgeber von „perspektive – hefte für zeitgenössische literatur“ … Zuletzt erschienen: „loop garou. invokationen“ (Klagenfurt: Ritter 2024)
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