Sich mit der Realität auseinandersetzen
Die Referentin #42
Die Referentin bringt seit längerer Zeit eine Reihe über den Anarchismus als erste soziale Bewegung und als Ausdruck vergangener wie aktueller kämpferischer emanzipatorischer Entwicklungen. Über das Konzept der sozialen Ökologie nach Murray Bookchin schreibt in dieser Ausgabe Andreas Gautsch.
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Zum Beispiel Suburbia: Die soziale Ökologie und die ökologischen Verwerfungen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Bild CC David Shankbone
Ökologische Probleme sind auf tiefsitzende soziale Probleme zurückzuführen. Das ist in etwa die Grundbedeutung der sozialen Ökologie, in einem Verständnis nach dem libertären Theoretiker und Autor Murray Bookchin. Das Gute daran ist, wenn Menschen die Probleme verursacht haben, können sie diese auch wieder lösen. „Wirtschaftliche, ethnische, kulturelle und geschlechtsspezifische Konflikte, neben vielen anderen, liegen im Kern der schwerwiegendsten ökologischen Verwerfungen, mit denen wir heute konfrontiert sind.“ So Bookchin im Essay „Was ist soziale Ökologie“, der 1971 in seinem Sammelband „Post-Scarcity Anarchism“, also Anarchismus nach der Knappheit, erschienen ist. Wer Bookchin war und was es mit der sozialen Ökologie auf sich hat, soll im Folgenden dargelegt werden.
Vom Kommunisten zum Anarchisten
Bookchin wuchs im New York der 1920er Jahre auf, seine Eltern war jüdische Emigranten aus Russland. Bereits als Jugendlicher schloss er sich der kommunistischen Bewegung an, seine Kritik an Stalin führte ihn in den späten 1930er Jahren in die Opposition und zur trotzkistischen Socialist Workers Party (SWP). Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich zunächst in einer Gießerei, später in der Automobilfabrik, er engagierte sich gewerkschaftlich und veröffentlichte erste Beiträge in der dissidenten linken Zeitschrift Contemporary Issues – A Magazine for a Democracy of Content.
Bereits in den 1950ern begann sich Bookchin mit ökologischen Themen zu beschäftigen, löste sich schließlich vom Marxismus, auch wenn Hegel, Marx und Adorno für ihn bedeutende Theoretiker blieben, wandte sich dem Anarchismus zu und versuchte diesen zu aktualisieren. In einem Aufsatz, den er 1970 in der New Yorker Times Change Press veröffentlichte, formulierte er als grundlegendes Prinzip des Anarchismus „eine staatenlose, dezentralisierte Gesellschaft, die auf der kommunalen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel gegründet ist“. Als historische Beispiele führte er u. a. Thomas Müntzer und die Bauernkriege in Deutschland an oder Proudhons Anarchismus, der in Zeiten der industriellen Revolution die Bedürfnisse der Handwerker in den Blick nimmt. Der Anarchismus ist für Bookchin ein „Körper unvergänglicher Ideale“, jedoch müsse er im Kontext der gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit interpretiert und weiterentwickelt werden. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran und arbeitete ein komplexes theoretisches System aus, das auf einem kommunalen Anarchismus sowie der sozialen Ökologie basiert. Er bereicherte die aufkommende Ökobewegung mit anarchistischen Ideen.
Blinde Flecken der Ökologiebewegung
Früh entwickelte er sich auch zu einem ihrer Kritiker. In einem offenen Brief, den er 1974 schrieb, kritisierte er die Ökobewegung für ihre Blindheit gegenüber den Klassenverhältnissen. Diese spreche meist sehr pauschal und verallgemeinernd, dass „wir“ zu viel Rohstoffe, Energie usw. verbrauchen. Undifferenziert, so Bookchin, wird so der Boss, der von seinem Chauffeur ins Büro kutschiert werde, mit dem Arbeiter oder der Arbeiterin, die mit dem Auto in die Fabrik fährt, auf eine Stufe gestellt. Heute wird eine ähnliche Argumentation angewendet, wenn alle angehalten werden, ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren oder davon gesprochen wird, dass jede und jeder etwas zum Klimaschutz beitragen könne. Weniger Beachtung erfährt die Tatsache, dass mit dem Vermögen auch der Energie und somit der CO2-Verbrauch steigt. Die Onlineplattform Statista errechnete 2022, dass die „reichsten zehn Prozent der Menschheit für rund 47 Prozent aller Kohlenstoffdioxid-Emissionen verantwortlich“ sind. Bookchin plädierte jedoch bereits damals dafür, die gesellschaftlichen Faktoren der Umweltzerstörung als Ausgangspunkt der Kritik zu nehmen. Damit gemeint ist „eine irrationale, profitorientierte Wirtschaft, die auf dem Prinzip der Produktion um der Produktion willen basiert, auf einem Marktzusammenhang, der echte Gemeinschaft zu einem atomisierten Dschungel des Wettbewerbs zwischen „Käufern“ und „Verkäufern“ fragmentiert, zu einer „Gesellschaft“, deren Lebensgesetz „Wachse oder stirb“ heißt, zu einer „Gesellschaft“, die in der Natur nichts anderes erkennt als eine Ansammlung lebloser Objekte oder „natürlicher Ressourcen, die es uneingeschränkt auszubeuten und zu verschlingen gilt.“ Fünfzig Jahre nach Bookchins offenem Brief könnte dieser eins zu eins abgetippt und wiederum abgeschickt werden. Nach Karl Marx wiederholt sich die Geschichte zwei Mal, einmal als Tragödie und das zweite Mal als Farce. Jedoch scheint es eine Dauerschleife zu sein, in der wir uns befinden, nur weiß niemand genau, ist es noch Farce oder bereits wieder Tragödie.
Die erste und zweite Natur
Ein zentraler Begriff, wenn es um Ökologie geht, ist jener der Natur. Im bereits erwähnten Essay „Was ist soziale Ökologie“ erklärt Bookchin sein Verständnis von Natur aus der Perspektive der Evolutionsgeschichte. Alles Leben ist Teil dieses Prozesses und so natürlich auch der Mensch. Die Natur ist nicht seine Kulisse, der Mensch ist auch kein Exot von einem anderen Planeten oder eine phylogenetische Missbildung. „Der Mensch bleibt stets in seiner biologischen Evolutionsgeschichte verwurzelt, die wir als ‚erste Natur‘ bezeichnen können, aber er entwickelt eine charakteristische menschliche soziale Natur, die wir als ‚zweite Natur‘ bezeichnen können. Und weit davon entfernt, ‚unnatürlich‘ zu sein, ist die zweite Natur des Menschen in hohem Maße eine Schöpfung der ersten Natur der organischen Evolution.“
Beide Naturen unterliegen also dem evolutionären Prozess. Und als ein Wesen, das zu Intelligenz fähig ist, hat der Mensch mit Hilfe der Sprache bzw. durch seine Kommunikationsfähigkeit und sein Verständnis von Werkzeug und Technik, durch Fähigkeiten, komplexe soziale Beziehungen einzugehen und institutionelle Organisationen zu erschaffen, sowie in einer relativen Freiheit von instinktivem Verhalten seine Lebensumgebung geformt. Die Frage ist nur, was ging im Verlauf der menschlichen Evolution schief? Warum entwickelte sich diese soziale Natur so, wie wir sie heute erleben? Um diese Frage zu beantworten, untersuchte Bookchin die Entstehung von Privilegien und Hierarchien. Beide sind keine anthropologischen Konstanten, sondern sie haben eine Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte. Ursprünglich lebten Menschen in komplementären Beziehungen zueinander – es gab Unterschiede in der Verwandtschaft oder Zugehörigkeit, im Alter und Geschlecht, jedoch resultierten daraus noch keine Wertigkeiten oder Dominanzverhältnisse. Diese bildeten sich nach Bookchin erst heraus. Als erste Form der sozialen Hierarchisierung identifizierte er die Gerontokratie, die Herrschaft der Ältesten. In einem langsamen Prozess begannen sich später patriarchale Werte, Institutionen und Verhaltensweisen durchzusetzen. Um den gesellschaftlichen Wandel und die Entstehung von Hierarchien zu verstehen, beschäftigte sich Bookchin mit der zeitgenössischen anthropologischen und historischen Forschung, aber auch mit der marxistischen Lehre. In seinem Opus Magnum „Die Ökologie der Freiheit“ schreibt Bookchin:
„Ich frage nicht, ob die Idee von der Beherrschung der Natur Ursprung der Herrschaft des Menschen über den Menschen war, sondern ob die Herrschaft des Menschen über den Menschen die Vorstellung von der Herrschaft des Menschen über die Natur hervorbrachte. Kurzum, waren es nicht die Techniken, sondern die Kultur, nicht Arbeit, sondern Bewusstsein, nicht Klasse, sondern Hierarchien, die bestimmte soziale Möglichkeiten eröffneten und andere verschlossen, welche die gegenwärtige Lage des Menschen mit der schwindenden Aussicht auf ein Überleben des Menschen dramatisch hätten ändern können?“
Eine andere Politik, eine andere Spiritualität
Die Frage nach der Veränderung ist heute dringender denn je. Bookchins Konzept eines libertären Kommunalismus, Peter Haumer und ich haben im Sommer 2022 in der Referentin 28 darüber geschrieben, wird in anarchistischen und linken Kreisen vielfach diskutiert. Vor allem nachdem Abdullah Öcalan bei der Neugestaltung der PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und deren politischen Neuausrichtung Bookchins Ideen einfließen ließ. Dezentrale, basisdemokratische und nicht hierarchische Strukturen sind wichtige Stichworte dazu. Heute wie auch damals in den 1970er-Jahren gibt und gab es aber auch noch andere Arten, der ökologischen Krise zu begegnen. Sie sind schwer in klassische Begriffe der Politik zu fassen. Bookchin nahm darauf Bezug. Gemeint sind jene Menschen oder Gruppen, die in der Natur oder durch die Natur eine neue Form der Spiritualität suchen und oft auch finden. Wahlweise entdecken sie in oder über ihr die eine oder andere Gottheit. Gern wird hier, wie auch in der sozialen Ökologie, von einem anderen Verhältnis zur Natur gesprochen, eines, das nicht auf Unterwerfung und Ausbeutung beruht. Jedoch mit dem Unterschied, dass hier der Fokus auf geistige Verbindungen oder Erfahrungen beruht, die mit einer erhofften Selbsterkenntnis oder gar der Selbsterneuerung einhergeht. Die soziale Ökologie ist für Bookchin ebenfalls spirituell, jedoch weder übernatürlich oder pantheistisch, sondern im naturalistischen Sinn. „Jede Form von Spiritualität über die sozialen Faktoren zu stellen, die tatsächlich alle Formen von Spiritualität untergraben, wirft ernsthafte Fragen hinsichtlich der Fähigkeit einer Person auf, sich mit der Realität auseinanderzusetzen.“ In dieser Strenge gilt dies auch für heute. Die ökologische und klimatische Krise bedarf des kollektives Handelns, denn es geht um die Gestaltung unserer sozialen Beziehungen zwischen uns Menschen und darüber hinaus – und bestenfalls sind diese frei von Hierarchien und Herrschaft.
Die Anarchismus-Textreihe in der Referentin widmet sich dem Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt, zeichnet Porträts über frühe Anarchist*innen und benennt aktuelle Tendenzen im anarchistischen Denken und seiner Praxis. Die Serie ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, die ebenso Themen und Autor*innen der Reihe betreut.
Siehe auch: anarchismusforschung.org.
Alle Texte der Serie auch über die Webseite der Referentin abrufbar.
Redaktionell geführte Veranstaltungstipps der Referentin
(5. Dezember 2025)