Limits & Ends: Ludwig Wittgenstein auf den Fersen
Die Referentin #42
Die Fabrikanten starteten heuer am westirischen Killary-Fjord eine künstlerisch-philosophische Untersuchung über Ludwig Wittgenstein – auch im Bewusstsein unserer postfaktischen Gegenwart. Zum Projekt Limits and Ends und zur Ausstellung, die im September Salzamt gelaufen ist: Eine Nachlese von Richard Wall.

Die „Aservatenkammer“ als Teil des Ausstellungskonzeptes von Die Fabrikanten. Foto Norbert Artner
I Zwischen Philosophie, Kunst, Wissenschaft und dem Schwinden von „Wahrheit“
„Die Fabrikanten unternehmen mit Gästen aus drei europäischen Ländern eine längerfristige künstlerisch-philosophische Untersuchung. Durch erste Ermittlungsergebnisse verwandelt sich der Galerieraum in ein experimentelles und investigatives Denk- und Erfahrungsfeld.“
So lautete der nüchterne Text der Einladung zur Ausstellung „Hot on the heels of Ludwig Wittgenstein/On the limits of language and the ends of facts“ im Salzamt Linz. Ergänzend sei angefügt, dass das Projekt mit den Künstler:innen Miriam De Búrca (Irland), Jan-Egil Finne (Norwegen) und Maria Bussmann (Österreich) auf drei Jahre angelegt ist; zusätzlich waren aus Österreich die Kamerafrau Leah Hochedlinger, Gerald Harringer („Fabrikanten“) und der Autor dieser Zeilen als „Chronist“, Künstler und Schriftsteller beteiligt. Im August dieses Jahres weilten wir in Westirland am Killary Harbour, dem einzigen Fjord Irlands, an dem, in Rosroe, Wittgenstein im Jahre 1948 an seinem Spätwerk arbeitete, das nach seinem Tod unter dem Titel Philosophische Untersuchungen veröffentlich wurde. Im nächsten Jahr wird das „Team“ an den Sognefjord in Norwegen, und 2027 nach Otterthal reisen. Warum diese Orte? – Etwas erhöht über dem Ufer des Sognefjords ließ sich Ludwig Wittgenstein 1914 ein Holzhaus bauen, in das er sich immer wieder zum Arbeiten zurückzog. Im niederösterreichischen Dorf Otterthal lag von 1924 bis 1926 die letzte Dienststelle Wittgensteins als Volksschullehrer.
Obwohl Wittgenstein bereits 1951 starb, gilt er als seiner Zeit voraus. Sein Konzept der „Sprachspiele“, welches besagt, dass die Bedeutung eines Wortes durch dessen Gebrauch und Kontext entsteht, liefert die Blaupause für moderne Sprachverarbeitungen. Sein größerer Forschungszusammenhang bildet insofern bis heute wichtige Basis für technologische Entwicklungen von Computern bis hin zur KI, als dass Wittgenstein mit seiner Arbeit über Logik und Sprache etwa schon zu seinen Lebzeiten mit Mathematikern wie Betrand Russell in Berührung kam, der wiederum mit Alfred North Whitehead die bahnbrechende „Principia Mathematica“ formulierte. Das ist wiederum eine größere, andere Thematik.
II Genius loci
Meine Idee war, die Annäherung an Wittgensteins Spätphilosophie sowie an den Ort, an dem ein Teil von dieser entstand, gemäß seiner Philosophie und asketischen Lebensführung mit einer Anstrengung zu verbinden. Die Widerstände und Schwierigkeiten im Denken und im Gebrauch der Sprache sollten, gleichsam im Sinne einer Metapher, im Gehen einen Ausdruck finden. Wir wanderten von Ost nach West der südlichen Küste des Killary Harbours entlang bis zu der Stelle, wo er sich zum Atlantik hin öffnet und am linken Ufer Rosroe Cottage gestanden hatte. Diese Landschaft im Westen Irlands ist aufgrund des tiefen und 16 Kilometer langen Fjords, flankiert von kahlen Bergen, eine einzigartige Topographie.
Der Weg wurde zur Zeit der Großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts als relief-work angelegt; eine sinnlose Arbeit, da der Weg weder Orte verband noch sonst einen Zweck erfüllte. Wie viele Iren, die zu einem Hungerlohn hier arbeiteten, dabei verreckt sind, ist nicht dokumentiert.
Auf der mittlerweile teils zugewachsenen, teils erodierten, etwa sieben Kilometer langen Wegstecke erlebten wir, was genau meiner Idee entsprach: Gegenwind, dann Regen, von Sturmböen von Westen durch die offene Fjordmündung hereingetragen, ein Regen, der gegen Gesicht und Kleidung klatschte und uns binnen weniger Minuten bis auf die Haut durchnässte. Kaum hatten Sonne und Wind Teile der Kleidung getrocknet, durchnässte uns der nächste Regenschauer von Neuem. Aber auch Phasen mit Sonnenschein, die uns euphorisierten und unsere Kleidung gegen Ende der Wanderung wieder trocknen ließen, sollen nicht verschwiegen werden. Wir schwiegen einzeln gehend, mehr oder weniger versunken und ernsthaft mit Wittgensteins Ernsthaftigkeit befasst, oder versuchten perpetuierend zu zweit oder dritt über Aspekte, die in der Wechselwirkung aus Gehen, Sehen, Hören, Spüren und Denken sich bilden, eine Sprache zu finden.

Steine aus der Eröffnungs-Performance von Jan-Egil Finne (NO). Im Hintergrund Video-Impressionen von Leah Hochedlinger (AT). Foto Norbert Artner
III Die Ausstellung
Die Ausstellung im Salzamt Linz dokumentierte einerseits das Ergebnis des interdisziplinären Arbeitsaufenthalts der genannten Künstler:innen und des Teams um Gerald Harringer, der mich bereits im Herbst 2023 aufgrund meiner Studie Wittgenstein in Irland1 kontaktiert hatte. Dem Projekt stand ich seither beratend zur Seite.
Ein bildmächtiger Kurzfilm von Leah Hochedlinger, der markante Situationen, Ereignisse und Prozesse der Arbeit und der Inspiration in Großbildprojektion zeigte, entführte beim Betreten des Galerieraums in jene Landschaft im Westen Irlands, die Wittgenstein als einen seiner Lieblingsrückzugsorte wählte. Die karge Landschaft übte einen deutlichen Einfluss auf seine Spätphilosophie aus. Wittgenstein sah seine Art des Denkens als einen auf das genaue Schauen bezogenen Prozess der Klärung und des präzisen Nachzeichnens von Gedanken. Die Philosophie, so Wittgenstein in seinem Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen, „zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen. Die philosophischen Bemerkungen (...) sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen (...)”.
Hinter der Videowand wurden die Besucher:innen nach ihrer Lieblingslüge gefragt: „An welcher Lüge würden Sie gerne auf der Suche nach der Wahrheit festhalten?” Für die Antworten standen eine alte Schreibmaschine und Karteikärtchen bereit. Gegenüber konnten auf einer Wand, die an ein „Investigation Board“ erinnerte, Zusammenhänge und Bezüge innerhalb des „Fabrikanten“-Projektes untersucht werden.
Die Teilnehmer:innen des viertägigen Arbeitssymposiums in Connemara am Killary Fjord waren mit ihren Arbeiten im nächsten Raum vertreten. Hauptanteil der Ausstellung waren demnach Videos von Leah Hochedlinger, die komplexen Zeichnungen von Maria Bussmann, die forensischen Untersuchungen, Objekte und Zeichnungen von Miriam de Búrca, meine Objet trouvés und Zeichnungen, sowie Fotos und Skizzen – unterschiedlichste „Beweisstücke”, zum Teil an der Grenze zwischen Fakt und Fake. Ein bewusster Kunstgriff und ein Angebot an die Betrachter:innen, sich selbst ein Bild zu machen – quasi als Ermittler:innen auf der Suche nach der „Wahrheit“ oder nach dem Hintergrund und den Ergebnissen des Projekts.
Ein weiterer Aspekt der Ausstellung thematisierte Begriffe wie „Wahrheit“, abstrakt im Sinne von Aussagen zu einem Sachverhalt oder über eine Wirklichkeit, aber auch in Zusammenhang mit eigenen Erfahrungen, Beobachtungen und Gesprächen am Genius loci. Unumgänglich auch die Frage nach dem Gegenteil von Wahrheit, nach der sogenannten „künstlichen“ Wirklichkeit, nach der Bedeutung von KI für den Verlust von „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“.
All das war von Gerald Harringer und der Künstlerin Ellinor Brandenburg zu einem raumgreifenden, in sich verzahnten Zeichensystem geordnet worden. Der Galerieraum des Atelierhauses Salzamt wurde in ein experimentelles und investigatives Denk- und Erfahrungsfeld verwandelt.
Im letzten Raum der Ausstellung, der in seiner Inszenierung an einen Verhörraum erinnerte, war eine Philosophie-KI (in Kooperation mit RISC Software GmbH Hagenberg) installiert. Der Wittgenstein-Sprachbot basiert auf GPT-4o und kombiniert die Leistungsfähigkeit eines modernen Sprachmodells mit den Veröffentlichungen Ludwig Wittgensteins. Dadurch kann er nicht nur auf sein integriertes Sprachwissen zurückgreifen, sondern auch Antworten geben, die unmittelbar an Wittgensteins Werke anknüpfen.
Über ein Mikrofon konnten Besucher:innen Fragen zu nahezu allen Aspekten der Philosophie Wittgensteins stellen. Die von Algorithmen der Maschine generierte, mehr oder weniger komplexe Antwort wurde Sekunden später „ausgespuckt“ (in Wittgensteins Blauem Buch ist übrigens belegt, dass er in seinen Vorlesungen im Jahre 1933/34 den Studierenden Fragen stellte wie „Können Maschinen denken?“).
Welches Gewicht man diesen mit sonorer Stimme gegebenen Antworten gab, war jedem und jeder Besucher:in selbst überlassen. Auch in einem Verhör gibt es ja keine Garantie für Wahrheit.
Eröffnet wurde die Ausstellung mit der Performance „Investigation of Silent“ von Jan- Egil Finne. Er inszenierte diese mit kleinen „Wittgen-Steins“, die er im Verlaufe der Wanderung nach Rosroe gesammelt hatte und mit KI-iesel vom Donauufer vor der großen Leinwand. Stück um Stück heftete er sich in hockender Position und einer bedächtigen wie magischen Handlung an die Haut seines Gesichts und auf den Oberkörper und wurde so zu einem Teil der Film-Landschaft im Hintergrund.
Danach gab es von Gerhart Stadlbauer die „Food-Kreation“ Porridge „Poor & Rich“ sowie das Risotto „Philogrün“ in Anspielung auf folgendes Ereignis: Als 1934 Wittgenstein in Begleitung von Francis Skinner auf Einladung seines Schülers Maurice O’Connor Drury erstmals nach Rosroe reiste, hatte Drury für die Reisenden ein kleines Festmahl vorbereitet: Brathuhn, Nierenpastete und einen Pudding mit Zuckersirup. Nach dem Mahl, das Wittgenstein schweigend zu sich genommen hatte, sagte er: „Jetzt wollen wir gleich klarstellen, solange wir hier sind, wird nicht in diesem Stil gelebt. Zum Frühstück gibt es Porridge, zum Lunch Gemüse aus dem Garten, und zum Abendessen ein gekochtes Ei.“ Anstelle der gekochten Eier wurde augenzwinkernd Eierlikör gereicht.
Der Finissage-Abend wurde mit der Gesangsperformance „Unearthing Skies“ von Andrea Gunnlaugsdottier, Claudia Lomoschitz und Crystal Wall eröffnet, anschließend las ich aus meinem Grünen Buch Notizen, die während der Projekttage entstanden sind, u. a. dieses Gedicht:
Let’s walk the day deliberately / that it’s changing melodies / might get us all into words, / pure words of power and resistance / which might withstand any lie. // But since ChatGPT I don’t believe / in words any more, only in poetry.
Anmerkungen:
1 Ritter Verlag 1999; Wittgenstein in Ireland, Reaktion Books, London 2000
Die Ausstellung Limits and Ends ist von 15.–30. September 2025 in Linz im Salzamt gelaufen.
blog.salzamt-linz.at/2025/09/09/limits-ends
Nächste Stationen des Fabrikanten-Projektes über Ludwig Wittgenstein: 2026 Sognefjord (NO), 2027 Otterthal (A).
Der Linzer Kulturverein Die Fabrikanten arbeitet in den Bereichen Medien- und Interventionskunst sowie im Bereich Live Art. Oft wird das Publikum in die interaktiven Projekte mit einbezogen, die Grenze zwischen Akteuren und Betrachtern aufgebrochen. Die Fabrikanten betätigen sich ferner als Kommunikationsberater.
www.fabrikanten.at
Redaktionell geführte Veranstaltungstipps der Referentin
(5. Dezember 2025)