Die Referentin #42 - Aktuelle Beiträge

Die Krise ist fundamental

Ralf Petersen | Kunst und Kultur, 4. Dezember 2025
Die Referentin #42

Im Theater Phönix standen Eugène Ionescos 1959 uraufgeführte Nashörner bis Anfang November am Spielplan. Nun sind sie abgespielt, es bleibt jedoch das zentrale Motiv der Nashornwerdung als Metapher für Totalitarismus als Krankheit, die Menschen in wilde Tiere verwandelt. Ralf Petersen verknüpft eine nachträgliche Stückbesprechung mit der Frage: Was haben Nashörner mit A. I. zu tun? Er hat dazu einige Statements zeitgenössischer Medienkünstler:innen eingesammelt. 

Held Bérenger (Lukas Weiss) darf zusehen,  wie sich alle verwandeln.
Held Bérenger (Lukas Weiss) darf zusehen, wie sich alle verwandeln. Foto Andreas Kurz

Plauderei auf der Caféterrasse: Bérenger (Lukas Weiss), übernächtigt, von Leben und Beruf gelangweilt, unglücklich verliebt, wird von Freund Jean (Jakob Immervoll) wegen seines unsittliches Auftretens – keine Krawatte, dreckige Schu­he – getadelt. In parallel gespielter Unterredung bringt ein Logiker (Martin Brunnemann) einem Gemüsehändler (Sebastian Pass) seine Gedanken nah wie einer, der in seinem Zusammenhangswahn Bestätigung sucht. Der Angesprochene reagiert darauf nur mit nasalen Lauten. Der Logiker, Figur in einem absurden Theaterstück, doziert, unter Benützung löchriger Syllogismen, un­sinniger Gedankenverkettungen und unzulässiger Schlussfolgerungen, von Vernunft, Berechenbarkeiten und dergleichen. Durch­aus möglich, dass der Mann halluziniert. Held Bérenger jedenfalls wird in Abdullah Maria Karacas Inszenierung im Folgenden alleine stehen, während seine Freund*innen sich in gehörnte Biester verwandeln.

1972. Eugène Ionesco eröffnet mit der Rede „Die bedrohte Kultur“ die Salzburger Festspiele. Der rumänische Dichter, düster gesinnt, spricht vom bedauernswerten „Hass, der die Völker gegeneinander aufwiegelt“, wirbt, im gegenwärtigen „Zeitalter des Zorns“, für einen anderen Blick auf den Menschen: „Wir haben vergessen, was Kon­templation sein kann. Wir sind nicht mehr imstande, zu betrachten. Wir müssen wieder lernen, uns zu wundern.“ Ionesco macht eine Pause, als warte er ein vorbeirasendes Wildtier, vielleicht aus einem Zoo entwichen, ab. Oder meint er gar, dass die Festgäste sich vor seinen Augen in eben sol­chen Kreaturen verwandeln?

Im Phönix beschreiben die Spieler*innen das plötzliche Auftauchen eines gleich wieder verschwundenen Nashorns: riesig, mäch­tig, laut schnaufend, vorwärtsstürmend, Warenstände umreißend. Ein Wildtier rast über einen Kirchplatz: Wer hat die­sen Scheiß geprompted, würde die Künstlerin Hito Steyerl, sich mit der Konstruktion von Bildern beschäftigend, wissen wollen. Angesichts von Multiversen un­terschied­li­cher Erfahrungshorizonte, von ver­schie­de­nen Large-Language-Modellen (LLM) erzeugt, stelle sie sich diese Frage „ohnehin jeden Abend“, wie Steyerl dem Spike Art Magazine erzählt. Ihre Vermutung, einmal zusammengefasst: Die Promptpropaganda, „die die Kreativität, die neuen Fähigkeiten und die Empfindungsfähigkeit von Maschi­nen propagiere“, übernehme die Aufgabe, „von den militärischen Implikationen“ algorithmisch agierender Rechenapparate ab­zulenken und damit von Inflation, sozialer Instabilität und zunehmendem Faschismus.

Wie aktuell ist das zentrale Motiv der „Nas­hörner“, die scheinbar freiwillige Nashorn­werdung der Menschen, als Metapher für die menschliche Neigung zu Einheit und Konformität und Beleg gesellschaftlicher Aufgabe von Autonomie im Sog totalitärer Strategien? Heute, da Algorithmen bei der Kriegsführung dazu eingesetzt werden, Sprengstoffmittel entladenden Flugkörpern wie Drohnen wahrscheinliche Aufenthaltsorte von feindlichen Subjekten als Ziele zu übermitteln? Das frag ich Künstlerin und Techlore-Anthropologin Dasha Illina, die in ihrer Arbeit Low-Tech und DIY-Ansätze nutzt, um den Drang zur Integration modernster Technologien ins tägliche Leben zu hinterfragen. Die Menschen, sagt sie, hätten die Maschine eigentlich nur zum Wäschewaschen nutzen wollen, nun erstellen sie Kunst – immer unter dem Vorwand, A. I. sei „just a tool“. Künstler*innen, Geistesarbeiter*innen und Studierende hätten sich zu Rädern im Getriebe der Maschine, welche ihre Berufe zu automatisieren sucht, entwickelt; sind zum Futter geworden für die sonderbaren Bandschleifen am äußersten Rand des Limit-Modernismus, die der A. I.-Markt, „which is a bubble, thats gonna burst“, darstellt. Das Absurde sei längst normal, Abstruses banal. Reibung und Konflikte ließen sich durch Berechnungen verhindern, zwischenmenschliche Spannun­gen eliminieren. Auf diese Weise, meint Dasha Illina, „every interaction becomes purely transactional“. „Die Krise“, wusste schon Ionesco, „ist fundamental“.

Bérenger schreckt auf: der zweite Nashornauftritt fordert ein erstes Opfer: die Katze einer Hausfrau (Johanna Egger). Die Bevölkerung wird unruhig, berauscht von der neuartigen Seh- und Erlebniserfahrung: Überstimulierung, Informationsüberladung, Entropie. Wer bringt hier bitte Ordnung rein – heilige, möglichst? Am nächsten Tag, im nächsten Akt, im Büro, sind die Nashörner das heißdiskutierte Thema. Stimmts, was in der Zeitung steht? Mitarbeiter Botard (Pass) leugnet das Ereignis, meint, die Meldung sei ungenau, überlasse zu viel der Fantasie, der Vervollständigung durch die Leser*in. Botard versucht, die Realität der anderen zu vergiften. Dudard (Pele) und Daisy (Egger) wollen ihn vom Gegenteil überzeugen. Davon, dass es stimmt, was in der Zeitung steht. Auch Bérengers Augenzeugenbericht ändert nichts an der Meinung des Nashornleugners. Chef Papillon muss den Streit abbrechen, seine Angestellten zur Ordnung rufen: „Schluss mit dem Geschnatter“, mahnt er, „Die Arbeit ist da und die Arbeit muss gemacht werden.“ 

Wehret den Anfängen geht anders, und auch in Folge: Madame Boeuf (Immervoll), außer Atem, beinahe zusammenklappend, platzt ins Büro, angebend, ein Nashorn habe sie verfolgt, unten renne es gegen das Haus. Die Mitarbeiter*innen beobachten das Nashorn aus dem Fenster. „Schaut, wie es im Kreis läuft“, sagt Daisy, „als ob es leiden würde. Was will es nur?“ Frau 
Boeuf, das Wesen unten näher betrachtend, erkennt, dass es sich um ihren Mann handelt, der sich da in Staub und Schlamm wälzt. Nach kurzer Ohnmacht springt sie runter auf des Gatten harten Rücken, schmiegt sich an den gewaltigen Körper.

Spätestens jetzt hat sich der Abend zur Wunderbildmaschine verwandelt. Bérenger besucht den kränkelnden Freund Jean, dessen Zustand sich rapide verschlechtert: er bekommt Beulen, seine Haut wird grün: Jean verwandelt sich in ein Nashorn. Er fühlt sich gut; verkündet, dass er die Schwä­che der Menschen verabscheue und das Recht der Natur über jede Moral stelle. Bérenger muss fliehen. Doch wohin? Überall verwandeln sich die Menschen, „sind in solcher Eile, weil es keine Alternative zu geben scheint“ (Hito Steyerl), zum Nashornwerden. Nur Bérenger steht still, will Widerstand leisten: „Ich muss sie alle überzeugen“, sagt er, „aber wovon?“, weiß er nicht. Da ist die Unvernunft wie der Algorithmus: auf sie und ihn „kann man keinen Molotowcocktail werfen“, meint Medienkünstler Davide Bevilacqua, nach Handlungsmöglichkeiten als Reaktion auf Unvernunft befragt. Könnte ein Held, der Zusammenhänge durchschaut, den anderen Figuren nicht einfach sagen, dass sie sich dumm verhalten? „So einfach ist es nicht“, sagt Davide. Maschinelles Generieren auf Overdrive habe uns abgestumpft, als wäre uns alles „ein bisschen mehr egal“ geworden, auch die allgemeine Fehleranfälligkeit, welche Mensch und Maschine im Grunde verbinde. Wie sich querstellen? „Man sollte nicht mehr“, sagt Davide trotz oder gerade wegen unendlich vieler geführter Diskussionen, „mit Freund*innen über A. I. reden“, sie nicht mehr darauf hinweisen, dass sie zu Nashörnern werden.

Bérenger und Daisy, die letzten Menschen: Sicherheit und Frieden in der Isolation der Wohnung. Gitarrespiel und Gesang. Ob es wirklich richtig ist, kein Nashorn zu werden? Sind sie nicht sehr schön, die Wesen da draußen, wie sie im Kreis laufen? Was verschleiern sie durch ihr schnelles Voranschreiten? Das Venturekapital der A. I.-Blase, das technokapitale Hyperobjekt am Ende aller Tage, den General Manager (vielleicht Nvidia-CEO Jen-Hsun Huang), die Börse? Algorithmen, die Ziele auswählen („Hier schießen!“)? Das ist etwa das Geschäftsmodell von Palantir, ein US-amerikanischer Konzern, der Überwachungs- und Kriegstechnologie in alle Welt liefert, dessen CEO zum Think Tank der aktuellen US-Regierung gehört: Regierungen mit Tools zur Entmenschlichung zu beliefern, die Welt in Daten zu verwandeln. Was die Frage der Daten im Kunstbetrieb anbelangt: „Solang alles funktioniert“, sagt Davide, „nutzen wir die Konsequenzen der Maschinenrechnung“. Und um auf Daten und Krieg zurückzukommen: „Algorithmen für maschinelles Lernen“, so Hito Steyerl, „eignen sich besonders gut für die Kriegsführung, da sie aufgrund ihrer sehr hohen Anzahl an Variablen, die für das menschliche Auge meist unsichtbar sind, nur sehr schwer zu täuschen oder zu umgehen sind.“ So werde beispielsweise die Ukraine zum „Kriegslabor von Palantir – oder zu seinem Studio“.

Dasha zeigt mir den Vortrag „The Humans Powering the Age of AI“ von Software-Entwicklerin Kate Smith. Die frühere Opernsängerin erzählt, wie Programmierer*innen einst im Forum ihre Fragen stellten und Antworten von anderen User*innen bekamen. „The website used to be a helpful resource“, sagt Dasha. Heute übernehmen Chatbots diese Aufgabe – sie wissen mehr und vergessen nichts, antworten unmittelbar. „I know you like using A. I. and do it a lot“, richtet sich Smith ans Publikum, appelliert: „I have one wish: use A. I. a bit less, talk to people a little more.“ Vielleicht werden solche Wortbeiträge einmal zu Zeugnisse für Historiker*innen, die fragen werden: Was dachten die Menschen, als die Machtübernahme der Algorithmen begann? Wie gingen sie mit der Gefahr ihrer eigenen Zombifizierung um, d. h. damit, durch Werkzeuge des statistischen Kon­formismus überflüssig oder untot gemacht zu werden? Denn die Technologiekonzerne wollen, frei nach Ionescos Salzburger Festspielrede, nicht den Menschen helfen, „nicht Gerechtigkeit verteidigen und Hunger und Durst stillen“, sondern „Herrschaft über die Welt oder Blutbad“. 

Ja, so schauts aus, das Schicksal des absurden Menschen, hier abschließend einmal definiert von Schriftsteller Albert Camus – kein Zeitgenosse von aktuellem A. I.-Theater, aber Kollege Ionescos und wie er Verfechter des absurden Dramas: „Das Ideal des absurden Menschen“, erklärt er, sei „das Gegenwärtige und die Abfolge von Gegenwärtigkeiten vor einer unaufhörlich bewussten Seele“. Diese bewusste Seele, der absurde Mensch: ist eine Figur auf einer Bühne, ist eine Schauspielerin, ein Zeitungsleser, eine bildende Künstlerin. Zeit, sich zu erinnern, dass wir, die Denkend-Empfindenden, es sind, die wirklich und immerfort Etwas machen – nicht wie die Maschinen nur Bestehendes wiederholen. Die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspektiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen: liegt in deiner Hand.    

 

Das Theater Phönix ist eine der wichtigsten freien Bühnen Österreichs. Die Nashörner sind bis November 2025 gelaufen. Im Dezember 2025 und Januar 2026 könnt ihr dort u. a. Ödön von Horváths Stück Kasimir und Karoline schauen.
theater-phoenix.at

Dasha Illina ist eine technologie-kritische Künstlerin, ansässig in Paris.
dashailina.com

Davide Bevilacqua ist Medienkünstler, Kurator mit Schwerpunkt Netzwerk-Infrastrukturen und technologischem Aktivismus und Leiter der Netzkultur­initiative servus.at. 
davidebevilacqua.com

Ralf Petersen
schreibt für die Referentin über Kunst, Kultur, Mythen und Träume.
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