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Mystik und Freiheit

By   /  5. Dezember 2024  /  No Comments

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Die Anarchismus-Reihe: Die Referentin bringt seit längerer Zeit eine Serie über den Anarchismus als frühe soziale Bewegung und als Ausdruck kämpfe­rischer emanzipatorischer Entwicklungen. Andreas Gautsch spannt diesmal den Bogen zur Mystik als frühe anarcho-kommunistische Bewegung. Für die zerstörten und zer­quetschten Seelen: Über die Mystik im Anarchismus und umgekehrt.

1936, im Spanischen Bürgerkrieg, Simone Weil: Von der Anarchistin zur Mystikerin. Foto Gemeinfrei

Welche merkwürdige Verbindung mag es zwischen einer politischen Bewegung und Theorie wie dem Anarchismus geben, die sich aus der Tradition der Aufklärung und des Rationalismus speiste, und einer re­ligiösen Praxis, die auf einer tiefen und erschütternden Gotteserfahrung beruht? Es gibt sie. Beispielsweise besteht sie in der Person Simone Weil. In ihrer ersten Lebens­phase agierte sie im Kreis der anarchistischen Bewegung, übte sich in der Kritik der revolutionären Gewalt und kämpfte selbst mit der Waffe im Spanischen Bürgerkrieg. Später wur­de sie zur christlichen Mystikerin, ohne der katholischen Kirche beizutreten. Sie floh vor den Nazis, ging ins Exil und starb dort ausgezehrt und gezeichnet von der Magersucht. Ihre politischen, philosophischen und mystischen Schriften wer­den bis heute aufgelegt. Aber Weil ist nur eine der Verbindungen.

Was ist eigentlich Mystik?

Für die evangelische Theologin Dorothee Sölle geht es bei der Mystik um eine Weltbeziehung, die zwischen Rückzug und revolutionärer Veränderung changiert. Was Mystiker:innen prägt, ist eine Erfahrung, die aus einer Begegnung mit Gott oder einer göttlichen Wirklichkeit resultiert. Simone Weil beschrieb es als eine plötzliche Ver­bun­­denheit und Gewissheit. „Da empfand ich ganz plötzlich die Gewißheit, dass das Chris­tentum schlechthin die Religion der Sklaven ist, dass Sklaven gar nicht anders können, als ihr anzugehören, und ich mit ihnen.“ Für Sölle ist die Mystik eine Absage an die herrschenden Werte. „Denn wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, hat schon in ihre Selbstzerstörung eingewilligt und so die Gottesliebe mit ihrem Ungenügen am Gegebenen verraten.“ Diese durchaus radikale Auffassung hat wenig gemein mit einer individuellen Weltabgewandtheit oder einem esoterischen Erlösungsversprechen, das durch eine wie auch immer ausgeartete Form ei­ner reinen Vergeistigung eingelöst werden könnte. Mystische Erfahrungen sind keinesfalls nur Auserwählten vorbehalten, son­dern können nach Sölle al­len zukommen. Mehr noch, die allermeis­ten Menschen haben in ihrem Leben bereits mystische Erfahrungen gemacht. Das können intensive Naturerfahrungen sein, aber sie können auch ganz alltäglichen Ereignissen entspringen. Weil berichtet, dass sie ihre dritte mystische Erfahrung nach der Rezitation von Georg Herberts Gedicht „Love“ hatte.
Anders als der Glaube, der sich an kirchlichen Lehrsätzen orientiert, baut die Mystik auf genau dieses existenzielle Erlebnis, das ein Individuum dazu veranlasst, im Sinne Gottes die Welt zu verändern. Dass dies von der Kirche nicht gern gesehen wurde, zeigt sich in der Geschichte.

Die Bewegung des freien Geistes

Das im Titel angeführte Zitat geht auf Paulus zurück und lautet in voller Länge: „Denn der Herr ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ Nach dem Philosophen Simon Critchley, von dem 2012 der schmale Band „Mystischer Anarchismus“ erschien, war dies ein Schlüsselsatz, den die sogenannten Ketzer:innen, wie jene des freien Geistes, in einem revolutionären Sinne auslegten. „Wenn der Geist des Herrn im Ich ist, dann ist die Seele frei und braucht die Kirche als Vermittler zu Gott nicht. Wenn der Geist des Herrn im Ich ist, dann gibt es im Wesentlichen keinen Unter­schied zwischen Seele und Gott.“ Die unio mystica, in der sich das transformierte Ich-Ego mit Gott vereinigt. Diese mystische Form der Auslegung hatte Sprengkraft und wurde sogleich zur Häresie erklärt. Wir befinden uns im Hoch­mittelalter. Eine Zeit der sozialen und ökonomischen Veränderung, der Seuchen und Kriege und des Aufstiegs der Städte. Die soziale Ungerechtigkeit nahm zu und wur­de lauthals beklagt. Auch das Gebaren der Kirche und ihrer Vertreter wur­de kritisiert. Die Bewegung des freien Geistes lehnte nicht nur die Kirche ab, sondern hinterfragte jegliche soziale Ordnung. Der Historiker Norman Cohn beschreibt in erkennbarer Schnappatmung, dass diese Hal­tung „in Promiskuität und eine vielseitig ge­färbte Erotik“ mündete. Er stellt aber auch fest, dass diese Bewegung des freien Geistes Träger einer Soziallehre war, in der „der Zu­­stand der Unschuld unvereinbar mit dem Pri­vateigentum wäre“. Ein anderes Beispiel die­ser frühen anarcho-kommunistischen Be­we­gungen waren die Taboriten in Tschechien, die als radikaler Flügel der Hussiten zu Beginn des 15. Jahrhunderts in der Stadt Tabor wirkten. Diese wollten nicht nur das per­sönliche Eigentum abschaffen, sondern auch gleich jegliche Form von Abgaben, Steuern und die Zinsen. „Alle werden als Brüder miteinander leben, und keiner wird einem anderen untertan sein.“ Die militärische Ver­nichtung dieser Bewegungen durch die Kirche und die weltliche Macht darf jedoch nicht übersehen lassen, dass diese religiösen Gruppierungen nicht selten autoritäre und wahnwitzige Figuren und Vorstellungen hervorbrachten. Die für Critchley zentrale Frage, die sich daran anschließen lässt, ist jene nach dem zugrundeliegenden Menschenbild. Ist es ein mit Erbsünde beladener „böser“ Mensch, der dem anderen ein Wolf ist und zur Zähmung ein Korrektiv be­nötigt, einen (autoritären) Staat oder eine Kir­che? Ist der Menschen jedoch von Natur aus „gut“, wie es ein mystischer Anar­chis­mus ver­treten würde, ist eine „sün­den­lose Vereini­gung mit anderen in Form der Ge­mein­schaft“ eine reale menschliche Möglich­keit und das wä­re ja schon mal ein Anfang.

Landauer und die neue Gemeinschaft

Der Begriff Gemeinschaft ist Stichwort für Gustav Landauer. In seinem philosophischen Hauptwerk „Skepsis und Mystik“ setzt er sich mit der Sprachkritik seines Freundes Fritz Mauthner, für den „der Glaube, die Welt aussprechen zu können, der Glaube an Gott“ ist, auseinander. Landauer nimmt diesen Gedanken auf und verbindet ihn mit einer Gesellschaftskritik, die nicht bei der Skepsis gegenüber der Sprache stehen bleibt, sondern diese transformieren möchte, um eine Einheit zwischen Mensch und Natur wiederherstellen zu können. Statt die Welt nur zu erkennen, wie es die instrumentelle Vernunft vollzieht, statt Naturvereinnahmung und Zerstörung, sollte der Mensch selbst zur Welt werden – durch Rückbesinnung und innere Erneuerung, also eine Form der Mys­tik. Das, was vielen Kommunen oder Sied­lungs­projekten vorgeworfen wird, ihr Eskapismus, ihr Rückzug aus der Welt, war mitunter genau seine Vorstellung. 1901 ver­­öffentlichte Landauer den Aufsatz „Durch Ab­sonderung zur Gemeinschaft“, wo er nicht nur eine ungeheure Distanz zur damaligen Mehrheitsbevölkerung fest­stellte, sondern sich auch für ein anderes Denken und für den Aufbau einer anderen Gesellschaft, Land­auer bezeichnet es als „Innenkolonisation“, ausspricht. „Sein Verständnis einer authentischen Mystik sollte es dem entfremdeten In­dividuum ermöglichen, zu sich und damit zur Gemeinschaft als einem Bund der Vielfältigkeit zu gelangen“, so Sieg­bert Wolf, Herausgeber der Gesamtaus­gabe von Land­auer, in einem Vorwort. Um zu sehen, wie eine solche Gemeinschaft aus­sehen könnte, gehen wir noch einmal ins Mittelalter.

Die Beginen oder wie sollen wir Leben?

Bei den Beginen und Begarden handelte sich um einen Laienorden, wo Frauen (Beginen) in kleinen Konventen oder ganzen Beginen­höfen zusammenlebten. Meist eingegliedert in die soziale und ökonomische Struktur der Städte, widmeten sie sich dem spirituellen Le­ben und verschiedenen Fürsorgetätigkeiten, wie der Armen- und Kran­kenpflege, oder auch weltlicheren Dingen wie der Tuchverarbeitung oder der Braukunst. Es gab aber auch welche, die in Armut lebten, die bettelten, herumzogen und predigten. Als Begine war es den Frauen möglich, ein Leben abseits der Familie – als Tochter, Mutter oder Ehefrau bzw. Witwe – zu führen. Die größte Verbrei­tung hatten sie im heutigen Belgien und Hol­land, in den größeren deut­schen Städten wie Köln, Hamburg oder auch im schweizerischen Bern. Während des Mittelalters wech­selten Phasen kirchlicher Anerkennung mit jenen der Verfolgung. Mehr oder weniger je nach politischer Großwetterlage.
Eine dieser Beginen war die Mystikerin Mar­guerite Porète. Ihre Schrift „Im Spiegel der einfachen Seelen“ war nicht nur Inspirationsquelle für den berühmten Mystiker Meis­ter Eckhart, sondern wurde zum Streitfall innerhalb der katholischen Kirche. Einige Sätze aus dem Werk wurden als häretisch betrachtet, worauf Porète inhaftiert wurde. Im Text unterscheidet sie zwischen kleiner und großer Kirche. Unter der ersten zählte sie die Institutionen und ihre Gesetze, unter der zweiten die Gemeinschaft freier Seelen. Diese und andere Passagen kamen bei der Inquisition nicht gut an. Sie lehnte es jedoch ab, zu widerrufen. Schließlich wurde sie verurteilt und 1310 in Paris verbrannt. Im Buch selbst beschreibt sie einen Weg der Befreiung durch einen Prozess der Selbst-Vergöttlichung. In der letzten Konsequenz oder im letzten Zustand, den eine lebende Person erreichen kann, wird die zerstörte oder zerquetschte Seele von Gottes Liebe gefüllt und so zum Ort seiner unendlichen Selbstreflexion. Gott spiegelt sich in der See­le eines Menschen. Auch hier: Eine Vermitt­lung durch die Kirche oder die Glaubenssätze ist nicht notwendig, denn es gibt eine direkte Verbindung zu Gott. Diese Hin­gabe ist ein Wagnis, denn sie fordert, wie Sölle es formuliert, „ein Nein zur Welt, wie sie jetzt ist“. Dieses Nein speist auch den Anar­chismus. Mit Simon Critchley kann Anarchismus in Anlehnung an Landauer „nur mit einem Akt der inneren Kolonisierung beginnen, mit dem Akt der Liebe, der eine Umgestaltung des Selbst verlangt“. Denn worum geht es im Anarchismus? Um die Frage, „wie man hier und jetzt lebt“.

Literatur:
Critchley, Simon (2012):
Mystischer Anarchismus. Merve Verlag, Berlin
Cohn, Norman (1988):
Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus und Europa, Rowohlt, Hamburg
Jacquier Charles (Hg.) (2006):
Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim
Sölle, Dorothee (1997):
Mystik und Widerstand – „Du stilles Geschrei“. Hoffmann und Campe, Hamburg

Die Anarchismus-Textreihe in der Referentin widmet sich dem Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt, zeichnet Porträts über frühe Anarchistinnen und benennt aktuelle Tendenzen im anarchistischen Denken und seiner Praxis. Die Serie ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, die ebenso Themen und Autorinnen der Reihe betreut.
Siehe auch: anarchismusforschung.org


Alle Texte der Serie auch über die Webseite der Referentin abrufbar.

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Institut für Anarchismus­forschung, siehe auch anarchismusforschung.org

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