Im Herbst wurde das 30-jährige Jubiläum von maiz unter dem Motto „Kollektive Verantwortung – die Welt braucht uns!“ gefeiert. Das Programm des unabhängigen Vereins von und für Migrant*innen bezog sich auf Arbeit, Projekte und Aktionen aus drei Jahrzehnten, an der Schnittstelle von Kultur und Sozialem. Hier ein kollektiv verfasster Text von maiz.
Wir erinnern uns an eine Zukunft, von der wir geträumt haben und für die wir weiterarbeiten
2024 haben wir das 30-jährige Bestehen von maiz mit einem Jubiläumsprogramm in Linz und Wien zelebriert. Das Jubiläumsmotto „Kollektive Verantwortung – die Welt braucht uns!“ war ein Blick in eine gerechtere Zukunft und bezieht sich gleichzeitig auf die Arbeit von maiz und seine zahlreiche Projekte und Aktionen aus drei Jahrzehnten an der Schnittstelle von Kultur und Sozialem, mit dem Ziel der gesellschaftlichen Transformation. Mit dem Programm zum 30-jährigen Jubiläum wollten wir einen Raum für gemeinsame Diskussion und Reflexion über diejenigen Wege schaffen, die unsere Arbeit in Zukunft weiterbringen können.
Außerdem wollten wir unsere Kräfte mit anderen Menschen und (Selbst-)Organisationen bündeln, um Praxis und Theorie zu vereinen und gemeinsam für eine Gesellschaft und kollektive Verantwortung einzustehen.
Das Zelebrieren war als kollektives Moment gedacht, um unsere Fähigkeiten gedeihen zu lassen und als Recht, die Kraft des Lebens zu feiern. Wir feierten trotz der immensen Wertunterschiede, die einigen Leben zugemutet werden (besonders den rassifizierten, queeren, armen und Menschen mit Behinderung), wir feierten trotz der Prekarität der Arbeit, trotz des racial capitalism, trotz der Mittelkürzungen im Kunst-, Kultur- und in den Sozialbereichen, wir feierten trotz der Rahmensetzungen einer neoliberalen Agenda.
„Wir wollen leben! Nicht nur überleben“
Dieser Slogan war ursprünglich Teil eines Textes, den die Teilnehmer*innen während eines Alphabetisierungskurses vom Verein das kollektiv1 geschrieben haben. Der Text war das Ergebnis einer Diskussion über das Thema Gesundheit und darüber, was für ein gutes Leben notwendig ist. So ist der Weg, den kreative Prozesse in unseren Organisationen oft verfolgen: Kunst- und Kulturproduktion wird zu einem Werkzeug für den sozialen Wandel, weil Kreativität nicht von unseren Leben und Realitäten getrennt ist.
Als Ergebnis solchen Austauschs ist der Satz „Wir wollen leben! Nicht nur überleben“ entstanden. Als Demo-Spruch wurde er bei den Demonstrationen am feministischen Kampftag, am 8. März, und am 1. Mai 2024 von den meist rassifizierten Migrant*innen rund um maiz und das kollektiv geschrien. Der Satz kann einerseits als Denunzierung der restriktiven europäischen Migrationspolitik gesehen werden, unter der die ausgrenzenden rassistischen Diskurse der Rechtsextremen an Popularität gewinnen. Andererseits kann er eine Form der Katharsis und des kreativen Widerstands darstellen, einen Ausbruch erschöpfter Körper, die genug haben. Der Satz empört sich über das unerfüllte Versprechen hinsichtlich der Umsetzung der Menschenrechte in Österreich.
„Austria we love you. Wir werden dich nie verlassen“
Dieser schon bekannte Slogan von maiz entstand in den späteren 90er-Jahren aus einer Intervention während der Vergabe des Interkulturpreises Oberösterreich an maiz. Im Rahmen der 30-Jahre-Jubiläumsfeier des WIENWOCHE-Festivals hat maiz dann eine Podiumsdiskussion mit den Kunst- und Kulturarbeiter:innen Vina Yun, Munira Mohamud und Araba Evelyn Johnston-Arthur organisiert, moderiert von Marissa Lôbo. Hier haben sich Migrant:innen, die in Österreich aufgewachsen sind, unter dem neuen, bearbeiteten Motto „Austria we love you. Wir sind immer noch da2 und werden dich nie verlassen“ ausgetauscht, auch wie die Teilnehmer:innen das „hier Bleiben“ in seinen (widerständigen) Bedeutungen sehen, sowie welche Rolle „Österreicherin zu sein“ auf die Entwicklung ihrer Identitäten spielt (oder nicht spielt).
Das Gespräch war auch ein Raum persönlicher und kollektiver Erinnerungen, die die Gäste als Mitwirkende unterschiedlicher Projekte bei maiz hatten, mit dem Ziel, zu einer gemeinsamen Geschichte über maiz beizutragen. Außerdem gab es Austausch dazu, wie Potenziale und Herausforderungen für Selbstorganisationen aussehen, die mit der Realität von prekarisierter Kulturarbeit und Aktivismus konfrontiert sind.
Alle Körper sind gleich viel wert
Im Sinne der transformativen Prozesse, die herrschende Hierarchisierungen zu durchbrechen versuchen, und des Feierns der eigenen Körper, Geschichte und Identität, wurde im Jubiläumsjahr das Jugendprojekt Ungehorsame Formen durchgeführt. Das Projekt setzte sich mit der Verknüpfung von Schönheitsnormen und medialen (Körper)- Darstellungen auseinander, mit Formen von Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung. Es setzte sich als Ziel, selbstbestimmte Darstellungen und eigene Perspektiven jenseits oben genannter Missstände zu stärken. Dabei war der Ungehorsam aller Körper und Menschen gefeiert, die im dominanten konservativen, neoliberalen, patriarchalen Weltbild nicht reinpassen (wollen).
Spezieller Teil des Projekts war ein kreativer Prozess unter der Leitung der* Künstlerin Adrian Blount aka GodXXX Noirphiles, der die kritische Auseinandersetzung mit künstlerischer Produktion verband. Im Rahmen einer Labor-Woche im August hat eine Gruppe junger Migrantinnen gemeinsam mit GodXXX aus alten Stoffen und gesammeltem Müll Kostüme und Kleidungsstücke entworfen, sowie ein künstlerisches Statement in Form einer Performance entwickelt. Die performative Intervention der Jugendlichen behandelte die Verstrickungen der menschenverursachten Umweltkrisen mit der patriarchalen und rassistischen Gewalt und kritisierte die Abwälzung der Folgen zerstörerischer Praktiken auf marginalisierte Menschen. Die Intervention der Jugendlichen war bei der WIENWOCHE sowie bei der Linzer Jubiläumsveranstaltung zu sehen.
Geschichte(n) betrachten, aufarbeiten, neu gestalten
Eine Ausstellung zum 30-Jahre-Jubiläum von maiz wurde auch im Rahmen des WIENWOCHE-Festivals im Volkskundemuseum entwickelt und gestaltet. Dadurch haben wir erkannt, wie reichhaltig und umfangreich das maiz-Archiv ist und wie viel Zeit und Ressourcen es erfordern würde, die Vereinsgeschichte vollständig zu ordnen und zu rekonstruieren (wenn das möglich wäre: Diese Geschichte besteht aus vielen Akteur:innen). Mit begrenzten Mitteln, viel Mühe und Solidarität haben wir eine Auswahl der zahlreichen Projekte, Objekte und Veröffentlichungen geschafft, die sich im Laufe von 30 Jahren mit künstlerischen und sozialen Praktiken befasst haben.
Für die neue Generation an Mitarbeiter:innen war es eine Gelegenheit, Fragen zu stellen und Themen zu beleuchten, wie sich der Verein und die Gesellschaft verändert haben, oder was gleich geblieben ist. Probleme und Herausforderungen, die es im Verein immer noch gibt, sowie politische Diskurse, bei denen schon Beteiligung gelungen ist – oder die wir heute auch anders sehen. Allgemein ging es darum, die phantasmagorischen, kraftvollen Anrufe gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit zu spüren, die in unserem Archiv immer noch zu hören sind.
In Form von Video, Audio, Textil oder Bildern wurde eine Auswahl von Projekten aus verschiedenen maiz-Bereichen ausgestellt. Darunter: Valium Export (2009), Fest des Lachens! Wer lacht(e) wann über wen? (2013), Wissenslabor: Kritische Wissensproduktion zum Thema Werte / Grenzüberschreitende Wander-Werte (2017), Steigende Stimme (2019), Volksgarten: von Ablehnung zum Traumplatz (2020), Schutzmantel gegen Rassismus – Subalternisierte Körper MACHEN SICH SICHTBAR in der Stadt (2022) und Wer putzt das kritische Museum (2023) vom Kulturbereich. Die Jugendprojekte: Das Leben hat Gewicht / Königinnen der Selbstbestimmung (2017) und Pop-up Café Agora / Stimmen aus dem Volksgarten. Über Erfolg und Chancen in der Gesellschaft – junge Migrantinnen am Mikrofon (2021).
Als Teil der Publikationen waren maiz-Jahresberichte (von 2008 bis 2024) ausgestellt, die die Themen, Schwerpunkte und Aktivitäten sowie ein Jahresbild präsentierten. Außerdem waren die ersten sowie die letzte Ausgabe 2024 von Cupiditas, ein Infoblatt für Sexarbeiterinnen und Verbündete, die seit 1999 jährlich von maiz mit in der Sexindustrie tätigen Migrantinnen erstellt wird, ausgestellt.3
Im Rahmen der Ausstellung war weiters die neue Ausgabe von migrazine – online magazine von migrant:innen für alle zu sehen. Das mehrsprachige und kritisch-alternative Medium, das 2009 online ging, repräsentiert kritische migrantische Stimmen in der medialen Öffentlichkeit und tritt gegen die klischeehafte Darstellung von Migrantinnen auf. Für die Ausgabe 2024 mit dem Titel „Feiern: Leben, Freude und Widerstand im Mittelpunkt“ möchten wir einen Beitrag zum maiz-Jahrestag leisten, der auch eine Feier der Migration als untrennbarer Teil der Geschichte und Gegenwart Europas darstellt. Gleichzeitig möchten wir über Strategien gegen alltägliche Unterdrückung reden, und Feiern als Teil des Widerstands anerkennen, wenn die Freude von marginalisierten Menschen als störend und laut empfunden wird, und zwar in Kontexten, in denen nicht erwartet wird, dass sie gedeihen. Es wurden 13 Beiträge von Künstlerinnen, Aktivistinnen und Forscherinnen veröffentlicht, die über Feiern, Kämpfe, Freude, Aktivismus, den Wunsch nach Veränderung und das Bedürfnis nach Ruhe schreiben und sich austauschen. Dazu wurde versucht, Erinnerungen, Bedeutungen und Widerstandsprozessen Nachdruck zu verleihen, während Verlust und Schmerz ebenfalls präsent waren.4
Unser Jubiläumsprogramm 2024 entstand inmitten der gewöhnlichen Ungewissheit über die künftige finanzielle Situation von maiz, und nach der Kürzung unserer Grundfinanzierung von der Stelle der Integration Oberösterreich zu Beginn des Jahres. Unser Programm entstand aber auch inmitten tatsächlicher und diskursiver Kriege in der Welt, die immer mehr zur unaufhaltsamen Belastung der Erde und der Menschenrechte werden. Bei der Entwicklung dieses Programms wurde nach Möglichkeiten gesucht, trotz all dieser Herausforderungen weiterzumachen und zusammenzuhalten. Es ging auch darum, Wege des Lebens, wie Zelebrieren, Kunst und Kollektivität zu erkennen und gedeihen zu lassen, denn sie geben uns Kraft zur Transformation und zur Reflexion unseres Zusammenlebens. Nicht zuletzt war unser Jubiläumsprogramm auch darauf ausgerichtet, nicht nur unsere Geschichte als Organisation, sondern auch jene der Menschen, die für Gerechtigkeit in Österreich kämpfen, zu feiern.
1 maiz und das kollektiv sind Schwesterorganisationen, deren Arbeit im Jahr 1994 mit maiz begann. 2015 wurde der Bildungsbereich von maiz ausgegliedert und der Verein das kollektiv gegründet. das kollektiv ist ein Ort der kritischen Bildungs-, Beratungs- und Kulturarbeit von und für Migrantinnen. Frauen jeglicher Herkunft und mit jeglichem Aufenthaltsstatus können sich dort weiterbilden und dadurch neue gesellschaftliche Handlungsräume erschließen. Wir sind das kollektiv, weil wir uns wie unsere Ursprungsorganisation maiz als Gemeinschaft und als Raum gelebter Frauensolidarität verstehen.
2 Zusatz bei dieser Veranstaltung.
3 Digitalisierte Ausgaben sind unter www.maiz.at/de/publikationen/cupiditas zu finden.
4 Die Ausgabe ist unter migrazine.at zu finden.
Der Text ist kollektiv aus den Mitarbeiter:innen entstanden und stellt auch eine Collage aus früheren und neuen Reflexionen von maiz dar.
maiz ist ein unabhängiger Verein von und für Migrantinnen, der sich seit 30 Jahren dafür einsetzt, die Lebens- und Arbeitssituation von Migrantinnen in Österreich zu verbessern.
maiz arbeitet in sechs Bereichen (Beratung, Bildung, Kultur, Jugend, Sex&Work und Forschung/ Wissensproduktion) mit dem Ziel, die politische und kulturelle Partizipation von Migrantinnen und geflüchteten FLINTA zu fördern sowie eine Veränderung der bestehenden, ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewirken.
Weitere Informationen unter: www.maiz.at