Das Sekretariat für Geister, Archivpolitiken und Lücken (SKGAL), Selma Doborac sowie Elke Auer & Yorgia Karidi stellen noch bis 8. Juni im Kunstraum memphis aus. Die Referentin versammelt hier Auszüge aus den Künstlerinnen-Texten und das kuratorische Statement von Christine Eder. Dem ist kaum mehr etwas hinzuzufügen – außer einem unbedingten Hinweis auf die Schau, die statt Betroffenheitsbekenntnissen lieber feministische, antikapitalistische und dekolonialisierende Perspektiven im eigenen Handlungsspielraum aufzeigt.
Jahrzehntelang war ein pazifistischer Grundkonsens die unantastbare Basis für Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in westlichen Gesellschaften. Was ist davon geblieben? Ausgehend von dieser Frage nähern sich fünf Künstlerinnen der fragilen Fiktion des Friedens. Der Forderungskatalog der internationalen Friedensbewegung dient dabei ebenso als Referenzraum, wie die antimilitaristischen Aktionen der Frauen- und Antikriegsbewegung der 1970er bis ’90er Jahre, Aspekte der binären Rollenzuschreibung in Konfliktsituationen, was es heißt, als Frau „nicht – friedvoll“ zu sein, der Einfluss von Bildsprache und Propaganda und die immerwährende Frage, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Die unterschiedlichen künstlerischen Zugänge ergänzen sich durch Gegenüberstellung von Archivmaterial und aktuellen Perspektiven und über allem schwebt die Frage nach der individuellen Handlungsfähigkeit. Einmal mehr wird deutlich, dass es Frauen* sind, die in Auseinandersetzungen als erste zum Schweigen gebracht werden sollen, einmal mehr zeigt sich, dass es gerade Frauen*stimmen sind, die immer wieder aufs Neue die Notwendigkeit von Widerstand gegen autoritäre Strukturen, Krieg und Gewalt einfordern. Die internationale Friedensbewegung fordert seit den 1880er Jahren weltweite Abrüstung, internationale Schiedsgerichtsbarkeit und ein effizientes Völkerrecht. 1920 nahm in Genf der Völkerbund seine Arbeit auf, seit 1945 erreichte unter dem Eindruck der Weltkriege und des Vietnamkriegs der zivilgesellschaftliche Druck für friedliche Konfliktlösungen einen Höhepunkt, und Ende der 1960er war „Make love not war!“ die Parole einer ganzen Generation und von globalem pazifistischen Impact. Friedens- und Abrüstungsabkommen wie SALT I und der Atomwaffen-Sperrvertrag wurden errungen und mit der Auflösung der Blockstaaten und dem Ende des Kalten Kriegs schien „immerwährender Friede“ – zumindest in westlichen Demokratien – gesichert. Doch Golf- und Irakkrieg führten in eine friedenspolitische Sackgasse und inzwischen ist der Typus konventioneller Kriege zwischen verfeindeten Nationen in den Hintergrund getreten. Seit 9/11 wurden – als „Terrorismusbekämpfung“ – neue Formen des militärischen Kampfes legitimiert. Es geht dabei nur scheinbar um ideologische oder religiöse Deutungshoheit; nach wie vor dreht sich alles um territoriale Vormachtstellung, Wasser, Land und Bodenschätze. Das Erbe der Kolonialgeschichte und die uneingelöste Verheißung globalen Friedens stellen unser privilegiertes Selbstverständnis in Frage. Zugleich werden in der westlichen Zivilgesellschaft Zweifel am Pazifismus laut. Es wächst die Akzeptanz für autoritäre Strukturen, die Forderung nach Aufrüstung und die Sehnsucht nach dem „starken Mann“. Seit Donald Trumps Vertragsausstieg am 1. Februar 2019 sind die bilateralen Abkommen zur weltweiten Abrüstung Geschichte, und nach nicht einmal 40 Jahren ist der Einsatz von Atomwaffen auf europäischem Boden nicht mehr denkunmöglich. Die Forderungen der Internationalen Friedensbewegung sind aktueller denn je. (Text: Christine Eder)
SKGAL: ENTRÜSTET EUCH
SKGAL, das Sekretariat für Geister, Archivpolitiken und Lücken, arbeitet mit Flugblättern aus STICHWORT, dem Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung in Wien, die für feministische Friedensaktionen produziert wurden. Die Flugblätter aus dem Zeitraum von 1979 bis 1992 zeigen die starken Überschneidungen von feministischen Gruppen mit verschiedenen Friedensbewegungen in Europa. Vom Norden in den Westen, vom Süden in den Osten, von Konzerten zu Camps, von Informationsabenden zu Demonstrationen, von Quizzes, Friedensliedern, Stammtischen bis Friedenszügen belegen sie vielfältige Aktionen und Strategien in der Forderung nach weltweitem Frieden. Sie verweisen in die Vergangenheit und ermöglichen Ausblicke in die Zukunft. STICHWORT wurde 1983 gegründet, in einer Zeit, in der sich die Friedensbewegung in Europa von Neuem mobilisierte. Der NATO-Doppelbeschluss von 1979, der die Aufstellung neuer Atomraketen in Westeuropa legitimierte, war einer der Auslöser. Der Rüstungswettlauf zwischen den NATO-Staaten und der Sowjetunion nahm in den achtziger Jahren neue Fahrt auf. Die Flugblätter aus dem Archiv veranschaulichen das vielfältige Engagement für den Frieden, die Anliegen, Forderungen und Mittel des Protests, oft über nationalstaatliche Grenzen und Sprachbarrieren hinaus. Zugleich verdeutlichen die Dokumente die Bedeutung des STICHWORT-Archivs selbst: Das Sammeln und Zugänglichmachen ermöglicht erst die Beschäftigung mit all den Geschichten des Widerstands und des Protests.
In der Installation von SKGAL werden Schwarz-Weiß-Kopien der Flugblätter an den Wänden und Fenstern des Kunstraum Memphis angebracht. Sie vermitteln die ästhetische und thematische Vielfalt unterschiedlicher Aktionen der Friedensbewegung. Eine Auswahl der Dokumente wird genauer unter die Lupe genommen: Farbfotografien der Flugblätter und Texte in Posterformat von SKGAL sowie von Archivarinnen, Theoretikerinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen, mit denen SKGAL sich schon länger im Austausch befindet, zeigen Perspektiven und Fragestellungen für die Gegenwart auf. Drei Poster aus Großbritannien, die Friedensaktionen ankündigen, hinterlassen bei der Archivarin und Designerin Ego Ahaiwe Sowinski aufgrund ihrer ungebrochenen Aktualität ein unheimliches Gefühl und lösen Fragen zu Frieden und Archiven aus. Die Archivarin und Theoretikerin Margit Hauser schreibt über Collagen auf einem der vielen Flugblätter der Frauenbewegungs- und Friedensaktivistin Hermi Hirsch und darüber, wie das Flugblatt – zweimal in Rot, einmal in Grün – zu STICHWORT kam. Hirschs Wiener Innenstadtbeisl war von 1978 bis 1983 auch Treffpunkt ihres Vereins Frauen für den Frieden Wien. Eine Ankündigung der Initiative für den kroatisch-serbischen Friedensdialog lädt dazu ein, über die Bilder des Krieges „samt dazu aufgebaute Feindbilder“ nachzudenken. Das Flugblatt zum „Informationsabend für Frauen“ in Graz aus dem Jahr 1992 ruft bei der Theoretikerin und Aktivistin Lina Dokuzović eigene Erinnerungen an den Krieg wach. Sie stellt aktuelle Formen der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine solchen zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien gegenüber. SKGAL verbindet die Frage „WO SEID IHR 99,98%?“ auf dem Flugblatt der Frauen für den Frieden in Innsbruck mit dem Manifest „Ein Feminismus für die 99%“ von Cinzia Arruzza, Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya aus dem Jahr 2019 und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Verschränkung von Krieg und Kapitalismus. Anhand von Flugblättern der Blockadegruppe, die sich während des Golfkriegs 1991 an Protesten gegen den Transport von US-Panzern durch Tirol beteiligte, zeigt die Archivarin Sassy Splitz, dass das, was hier passiert, mit Kriegen andernorts zu tun hat. Wie sie meint, ist diese Erkenntnis ein wichtiger Schritt, um handlungsfähig zu werden. In einer Zeit, in der auch in Europa wieder bewaffnete Auseinandersetzungen stattfinden, lädt SKGAL dazu ein, in die Quellen der Geschichten der Friedensbewegung einzutauchen. Die Formen der Verbreitung und die Schwerpunkte der Forderungen haben sich über die Jahrzehnte geändert, doch angesichts der gewaltvollen Konflikte – deren destruktivste Form der Krieg ist – stellt sich die Frage, wie Frieden für alle erreicht werden kann mehr denn je. (Text: Nina Höchtl & Julia Wieger, SKGAL)
Elke Auer & Yorgia Karidi: LEAKING VESSELS
LEAKING VESSELS or the Fear of Feminine-sounding voices begann vor zwei Jahren in Athen als Gespräch zwischen Elke Auer und Yorgia Karidi und entstand aus dem Wunsch, den historischen und kulturellen Kontext zu verstehen, in welchem das Dasein als weiblich klingende Stimme in der Welt als unerträglich wahrgenommen wird. Das Motiv der Frau als undichtes Gefäß, nass, instabil und unfähig, sich selbst einzudämmen, undicht in stimmlicher, somatischer, emotionaler und sexueller Hinsicht, zieht sich durch die gesamte griechische Literatur. Im Gegensatz zur trockenen Stabilität und verbalen Kontinenz der Männer und dem männlichen Tugend-Konzept der „Sophrosyne“, wie Anne Carson in ihrem großartigen Text „The Gender of Sound“ beschreibt. Doch ein getrocknetes Tongefäß, das mit Wasser gefüllt wird, zerbricht irgendwann und wird wieder zu weichem, formbarem Dreck – eine Lektion in der Auflösung starrer Formen, die in Kriegszeiten umso dringlicher erscheint, wenn wieder einmal längst überholte Geschlechterrollen greifen und zementiert werden, und dabei den Menschen aller Geschlechter ungemein schaden.
[…] In diesem Projekt geht es um den Versuch, die Angst davor, eine weibliche Stimme in der Welt zu sein, zu überwinden, und die Tür vor dem Mund aus den Angeln zu heben. Denn wir wollen nicht von innen heraus erschlagen werden, von unserer verrückten, heißen Wahrheit. Wir wollen lieber lernen, die Nervosität, den Schweiß und das Erröten zu akzeptieren und diesen Ausbruch körperlicher Manifestationen als feministische Kritik begreifen. Es geht darum, die Tradition geschlechtsspezifischen Sprechens zu brechen. Mary Beard schreibt in ihrem Buch „Women & Power“: „When it comes to silencing women, Western culture has had thousands of years of practice.“ Sie weist auch auf das erste aufgezeichnete Beispiel hin, in dem ein Mann einer Frau sagt, sie solle den Mund halten: Telemachos in Homers Odyssee, der seiner Mutter Penelope befiehlt, die Klappe zu halten und zurück in ihre Gemächer zu gehen, zurück an ihren Webstuhl, zurück an ihre Arbeit, denn „das Reden ist Sache der Männer, aller Männer, und vor allem von mir; denn ich habe die Macht in diesem Haus.“ Für Yorgia Karidi beginnt der Hauptteil ihrer Arbeit mit dem genauen Hinhören auf die Stimme, auf dieses einzigartige Musikinstrument mit der Fähigkeit, unermessliche Qualitäten zu übertragen. […] Für LEAKING VESSELS hat sie sich mit der Tradition des mediterranen Klageliedes und mit Lamento-Arien aus Opern mitteleuropäischer Komponisten beschäftigt. Die hohen Stimmlagen, traditionell Frauen* zugeschrieben, weckten in ihr die Lust, diese höchsten Töne des Gesangsspektrums selbst zu erreichen. In einem langwierigen Prozess begann sie, sich die Arie „Poveri Fiori“ für Sopranstimme aus der Oper Adriana Lecouvreur, von Francesco Cilèa anzueignen und dokumentierte ihre täglichen Fortschritte mit Aufnahmen. Der langsam erarbeitete Zugang zu den höheren Tönen, das Wachstum ihrer Stimme, das kontrollierte Loslassen und Entladen fühlte sich ermächtigend an. […] Im Verlauf der Eröffungsperformance wurden 22 ungebrannte Gefäße mit Wasser gefüllt und haben sich nach und nach aufgelöst um ihren flüssigen Inhalt freizugeben, zu zerbrechen, in sich zusammenzufallen und alles zu überschwemmen. Genau so, wie es feministische Killjoys zu tun pflegen, Zitat Sara Ahmed: „Feminist killjoys tend to spill all over the place. What a spillage. Feminist killjoys: a leaky container. And so: Be careful, we leak.“ (Text: Elke Auer & Yorgia Karidi)
Anmerkung, Referentin: Im Laufe der Eröffnungsperformance konnten die Besucher:innen außerdem Yorgia Kadiris Stimme und „Poveri Fiori“ lauschen.
Selma Doborac: Fassaden-Installation
Am 22. Februar 1993 beschließet der UN-Sicherheitsrat die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Selma Doborac präsentiert einen Auszug aus einem der Gerichtsprozesse im Fall Srebrenica. Der Auszug aus dem Gerichtsprotokoll stammt aus dem Fall IT-98-33-T, Gegenstand ist das Kreuzverhör durch den Vertreter der Anklage/Ankläger; der Angeklagte als Zeuge in eigener Sache. Der Prozess umfasste 98 Verhandlungstage. Die Anklage rief 65 Personen in den Zeugenstand. Die Ankläger legten insgesamt 910 Beweisstücke vor. Der Angeklagte wurde gemäß Artikel 18 des Statuts des ICTY angeklagt, sich des Völkermordes, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen schuldig gemacht zu haben. Der präsentierte Auszug stammt aus dem Prozesszeitraum Oktober/November im Jahr 2000. Dieser Prozess diente als Grundlage und Muster zukünftiger Prozesse und Anklagen im Fall Srebrenica. […] (Text: Selma Doborac)
Christine Eder ist unter anderem Kuratorin im Kunstraum memphis.
SKGAL, Nina Höchtl & Julia Wieger: skgal.org
Elke Auer & Yorgia Karidi: vookoov.net, yorgiakaridi.com
Selma Doborac: www.sixpackfilm.com/de/catalogue/filmmaker/5016/
Aggressive Peace
Noch bis 8. Juni Kunstraum Memphis, Linz
memphismemph.is