Hans Eichhorn ist im Februar diesen Jahres verstorben. Erwin Einzinger über den Schriftsteller.
Falls Sie selber schreiben oder sich auf andere Weise kreativ oder erfinderisch betätigen – und dies trifft vielleicht auf etliche derer zu, die vorliegende Kunstzeitung gern lesen –, darf ich als Möglichkeitsspiel gleich zum Einstieg diese Frage stellen: Kennen Sie jemanden, mit dem oder der zusammen Sie sich vorstellen könnten, auf irgendeinem künstlerischen Feld Gemeinschaftsarbeiten zu fabrizieren und vielleicht sogar ein Buch in Koproduktion zu schreiben? (Es wäre freilich zu bedenken, wie kompliziert und egozentrisch und in sich versponnen nicht wenige aus unserer Branche angeblich sind …) Hans Eichhorn habe ich in Rauris vor gut sechsunddreißig Jahren zum ersten Mal getroffen. Als wir dann versuchsweise schließlich auch einmal zusammen etwas produzieren wollten, waren wir seit mehr als zwei Jahrzehnten Freunde. Der Impuls dazu kam, wie ich mich erinnere, damals von ihm, es ging um Malerei. Er rief mich eines Morgens an, er habe gerade alles vorbereitet, ich solle an den Attersee kommen, um das schon mehrmals vage angedachte Unternehmen einfach einmal anzugehen. Und am Ende dieses Tages hatten wir so zirka zwanzig wilde Bilder auf Karton, die meisten im Format 100 x 70 cm. Die Idee, etwas Vergleichbares dann auch mit Literatur zu wagen, lag für uns beide nahe. Hans hatte eines Tages einen Plan für ein Theaterstück und ließ mir für meinen Anteil völlig freie Hand, gab mir nur Hinweise zu den Figuren und zum groben Handlungsplan, und danach schrieben wir drauflos, jeder auf bestimmte Kernaspekte fokussiert. Ich hatte durch die vielen Dramolette, die er bereits verfaßt hatte, längst Geschmack daran gefunden, mich auch an Dialogen zu versuchen, und in unserem Konzept gab es genügend Raum für Ungewöhnliches und echten Irrwitz, obwohl ich immer spürte, daß Hans in etwa wußte, wohin das Stück sich letztlich zu entwickeln hatte.
Das nächste war dann ein erzählendes Projekt, Post aus Palermo, diesmal machte ich den Anfang. Ausschnitte daraus wurden dann später in der Grazer Zeitschrift manuskripte sowie in einer Sonderausgabe der Linzer Rampe abgedruckt. (Mit Schmunzeln und ein wenig Wehmut stieß ich im Verlauf meiner Lektüre seines umfangreichsten und vorletzten Buchs, des imponierenden Romans FAST das Große Haus, der im Vorjahr erst erschienen ist, auf eine Stelle, wo er einmal kurz eine Figur aus diesem längst abgeschlossenen gemeinsamen Projekt vorkommen läßt, eine extreme Dame aus dem geheimnisvollen Graubündner Landschaftstheater …)
Unser ebenfalls in Zusammenarbeit geschriebenes Langgedicht Herbstsonate ist dann als einziges unserer Gemeinschaftsprojekte auch als Buch erschienen, in der edition sommerfrische im Rahmen der Bibliothek der Provinz, bis zur Fertigstellung sorgfältig betreut vom Fotokünstler Klaus Costadedoi, mit dem zusammen Hans bereits zuvor mehrere Prachtbände mit Fotos aus der Attersee-Region in Kombination mit Kurzgedichten realisiert hatte.
Unsere erste Begegnung fand also 1984 in Rauris statt, ich war als Preisträger eingeladen, hatte bereits zuvor als Juror für einen parallel zu vergebenden Förderpreis einen anonym eingereichten Prosatext mit dem Titel Die Keuschheitsecke als eindeutigen Favorit auf meiner Liste gehabt. Der Förderpreis ging zwar, weil die beiden Mitjuroren den Beitrag eines anderen Autors, von dem ich nie mehr etwas gehört habe, noch besser fanden, nicht an den uns damals unbekannten Hans Eichhorn aus Attersee, aber er erhielt ein Arbeitsstipendium, und so fing alles an.
Hans lebte im elterlichen Fischerhaus am See, hatte in Salzburg kurze Zeit ein Studium betrieben, das er aber bald schon aufgab, um sich intensiv der Literatur und auch der Fischerei zu widmen. Es dauerte nach Rauris allerdings fast ein Jahrzehnt, bis dann sein erstes Buch im Residenz Verlag erschien, der Gedichtband Das Zimmer als voller Bauch, mit einem blauen Fisch am Boden eines leeren Zimmers auf dem von Walter Pichler stammenden Umschlag. Von da an kamen in erstaunlicher Geschwindigkeit die weiteren Werke heraus, etwa der Roman Circus Wols, eine großartige Studie zu Leben und Werk des einem breiteren Publikum leider immer noch wenig bekannten bildenden Künstlers Otto Wolfgang Schulze, der seinen Namen zu Wols verkürzt hatte und dessen kleinformatige Bilder von hoher Expressivität Hans Eichhorn stets geschätzt hat. Zugleich liefert der Roman beinahe tagebuchartige Protokolle aus dem Alltag des Schreibenden, wobei immer wieder erstaunliche Verbindungen zu Biografie und Bildern des Künstlers Wols hergestellt werden.
In seiner eigenen bildnerischen Tätigkeit entwickelte Hans ziemlich bald eine ganz spezielle Arbeitsweise, indem er vorwiegend auf Abfallmaterial produzierte, etwa leere Milchpackungen auf der beschichteten Seite übermalte, wobei er für sein Malen weniger den Pinsel nutzte als die Spachtel oder seine Finger. Auch ließ er stets dem Zufall großen Raum und integrierte manches aus dem Hintergrund von Schachteln und Kartons jeglicher Art in das sich rasch entwickelnde Tableau, das kaum Figuratives lieferte, sondern die Kraft der Farben wirken ließ.
Viele seiner Bildschöpfungen verwendete er früh als Postkarten, die er über all die Jahre an die Freunde und Kollegen schickte. Mit dem Autor und bildenden Künstler Richard Wall hatte er schon 1996 einen regelmäßigen Bildkartenaustausch begonnen, ein Projekt, das später ausschnittsweise auch im Stifterhaus besichtigt werden konnte, in einer höchst originellen Ausstellung, betitelt Grüße an das russische Volk.
Einen guten Eindruck von seiner bildnerischen Arbeit kann man allerdings auch im bereits erwähnten Roman FAST das Große Haus bekommen, erschienen in der Bibliothek der Provinz und mit zahlreichen Farbreproduktionen seiner Bilder illustriert. Darin heißt es auf Seite 567 einmal: Es gab ja einen ungeheuren Fundus an gelebten und erlebten Eindrücken, die völlig unkontrolliert an die Oberfläche schwappten und wieder verschwanden. Dieser Satz bezieht sich zwar in erster Linie auf das Schreiben, aber auch an seinen Bildern kann man sehen, daß die Arbeit mit gelebten und erlebten Eindrücken stets das Flüchtige und Fließende betont.
Als dieses umfangreichste seiner Bücher wie ein abschließender Meilenstein erschien, hatte Hans Eichhorn nicht nur, aber vor allem in der Literatur längst ein beeindruckend vielschichtiges Werk aus etwa dreißig Büchern geschaffen, die in den beiden Verlagen Residenz und Bibliothek der Provinz publiziert wurden. Der letztgenannte Verlag kümmerte sich neben zahlreichen Prosa- und Gedichtbänden auch um seine einzigartigen Dramolette, Szenen und Mikrogramme. Aber daneben gab es über die Jahre auch unzählige verstreute Veröffentlichungen in den verschiedensten Zeitschriften, und wer sich diesbezüglich einen Überblick verschaffen will, kann das anhand einer Sonderausgabe der in Linz erscheinenden Zeitschrift Die Rampe tun, die ein ausführliches Porträt von Hans Eichhorn und zahlreiche Beiträge zu seiner Arbeit enthält und von der Literaturwissenschaftlerin Alexandra Millner herausgegeben worden ist.
Noch einmal ein Blick zurück: Nachdem seine Frau Elisabeth an der Handelsakademie in Kirchdorf zu unterrichten begonnen hatte, verlagerte sich das Leben von Hans Eichhorn ins Kremstal, wo die Kinder Rosa, Johannes und Andreas dann auch Kindergarten und die Schulen besuchten. Zum Fischen fuhr er je nach Jahreszeit und Fangsaison regelmäßig ins Elternhaus am See, aber einen großen Teil der Zeit war er fortan in Kirchdorf, sodaß wir regelmäßige gemeinsame Spaziergänge in den Wäldern am Wienerweg in Micheldorf vereinbarten, bei denen wir uns unter anderem auch viel über unsere jeweiligen Arbeitsvorhaben unterhielten.
Hans betrieb in seinen Büchern eine intensive Forschungsarbeit mit dem Material Sprache, ausgehend von einem Einzelsatz versuchte er zu erkunden, wohin Spontanbeobachtung und Assoziationsprozesse ihn trieben, ohne daß er dazu die Konstruktion erfundener Geschichten zu Hilfe nehmen wollte. Jeder neue Anlauf zu einem Projekt hatte den deutlichen Charakter eines Experiments, bei dem sehr vieles möglich war und sich die Form erst nach und nach ergab. Das Prinzip der Wiederholung und des Schürfens und Vertiefens spielt dabei vor allem in der Prosa eine Rolle, während in den Gedichten meist imponierende Augenblicksnotate und Impressionen wie in Großaufnahme präsentiert werden.
Die meisten seiner Bücher sind zum Glück auch nach wie vor erhältlich, vor allem deshalb, weil sein langjähriger Verleger Richard Pils eine in dieser Art vermutlich einzigartige Lagermöglichkeit in den Räumlichkeiten von Schloß Raabs im Waldviertel besitzt. Unter der schon erwähnten und ohnehin weithin bekannten Verlagsadresse Bibliothek der Provinz sind sie weiter lieferbar.
Das letzte Buch – ein Prosaband mit dem Titel Ungeboren – war soeben erschienen, als meine Frau und ich den schon seit langer Zeit schwer Kranken in der Palliativstation des Vöcklabrucker Krankenhauses noch einmal besuchen konnten. Es ist dies eine um Entstehen und Vergehen kreisende Studie mit zarten Illustrationen aus der auf Repetition und minimale Variationen setzenden Zeichenpraxis von Tochter Rosa. Ein nächstes Manuskript, hat seine Frau uns einen Tag nach seinem Tod erzählt, hatte er noch auf dem Sterbebett weitgehend redigiert. Auch diese ungebrochene Schaffensenergie, die bis zuletzt so typisch war für ihn, haben nicht wenige seiner Kollegen stets an ihm bewundert.
Für seine literarische Arbeit hat er zahlreiche Preise erhalten, neben dem manuskripte-Preis des Landes Steiermark auch den Landeskulturpreis Oberösterreich und zuletzt in Salzburg den renommierten Georg-Trakl-Preis für Lyrik, ehe er zwei Monate vor seinem Tod noch den Heinrich-Gleißner-Preis in Linz verliehen bekam.
Schon nach der Veröffentlichung seines ersten Gedichtbands hatte er Einladungen zu Werkstattgesprächen im berühmten Lessinghaus in Wolfenbüttel und einen Arbeitsaufenthalt in Amsterdam erhalten.
Seine bildnerischen Arbeiten wurden immer öfter in Ausstellungen präsentiert, hervorzuheben wäre dabei auch eine außergewöhnliche Aktion, bei der er mit dem Künstler Klaus Krobath zusammenarbeitete und Leinwände einige Wochen lang in den See versenkte und die Mikroorganismen und Algen ihre Arbeit verrichten ließ. Die Ergebnisse wurden im Jahr 2000 im Linzer Stifterhaus präsentiert, wo zahlreiche Lesungen aus seinen fast im Jahresrhythmus publizierten Büchern stattfanden und auch insofern als einzigartig in Erinnerung bleiben werden, als er stets geräucherte Fische aus dem Attersee für ein willkommenes Büffet mitbrachte.
Vor ein paar Jahren hat mir Hans leicht amüsiert erzählt, welches Erlebnis dazu führte, daß eines Tages pausenlos und häufiger als je zuvor sein Telefon geläutet hat. Es hatte nichts mit seiner Tätigkeit als Autor oder Maler zu tun, aber die Zeitungs- und die Rundfunkleute, die sich meldeten, wollten alle davon berichten, daß er auf einer seiner Fahrten auf den See nach zwanzig Jahren und aus neunzig Metern Tiefe zufällig seine eigene Geldbörse geborgen hatte. Das Ankerseil des Fischerboots hatte sich um den dreizackigen Stahlanker gewickelt, daß dabei ein Knäuel entstand, und darin fand sich die Geldbörse samt Bankomat-Karte und rund 500 Schilling Bargeld. Keines seiner Bücher hat offenbar so viele Journalisten zur gleichen Zeit interessiert, die traditionellerweise meist, wenn sie über ihn und seine Arbeiten berichteten, zu dem naheliegenden Vergleichsfeld griffen, daß er als der vermutlich einzige bekannte Schriftsteller, der zugleich Fischer war, bei seiner künstlerischen Arbeit ebenfalls die Netze auswarf, nur eben diesmal auf der Suche nach Worten oder Bildern aus seinem Bewußtseinsraum.
In einem Filmbeitrag über Marseille war zufällig unlängst ein Fischer zu sehen, der viele Jahre nach dem Absturz des Schriftstellers und Fliegers Antoine de Saint-Exupéry vor der südfranzösischen Küste dessen Armbanduhr mit eingraviertem Namen aus der Tiefe gezogen hat.
Nicht erst, seit Hans nicht mehr am Leben ist, lese ich immer wieder in dem einen oder anderen seiner Bücher, wobei ich eine besondere Vorliebe für seine höchst eigenwillige Prosa habe. Im Residenz Verlag waren neben dem Circus Wols-Roman noch weitere großartige Erzählbände erschienen: Die Liegestatt (2008), Das Fortbewegungsmittel (2009), Und alle Lieben leben (2013).
Und ganz besonders schätze ich ein wunderbares Experiment, in dem er auf der Basis des ungarisch-schwäbischen Märchens vom Ichweißnicht dessen Erzählkern immer wieder variiert und zugleich auch auf seinen Alltag zu beziehen sucht. Es ist dies der 2009 im Verlag Bibliothek der Provinz erschienene Band Das Ichweißnicht-Spiel. Gleich auf der ersten Seite heißt es darin programmatisch: Ein Märchen zerdröseln, es so lange lesen und nacherzählen, bis der Leser oder Nacherzähler in diesem Märchen lebt, es als sein Lebensmärchen weiß und weitergeben will. Drei vorangestellte Motti stammen von Peter Handke, Franz Kafka und Samuel Beckett, den Hans sein Leben lang geschätzt und überaus bewundert hat.
Dessen bekannte Großzügigkeit und Bescheidenheit hat er auch selbst auf seine ganz eigene Art gelebt. Das Kafka-Zitat endet mit dem Satz: Wer die Fragen nicht beantwortet, hat die Prüfung bestanden.
Daß das Nichtwissen, das Zögern und versuchsweise Vorantasten ebenso wie das Abwägen und im Selbst- oder Zwiegespräch ins Extrem getriebene Räsonieren ein Merkmal seiner gesamten Arbeit ist, wird mir beim erneuten Lesen seiner Bücher immer klarer. Auch wirken die Figuren in den Dramoletten oft gescheitert, dabei sind sie bloß nicht gewillt, gewisse Kompromisse mit den Kategorien eines Durchschnittslebens einzugehen, und sie beharren dabei auf Charakter, Eigenart und einem wachen Sprachbewußtsein, was einerseits zu Komik führt, aber zugleich eine Wahrheit transportiert, die im Alltag oft nicht wirklich eine Chance erhält.
Hans ist am 29. Februar verstorben, knapp zwei Wochen nach seinem Geburtstag und zwei Tage nach dem dreiunddreißigsten Hochzeitstag, den er mit seiner Frau noch zu Hause erleben wollte. Die Söhne, von denen einer zumindest im Nebenberuf die Fischerei weiter betreiben wird, waren ebenfalls rechtzeitig gekommen.
Sein Grab ist wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem einst zufällig unsere erste gemeinsame Lesung stattgefunden hat, dem Pfarramt Attersee, vor mittlerweile schon recht langer Zeit. Und der Zufall, wie man so sagt, hätte es anscheinend noch gewollt, daß wir im heurigen März – ganze sechsunddreißig Jahre nach unserer ersten Begegnung – erneut beide in Rauris eingeladen gewesen wären.
NEIN, ES IST NICHT BESSER GEWORDEN,
die geschwollenen Füße zeugen von der
Vertümpelung deines Kreislaufes. Noch
läufst du, ja, doch die Nudelsuppe hast du
über und die Grießnockerl sind dir Beifang
genug und der Reinankenrogen rutscht dir
mit Verlaub den Buckel hinunter. Zweite
und dritte Fangzäune sind entlang der
Skirennpiste aufgestellt. Schon zappelt
einer, wird mit dem Hubschrauber
abtransportiert. Die Strecke ist eisig,
die Kanten geschärft, der Bestzeitdruck
das Ein und Alles. Katzenkleines schläft
mit leicht zuckenden Pfoten. Ja, es ist nicht
schlecht genug, nein, die Restnacht
schürt keine Erwartung mehr.
(Aus: „Nur mehr das Blühen“, Edition Sommerfrische)
Textzitat: stifterhaus.at
Die erwähnten Rauriser Literaturtage wurden heuer wegen der Corona-Krise abgesagt. Ebenso die Veranstaltung im Stifterhaus am 27. April: „Abschied von und Hommage für Hans Eichhorn (1956–2020)“