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Die Relevanz des Systems

By   /  4. Juni 2020  /  No Comments

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Ok, Corona-Pause. Oder ist eh alles schon wieder zu Ende? Sind alle gesund, auf die es ankommt? Haben alle überlebt, die es braucht, um weiterzumachen, dort, wo wir aufgehört haben? Das scheint ja schließlich das Wichtigste: an der Stelle, an der wir das „System runterfahren“ mussten, weiterzumachen, so, als ob nichts gewesen wäre. „Kreativ in der Krise“ waren wir hoffentlich auch alle? Bilder gemalt, Gedichte geschrieben, den Roman endlich fertiggestellt, drei Fremdsprachen gelernt, den Körper gepflegt, den Urlaub in Österreich gebucht. Die Pause genutzt? Gut, dann kann es ja wieder richtig losgehen, jetzt können auch die Nicht-Systemrelevanten wieder zeigen, dass sie doch auch von Relevanz sind. Die systemrelevanten Menschen gingen ja weiterhin arbeiten, versorgten diejenigen mit dem Notwendigen, auf die es eigentlich gar nicht ankommt. Viel wurde darüber gesprochen, was dieses Notwendige ist, ohne das wir nicht auskommen und wer es vor allem bereitstellt. Wenig wurde hingegen über den Wert der Arbeit gesprochen, ebenso wenig über das Recht auf Arbeit und über Lohnarbeitsverhältnisse, ob sie gerecht sind und wenn nicht, was eine Regierung tun muss, um sie gerechter zu gestalten – um der vielbeschworenen Relevanz also Rechnung zu tragen. Wenig wurde auch darüber gesprochen, ob eine Lehre aus der Krise sein könnte bzw. sein müsste, laut und ernsthaft über soziale Verbesserungen für Menschen zu sprechen, die aktuell von dem, was sie verdienen, offenbar kaum leben können. Und nicht einmal angedacht wurde, darüber zu sprechen, ob eine Regierung, anstatt auf Forderungen zu warten, lieber Angebote machen sollte. Um neben App­laus und Dank auch Platz für glaubwürdiges Handeln zu machen. Aber: nicht Veränderung, sondern Normalität wurde zum Ziel erklärt. Die „neue Normalität“ versprach sogar eine leichte Steigerung: In der „neuen Normalität“ wird sich nicht viel geändert haben, kaum bemerkbar. Der Brand „Normalität“ wird adjustiert. So wie Marken wie Nivea oder Coca Cola unmerklich ihr Erscheinungsbild über die Jahre verändert haben, so drehen Bundeskanzler und Gefolgschaft dank Corona ein paar Schrauben enger. Österreich in Zeitlupe also, bitte nicht zu viel reflektieren und verändern – weder wurde hier von „demokratischen Zumutungen“ ge­spro­chen wie in Deutschland noch wurden Grundeinkommen oder Viertage-Woche diskutiert wie in Spanien oder Neuseeland. Veränderungen nach Pandemien blieben aber immer unausweichlich, was natürlich auch verheerenden Ausgangslagen vor Krisen geschuldet war – in anderen Ländern und vor allem zu anderen Zeiten: „Die Löhne verdoppelten sich in Italien, Frankreich und Deutschland (…). In der Gegend um Rhein und Donau entsprach der Tageslohn eines ländlichen Arbeiters dem Preis eines Schweines oder Schafes, und diese Löhne galten auch für Frauen, da sich das Gefälle zwischen Männer- und Frauenlöhnen im Gefolge des schwarzen Todes drastisch verringert hatte. (…) Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war die Leibeigenschaft so gut wie verschwunden. Die Leibeigenen wichen überall freien Bauern – Zinslehen- oder Pachtbauern – die nur gegen eine beträchtliche Vergütung zu arbeiten bereit waren.“ (Silvia Federici, Caliban und die Hexe, 1998, S. 64). Ohne durch entsetzlich hohe Todesraten wie der Pest im 14. Jahrhundert (knapp ein Drittel der europäischen Bevölkerung innerhalb weniger Jahre) dazu gezwungen zu werden, sollten wir 600 Jahre danach als Gesellschaft eigentlich in der Lage sein, über soziale Verbesserungen für Menschen, die als „systemrelevant“ eingestuft werden, zu sprechen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir hören von Strukturen, die der Leibeigenschaft jedenfalls ähneln – in Schlachthöfen, auf Feldern und anderen „systemrelevanten“ Betrieben, deren Manager sich nur dann schöne Boni auszahlen können, wenn die Lohnkosten eben schön niedrig bleiben.

Wenn wir also von „Systemrelevanz“ sprechen, aber nicht gleichzeitig offen diskutieren, wie sich das „System“, dem hier zugearbeitet wird, überhaupt bildet und ob es gerecht ist, sind wir eigentlich ziemlich falsch unterwegs und sehr „unkreativ in der Krise“.

Wenn Federici in ihrem Forschungsprojekt der Zeit des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Europa nachging, wäre es nun dringend an der Zeit, darüber nachzudenken, in welcher Phase eines wirtschaftlichen, sozialen und politischen Übergangs wir uns aktuell befinden und wer welche Auswirkungen dieser Systemstrukturen zu ertragen hat. Wir kennen die Symptome, haben aber wenig Ahnung vom System an sich. Wir wissen, dass Warenströme fließen, Pakete sortiert, Kinder und alte Menschen betreut werden müssen, Spargel gestochen und Fleisch erzeugt werden muss, wissen, dass die Post und Kaufhäuser derart systemrelevant sind, dass sogar Angehörige von Miliz oder Bundesheer einspringen. Und wir wissen, dass auf Schulen, Bildungseinrichtungen und Kulturinstitutionen hingegen eine Weile verzichtet werden kann. Die aktuelle Regierung hat sich rasch die Definitionshoheit darüber gesichert, wer in welcher Weise dem System zuträglich ist und wer ob seiner bzw. vor allem ob ihrer Irrelevanz warten kann bzw. ruhig noch ein paar Wochen länger mit unbezahlter Reproduktionstätigkeit dem System zuarbeiten darf. Kunst und Kultur, Bildung, Wissenschaft, Demokratie, Verfassung, faires Wirtschaften, Gemeinwohl, Geschlechtergerechtigkeit – sie alle blieben außerhalb der Grenzen, fanden keinen Platz in der Inszenierung, die die Entourage rund um den Bundeskanzler ganz ausgezeichnet – Applaus, Applaus – auf die Bühne gebracht hatte.

Warum aber bleibt es so still, bleibt so vieles unhinterfragt und unkritisiert? Es mutet ein wenig verzweifelt an, wenn nun Strategie ist, sich selbst als „systemrelevant“ zu erklären: „Kunst und Kultur sind auch systemrelevant“ als einziger Ausgangs- und auch schon wieder Endpunkt des Aufbegehrens zeigt, dass es nur ums Dazugehören geht, nicht aber um ein Hinterfragen dieses „Dazu“ – wie und wer es definiert und ob es nicht auch ein paar Systemcrasher bräuchte – nicht ausschließlich Systemerhalter*innen.
Auf kritische Diskurse versteht man sich hierzulande allerdings leider ebenso wenig wie auf Streitkultur. Echte Veränderungen werden auch nach bzw. mit Corona in Österreich wohl eher nicht stattfinden, die neue Normalität wird eine leicht autokratischere Form der alten sein.

Das ist nicht nur bedauerlich, es ist eigentlich verheerend. Denn natürlich braucht es auch in Österreich ein Grundeinkommen, muss auch ein bedingungsloses diskutiert werden. Selbstverständlich muss eine der Konsequenzen sein, sowohl das Recht auf Arbeit als auch den Wert von Arbeit zu diskutieren. Es muss eine der Lehren sein, die jede vernunftbegabte Regierung aus der Erfahrung dieses Lockdowns zieht, darüber nachzudenken, wie gerecht oder ungerecht – sowohl auf Klassen als auch auf Geschlecht bezogen – Österreich gestaltet ist. Krisen sollte Fortschritt folgen – in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht. Stillstand, Normalität und Systemkompatibilität zählen da nicht unbedingt dazu.

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  • Published: 5 Jahren ago on 4. Juni 2020
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  • Last Modified: Juni 4, 2020 @ 3:12 pm
  • Filed Under: Kolumnen

About the author

wiltrud katherina hackl forscht zu und schreibt über konstruktionen von weiblichkeit und wasser und ist aktuell als universitätsassistentin an der kunstuni linz tätig, wo sie u.a. zu flüssen als orte der erinnerung lehrt. für ihr projekt „die flüssin“ sammelt sie geschichten von und mit flüssen. wiltrudhackl.com

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