In der Linzer Innenstadt erinnern 22 Stelen mit 194 Namen an die Opfer des Holocaust. Sie stehen in unmittelbarer Nähe ihres ehemaligen Wohnortes. Wer waren diese Menschen? Die evangelische Theologin Verena Wagner fügt den Namen und Daten auf den Mahnmalen Biografien hinzu und verleiht den Opfern so ein Gesicht. Silvana Steinbacher über Linz erinnert.
Mehr als 30 im Netz abrufbare Lebensläufe bilden bisher einen neuen Mosaikstein des Großprojekts Linz erinnert. Die 6-jährige Dorothea etwa war das jüngste Mitglied der Familie Fränkel, das älteste der 51-jährige Emil Fränkel. Das in Linz lebende Ehepaar Fränkel und seine beiden Töchter wurden in unterschiedlichen Konzentrationslager ermordet. Nachdem die gesamte Familie – sie lebte in der Rudolfstraße 28 – umgebracht wurde, konnte sich wohl kaum mehr jemand an sie erinnern. Die evangelische Theologin Verena Wagner hat die Biografien der Jüdinnen und Juden recherchiert, die sich mit dem Stichtag 12. März 1938, also dem Tag der nationalsozialistischen Machtergreifung, in Linz aufhielten. „Es ist eine mühevolle Recherchearbeit, denn es existieren keine Listen, wer an jenem Tag hier gewohnt hat“, resümiert Verena Wagner, die bereits vier wissenschaftliche Bücher und ein Kinderbuch verfasst hat. „Ich musste in den Archiven in Linz und Wien recherchieren, im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, und auch in Gemeindeämtern und Dokumentensammlungen im In- und Ausland. Bisher habe ich genau 33 Biografien fertiggestellt.“ Die Daten der Flucht jener Menschen nachzuvollziehen, die das Glück hatten, rechtzeitig vor den Nationalsozialisten fliehen zu können, erwies sich als besonders kompliziert, da deren Wege oft verschlungen, ihre Daten kaum mehr zu eruieren waren und deren Nachkommen meist nicht in Österreich leben. Daher standen Wagner auch kaum Ansprechpartner:innen und kaum Quellen zur Verfügung. Damit bildet Linz allerdings keine Ausnahme, denn auch in kaum einer anderen Stadt lassen sich die Spuren aller Opfer verfolgen.
Bei einem zu jener Zeit in Linz lebenden Juden namens Gustav Gans jedoch ist es Verena Wagner gelungen. Gustav Gans, geboren 1909, lebte in der Herrenstraße 48 und arbeitete als Handelsangestellter bei der damaligen Firma Treichlinger in der Landstraße. Während der 1930er-Jahre engagierte sich Gans im Linzer zionistischen Jugendbund Blau-Weiß. Bei den Wahlen zum Kultusvorstand 1935 kandidierte er auf der Liste der Zionisten und Konservativen, kurze Zeit später wurde er in dieses Amt und in die Jugendkommission des Vorstandes berufen. Nachdem die Besitzer der Firma, in der er arbeitete, ebenfalls Juden waren, konnte Gustav Gans dort relativ lange arbeiten, aber Ende 1938 wurde er gekündigt. Im Zuge des Pogroms wurden Gustav Gans und seine beiden Brüder festgenommen und nach Dachau deportiert. Unter der Bedingung, binnen weniger Tage das Land zu verlassen, kamen alle drei frei. Über Shanghai, als dem einzigen Ort, der ihnen zu diesem Zeitpunkt offenstand, setzten sie ihre Flucht Richtung Amerika fort. Dort arbeitete Gustav Gans unter anderem für die Salzburger Firma Lanz als Handelsvertreter. 1993 starb er in Los Angeles.
Das Schicksal von Gustav Gans, jenes der Familie Fränkel und vieler anderer, deren Namen, Geburts- und Todesdaten beziehungsweise auch deren Deportations- und Fluchtdaten an den Stelen zu finden sind, werden durch die Biografien im Netz nach und nach ergänzt.
Die Erinnerungszeichen selbst hat der Ottensheimer Künstler Andreas Strauss mit Lehrlingen des Ausbildungszentrums der voestalpine AG angefertigt. Auf diesen dezenten und auch ästhetisch ansprechenden eineinhalb Meter hohen, 35 cm breiten und vier cm tiefen Stelen aus Messing befindet sich jeweils neben den Namen eine Klingel: Der Klingelton, der zur eigenen Wohnung, zum eigenen Haus weist, der Klingelton, auf den keine Reaktion folgt, niemand meldet sich oder niemand meldet sich mehr, der Klingelton, der das Eintreffen der Gestapo, die Deportation anzeigt. (Diese Gedanken gehen zumindest mir durch den Kopf.) Mittlerweile stehen 22 von der Stadt Linz errichtete Stelen mit 194 Namen unweit der ehemaligen Wohnorte der Holocaustopfer oder der durch die NS-Diktatur Vertriebenen. Eng in dieses Großprojekt eingebunden ist auch die Israelitische Kultusgemeinde Linz mit ihrer Präsidentin Charlotte Herman.
Am 12. März 1938 lebten rund 600 Jüdinnen und Juden in Linz. Woher kamen sie ursprünglich? Durch die Reichsverfassung von 1849 war es den Jüdinnen und Juden in Oberösterreich gesetzlich erlaubt, sich hier niederzulassen und Grund und Boden zu erwerben. Dadurch zogen viele aus Südböhmen, Ungarn und auch Wien nach Linz. Das Zusammenleben mit den alteingesessenen Bürger:innen verlief nicht ohne Konflikte.
Doch zurück ins Jahr 1938: Ein Drittel der rund 600 Jüdinnen und Juden, die zu jener Zeit in Linz lebten, wurden ermordet. „Dies deckt sich mit der Zahl in anderen Städten, wobei tendenziell mehr Frauen als Männer umgebracht wurden“, resümiert Verena Wagner. „Jene, die Österreich rechtzeitig verlassen konnten, fanden erste Hilfe und Wohnmöglichkeiten bei Verwandten im Ausland, oft in Israel, nur einige haben bereits in einem Kibbuz gearbeitet.“
In ihren Forschungen widerlegt die evangelische Theologin auch das Klischee der sogenannten reichen Jüdinnen und Juden. Die meisten, die hier lebten, waren anfangs Hausierer:innen, die es im Lauf der Zeit zu mittlerem Wohlstand brachten. In den 1930er-Jahren gerieten viele von ihnen an die Armutsgrenze. Der jüdische Arzt Dr. Eduard Bloch zählte zum Mittelstand. Bloch ordinierte in der Linzer Landstraße 12, zu seinen Patienten zählten auch die Eltern von Adolf Hitler. 1907 musste Eduard Bloch dem damals 18-jährigen Adolf Hitler von einer ernsthaften Erkrankung seiner Mutter berichten, an der sie kurz darauf auch verstarb. Für die offensichtlich sehr kompetente und besorgte Behandlung von Hitlers Mutter versprach Hitler dem Arzt auf zwei Postkarten ewige Dankbarkeit und nannte ihn anderen gegenüber einen „Edeljuden“. Nach dem Anschluss durfte Bloch daraufhin seine Praxis und seine Innenstadtwohnung behalten. Aus freiem Entschluss emigrierte Eduard Bloch aber in die Vereinigten Staaten, wo seine Approbation als Mediziner nicht anerkannt wurde.
Die Stelen von Andreas Strauss, die im Stadtbild kaum mehr zu übersehen sind, regen nicht nur zum Stehenbleiben und Nachdenken an, sondern vermitteln durch die sie ergänzenden Kurzbiografien im Netz auch individuelle Schicksale. Neben den Daten und Adressen öffnen die digitalen Kurzbiografien Zugang zu den verschiedenen Lebensläufen jener in Linz lebenden Menschen, die vor vielen Jahrzehnten hier gelebt und verzweifelt nach einem Ausweg gesucht haben.
Web-Memorial: www.linzerinnert.at
Publikationen von Verena Wagner
Jüdisches Leben in Linz. 1849–1943. Band 1: Institutionen. Band 2: Familien. Linz. 2008. Wagner Verlag
Jüdische Lebenswelten. Zehn Linzer Biographien. 2013. Hrsg.: Archiv der Stadt Linz.
Linz 1918/1938. Jüdische Biografien. Linz. 2018. Hrsg.: Archiv der Stadt Linz
Marie. Ein jüdisches Mädchen aus Linz. Linz. 2022. Trauner Verlag.