Antonio Zingaro, Multimedia Artist und Internet Hacktivist, arbeitet seit einigen Monaten bei einem Lieferdienst. Er schreibt aus der Realität seines Jobs über die Heuchelei während der Krise – und die Diktatur des Algorithmus.
Ich stelle in diesen Tagen eine große Heuchelei fest, im Allgemeinen, aber insbesondere im Zusammenhang mit unseren Erfahrungen mit dem Corona-Virus. In diesen Wochen wurden wir Zeuge zahlreicher sozialer Initiativen. Einige hatten eine Art Bottom-up-Ansatz, andere nicht, alle sollten dem Covid-19-Notstand entgegenwirken, ihn eindämmen oder Abhilfe schaffen.
Bei einigen der Bottom-Up-Initiativen handelte es sich um selbstorganisierte, spontane und lokale Aktionen, wie z. B. die in Süditalien aufgehängten Weidenkörbe, die PassantInnen dazu auffordern, dort Lebensmittel und Vorräte für Bedürftige zurückzulassen. Oder es gab Botschaften der Hilfsbereitschaft, die Menschen in den verschiedenen Ecken der Städte auszuhängen begannen, um denjenigen NachbarInnen zu helfen, die am stärksten gefährdet waren, sich mit dem Virus zu infizieren.
Was mich in diesen Zeiten allerdings am meisten beunruhigt, ist die zentrale Rolle der Technologie und vor allem das blinde Vertrauen, das die Nationen und die meisten BürgerInnen in sie setzen. In den folgenden Zeilen werde ich versuchen, diese Heuchelei, die sich herausgebildet hat, hervorzuheben. Aufgrund des Zeitpunkts, an dem ich schreibe (Ende April, Aktualisierung Mitte Mai), fokussiere ich auf die Rolle der LieferantInnen, um hier konkrete Erfahrungen einzuarbeiten. Ich selber arbeite seit Oktober in einem dieser Unternehmen.
In diesen Tagen haben wir einen starken Shift in Richtung Technologie erlebt. Wir haben entdeckt, dass man nicht ins Kino gehen muss, denn es gibt Netflix; wir bemerkten, dass man nicht im Büro sein muss, um an Sitzungen teilzunehmen, denn es gibt Zoom; wir wussten auch vorher schon, dass man nicht in Geschäfte gehen muss, denn es gibt Amazon; und wir waren beruhigt, dass man nicht ins Restaurant gehen muss, denn es gibt Take-Away und Essenslieferungen. Als Autor dieses Artikels habe ich bereits in einem früheren Text die Verbindung zwischen Internet und Umwelt hervorgehoben. Es ging dort darum, dass die Bits, die durch die Internetkabel der Welt gepumpt werden, für die Umwelt keineswegs harmlos sind. Ich werde mich an dieser Stelle aber nicht mit ökologischen Auswirkungen, wie etwa auch von Streaming-Diensten, befassen. Stattdessen möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Haus-zu-Haus-Dienste lenken, insbesondere auf die Lieferung von Lebensmitteln.
Für die Lieferdienst-FahrerInnen hat sich seit Anfang der Krise, und damit seit der Einführung der sogenannten „kontaktlosen Lieferung“ nicht viel geändert. Die heuchlerischen Regeln, die die Verbreitung des Virus verhindern sollen, beinhalteten und beinhalten keinerlei Sicherheitsausstattung wie Masken und Handschuhe. Hingegen haben sich die Restaurants in Schlachtfelder verwandelt, die aus Tisch-Barrikaden bestehen, um zu verhindern, dass unbefugte Personen die Räumlichkeiten betreten – einst voll mit KundInnen, dann leer. Die EmpfängerInnen der Lieferungen verstecken sich hinter ihren Haustüren, als ob sie Angst hätten, die FahrerInnen wären Virenschleudern, die nun versuchen würden, in ihre Häuser einzudringen. Es sorgt meist für Gelächter und Verlegenheit, dass sie die Mahlzeiten aus den geöffneten, auf dem Boden stehenden Rucksäcken nehmen müssen, um zu verhindern, dass die FahrerInnen die Lebensmittel berühren. Zweifellos sind diese menschlichen Momente auf der Individualebene interessant, aber ich möchte mich eher auf technologische und makroskopische Aspekte konzentrieren, die ich aus meinem Erfahrungsbereich reflektieren konnte.
Die FahrerInnen, wie auch die PostbotInnen und alle anderen oben erwähnten Angestellten, die an vorderster Front in sogenannten „systemrelevanten Berufen“ tätig sind, sind die schweigende Armee, die es einigen Industrien und Unternehmen ermöglicht, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten fortzusetzen, wenn auch auf andere Weise. RestaurantbesitzerInnen, die ihre Mahlzeiten nur noch nach Hause liefern können und 30 % des Verdienstes den Zustelldiensten überlassen müssen, können in dieser Situation nur mit Not und Mühe den Kopf über Wasser halten. Sie sind oftmals gezwungen, einen Teil ihres Personals zu entlassen. Im Gegensatz dazu haben Unternehmen wie Amazon und Lieferando ihren Umsatz zweifellos gesteigert. So hat Amazon vor kurzem aufgrund der gestiegenen Nachfrage neue MitarbeiterInnen eingestellt. Und Lieferando bedient mit Stand Ende April sehr viel mehr Restaurants als einen Monat zuvor – wobei die gleiche Anzahl von MitarbeiterInnen mit dem gleichen Gehalt wie zuvor beibehalten wurde.
Ich frage mich: Wie ist es möglich, dass Unternehmen, deren Aktivitäten als systemrelevant gelten, nicht verstaatlicht werden, um wirklich bedürftigen Menschen, die ohne Bewegungsmöglichkeit in ihren Häusern festsitzen, zu helfen, anstatt durchschnittliche Benutzer, die hauptsächlich der jungen Mittelschicht angehören, dazu einzuladen, ihre Zeit auf verschiedenen Plattformen zu verbringen, um durch Konsum den Geldfluss weiterhin sicherzustellen: „Sie brauchen sich nur zurücklehnen und auf Ihre Bestellung zu warten.“
Aber was hat das mit der Heuchelei bei technologischen Entscheidungen zu tun? Während KundInnen, die im Augenblick in ihren Wohnungen eingesperrt sind, immer mehr Zeit und Geld auf Plattformen investieren, die Daten der KundInnen sammeln und verwenden, um die Algorithmen zu verbessern oder um Marktanalysen durchzuführen, deren Resultate schließlich an Dritte weiterverkauft werden, leben Firmen, AnbieterInnen wie auch Kuriere in einem konstanten System, das ich als „Diktatur des Algorithmus“ definiere. Die MitarbeiterInnen der Versandzentralen von Amazon, Postkuriere, LebensmittelzustellerInnen, aber auch SupermarktkassiererInnen, unterlagen schon lange vor Covid-19 einem algorithmisch berechneten Arbeitsablauf anstelle von Anweisungen durch einen menschlichen Manager. Sie wissen, dass die Geschwindigkeit, mit der sie die Produkte scannen, vom System überwacht wird. Zeit ist Geld, ohne Ausnahmen für menschliche Regungen. Das mag erklären, warum einige von ihnen manchmal so mürrisch wirken. Was jetzt, in Zeiten der Krise, besonders auffällt, und was ich vorher nie in Betracht gezogen hatte, ist aber die Abwesenheit einer menschlichen Figur in der Lieferkette. Ein Unternehmen wie Lieferando besteht für die FahrerInnen aus nur einem einzigen Namen, mit dem sie ständig digital in Kontakt stehen. Die anderen Figuren des Organigramms sind verborgen. Die wechselnd besetzte Kontakt-Position ist dafür zuständig, alles unter Kontrolle zu halten. Die Fahrer müssen die Anweisungen, die direkt in ihre Telefone gelangen, blind ausführen, ohne zu wissen, wie der Algorithmus funktioniert, der ihnen die Lieferungen zuweist. Im gleichen Chat, in dem sich die gesamte Kommunikation abspielt, müssen auch Probleme und individuelle Beschwerden gemeldet werden. Man ruft in den Wald und hat keine Ahnung, wer zuhört. Können wir eigentlich sicher sein, dass sich auf der anderen Seite des Bildschirms wirklich ein Mensch befindet, oder könnte es sich auch um eine Künstliche Intelligenz handeln? Zusätzlich macht es der beschränkte Kontakt mit dem gesichtslosen Namen auf dem Handydisplay den FahrerInnen schwer, die Strukturen des Unternehmens zu verstehen und die Dreh- und Angelpunkte zu identifizieren. Ohne zu wissen, wer der Anführer ist, wer seine Stellvertreter sind und wer diejenigen sind, die in der Pyramide noch weiter unten stehen, ist es den FahrerInnen unmöglich, einen gemeinsamen Gegner zu identifizieren, sich zusammenzutun und sich somit gewerkschaftlich zu organisieren.
Conclusio: Wir liefern an die gehobene Mittelschicht der Stadt, nicht an Arme oder Kranke. Wir ermöglichen es damit Multinationals, weiterhin Kapital in einer Situation zu produzieren, während Ladenbesitzer, Kunstschaffende und Selbständige zu Hause sitzen und ihre Schulden zählen. Wir sind nicht nur Teil dieser Armee von Arbeitern, die es der Nation ermöglichen wird, aus dieser Situation herauszukommen, und bleiben dennoch unbekannt – sondern die Gesundheit von uns „systemrelevanten“ LieferantInnen wurde gefährdet, ohne dass unser Dienst wirklich „systemrelevant“ war. Und wir arbeiteten nicht nur auf der Ebene der Ansteckung in einer potentiell gefährlichen Situation, sondern – was hier sichtbar wird – viele von uns arbeiten im größeren Zusammenhang und im großen Stil innerhalb einer Diktatur des Algorithmus, dem wir zunehmend ausgesetzt sind.
Denn in der neoliberalen Denkweise kommt Effizienz vor Menschlichkeit. Die oben genannten Arbeitsbereiche werden im Namen der Effizienz seit langem ständig von Algorithmen überwacht. Arbeiter und Arbeiterinnen in verschiedenen Bereichen werden ständig verfolgt, in Zeit und Raum – wie schnell sind sie unterwegs, wie lange brauchen sie, um von A nach B zu kommen, wie lange brauchen sie, um zu pinkeln, wo sind sie und mit wem? Und auch wenn diese Handlungen digital erscheinen mögen, geht es am Ende doch um die Arbeit eines Menschen. Zusätzlich müssen die Zusteller ihre ganze Emotionalität und Frustration in einem Chat ausleben. Eine Beschwerde einreichen, um Krankschreibung bitten und möglicherweise sogar gefeuert werden – alles muss innerhalb ihres eigenen Bildschirms geschehen. Dieses Modell der digitalen Kommunikation und des minimalen Kontakts von Mensch zu Mensch ist perfekt; es gewährleistet Effizienz zu einem sehr niedrigen Preis. Der Vertrag, den diese Leute erhalten, bewegt sich in der Regel an der Grenze zum Mindestlohn, und immer dann, wenn der Algorithmus unterdurchschnittliche Punktezahlen feststellt, sind die Arbeiterinnen und Arbeiter unmittelbar dem Risiko ausgesetzt, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Jemand anderes wird ihn immer dringend brauchen.
Wo ist die Grenze? Diese Diktatur des Algorithmus findet bereits überall statt: im Einzelhandel, am Fließband und im Callcenter. Wie wird es weitergehen? Bildung? Gesundheitssystem? Demokratie? Was wird in Zeiten nach einer Pandemie vernünftig erscheinen? Wird im Namen der Effizienz eine App eingeführt, die Ihre sozialen Kontakte aufzeichnet, während Sie nach den Quarantänemaßnahmen wieder einkaufen gehen können?
The Heroes of the Emergency: The Precariat
Antonio Zingaro, multimedia artist and Internet hacktivist, has been working for a delivery service for several months. He writes from the reality of his job about the hypocrisy during the crisis – and the dictatorship of the algorithm.
I notice a great deal of hypocrisy these days, in general, but especially in relation to our experience with the corona virus. In these weeks we were witnessing numerous social initiatives, some of them in a kind of bottom-up approach, others not, which are intended to counteract, contain or remedy the Covid 19 emergency. Some of these initiatives were self-organized, spontaneous and local actions, such as the wicker baskets hung up in the south of Italy, which asked passers-by to leave food and supplies for those in need; or the messages of helpfulness left behind by neighbours in the various corners of towns to help those most at risk of contracting the virus.
But what worries me most in these times is the central role of technology and the blind trust that nations and even most citizens place in it. In the following lines I will try to highlight this hypocrisy that has emerged. In view of the moment I am writing (April 24), I will devote much attention to the role of suppliers. I myself have been working in one of these companies since October.
These days we have seen an emphasis on the role of technology. We have discovered that you don’t have to go to the cinema because there is Netflix; don’t have to be in the office to attend meetings because there is Zoom; don’t have to go to shops because there is Amazon; and don’t have to go to restaurants because there is Takeaway.
As the author of this article, I have already highlighted the connection between the Internet and the environment in a previous article on the same pages. In particular, it was about the fact that the bits pumped through the world’s Internet cables are by no means harmless to the environment. I will therefore avoid dwelling on the streaming services that have already been mentioned. Instead, I would like to draw attention to door-to-door services, especially food delivery services.
As for the drivers themselves, not much has changed since the beginning of the crisis, and thus the introduction of so-called ‘contactless delivery’. The hypocritical rules designed to prevent the spread of the virus do not include any safety equipment such as masks and gloves. The restaurants, on the other hand, have turned into battlefields consisting of barricades built with tables to prevent unauthorised people from entering the premises – once full of customers, now empty. The recipients of the deliveries hide behind their front doors as if they were afraid that the drivers are virus-slingers who are now trying to enter their homes. It usually causes laughter and embarrassment that they have to take the meals out of the open backpacks standing on the floor to prevent the drivers from touching the food. While the human aspect is very important here, in the following I will focus on the technological and macroscopic aspects rather than the individual level.
The drivers, as well as the postmen and women and all the other employees mentioned above who work on the front line (in so-called “system relevant professions”) are the silent army that enables some industries and companies to continue their economic activities, although in a different way. Restaurant owners who can only deliver their meals to their homes (and have to leave 30% of their earnings to the delivery services) can only keep their heads above water with difficulty in this situation and are often forced to lay off some of their personnel. But companies like Amazon and Lieferando have undoubtedly increased their sales, as the facts show that Amazon has recently hired new employees due to increased demand, and that Lieferando now serves many more restaurants than a month ago, while maintaining the same number of employees (with the same salary as before).
How is it possible that companies whose activities are considered systemically relevant are not nationalized to help people in real need, who are stuck in their homes with no means of movement, instead of inviting the average user, who is mainly from the young middle class, to spend their time on different platforms in order to continue to ensure the flow of money? “You just sit back and wait for your order.”
And what does this have to do with the hypocrisy of technological decisions? The category of suppliers, like that of couriers, lives in a constant system that I define as the “dictatorship of the algorithm”, while the clients, who are currently locked up in their apartments, spend more and more time and money on platforms that collect and reuse their data to improve the algorithms or to carry out market analyses, the results of which are eventually sold on to third parties.
Long before Covid-19, the employees of Amazon’s mail order centers, postal couriers, food delivery people, but also supermarket cashiers, were subject to an algorithmically calculated workflow instead of instructions from a human manager. They know that the speed at which they scan the products is monitored by the system. Time is money, with no exceptions for human impulses. That may explain why some of them sometimes seem so grumpy. What is particularly striking now, in times of crisis, and what I had never considered before, is the absence of a human figure in the supply chain. For the drivers, a company like Lieferando consists of just one name, with which they are in constant digital contact. The other figures in the organization chart are hidden from them. This, changing position, is responsible for keeping everything under control. The drivers have to blindly carry out the instructions that go directly into their phones, without knowing how the algorithm that assigns them the deliveries works. In the same chat where all communication takes place, problems and individual complaints must also be reported. Can we actually be sure that there really is a human being on the other side of the screen, or could it be an artificial intelligence?
The limited contact with the faceless name on the mobile phone display makes it difficult for drivers to understand the structures of the company and to identify the significant points. Without knowing who the leader is, who his deputies are and who are those who are even further down the pyramid, it is impossible for drivers to identify a common opponent, to join forces and thus to organise themselves into trade unions.
We suppliers deliver to the upper middle class of the city, not to the poor or sick. We thus enable multinationals to continue to produce capital in a situation where shopkeepers, artists and the self-employed sit at home counting their debts. Not only are we part of this army of workers that will enable the nation to get out of this situation and yet remain unknown – but the health of us „systemically relevant“ suppliers is put at risk without our service being truly „systemically relevant“. And, not only did we work at the level of infection in a potentially dangerous situation, but – as is evident here – many of us work in the larger context within a dictatorship of the algorithm to which we are increasingly exposed.
In the neoliberal mindset, efficiency has to come before humanity. All the categories of work mentioned above have, for a long time, been constantly under the surveillance of algorithms in the name of efficiency. Workers in all those different fields are constantly tracked, in time and space – how fast do you go, how long does it take you to get from A to B, how long does it take you to pee, where are you and with whom? And even though these might seem digital acts, in the end it’s about a human working. Additionally, delivery riders also have to discharge all their emotionality and frustration in a chat. Filing a complaint, asking for sick leave and possibly even getting fired, everything has to happen within their own screens. This model of digital communication and minimum human-to-human contact is perfect; it ensures efficiency at a very low price. The contract those people get are usually on the border of minimum wage and whenever the algorithm detects under-average scores, the workers are immediately at risk of losing their jobs. Someone else will always desperately need it.
Where will we stop then? This dictatorship of the algorithm is already happening everywhere: retail, assembly line and call center. What will be next? Education? Health system? Democracy? What will seem reasonable in post-pandemic times? Introducing, in the name of efficiency, an app that tracks your social contacts while you go shopping again after the lockdown?