Kamasi Washington beim Inntöne-Jazzfestival im Mai: Christian Wellmann war vor Ort und befindet, dass Festival und Musiker dem Genre kreatives Oberwasser geben und den Jazz zurück ins öffentliche Bewusstsein blasen.
Paul Zauners Bauernhof fungierte beim 33. (!) Inntöne-Jazzfestival abermals als Bühne von und zur Welt. Dass die Verpflichtung Kamasi Washingtons im Umfeld der Konzerte von München und Wien gelang, ist eigentlich ein Wunder, der wohl „kleinste“ Stopp seiner Welttournee, in den Suburbs von Diersbach im Innviertel. Respekt! Alles fühlt sich dort irgendwie „echt“, „ungekünstelt“ an, nah & direkt, einfach, Bio ohne Fake. Ein an seine Grenzen gebrachter Veranstaltungsort, die akustisch (mit)swingende Holzscheune bildete den Rahmen einer mystischen Nacht für die Geschichtsbücher, dieses Intime schaffte es, den Reiz seines Auftritts nochmals zu überhöhen.
Zauner selbst ist Jazzmusiker, Produzent, Biobauer und Erfinder des Inntöne-Festivals, als Posaunist fliegt er regelmäßig gen USA, um mit Musikern zu spielen. Philosophie des Festivals ist es, „Stars“ genauso familiär zu erleben, wie die noch weniger bekannten Insidertipps. Der Sauwald wurde nun an drei Tagen zu Pfingsten um eine gediegene Mischung aus europäischen und amerikanischen, erdigen und avantgardistischen Tönen bereichert.
Schon die Anreise stimmt bestens ein: Hinter einem mit „Jazz“ beschrifteten Orientierungs-Pfeiler luchst ein Fasan hinter einem Bienenstock hervor, puh, fast einen Marder mit dem Auto „gerissen“… In der Nachbarschaft ein hinreißendes, poetisches Schild, das „Eier, Schnaps & Likör“ anpreist, statt alles zusammen. Eh, Land, eben. Ringsherum, um Andorf, dröhnen in den Ortschaften die Pfingst-, Zelt-, Feuerwehrfeste, oder künden von Themen-Sommerparties, nach der Fasson der Zeit. Beim Inntöne gibt es – erst recht! – auch ein Zelt im Innenhof, das zum Mitfeiern der Nachbarschaft einlädt, wenn da nicht dieses Gejazze wäre, stört aber niemanden, am Biertisch kummandleitzsoam.
Saxofonist, Komponist, Produzent und Bandleader Kamasi Washington gibt dem viel geschmähten Genre Jazz kreatives Oberwasser und bläst ihn zurück in das öffentliche Bewusstsein. Jazz jenseits seiner konventionellen Grenzen. Indem Washington alle Ansichten überschreitet, was Jazz zu sein hat, ist er drauf und dran, ihn wieder zur Musik zur Zeit zu machen. Diese Hoffnung vermittelt er zumindest. Das gelingt ihm ähnlich, wie dies Kendrick Lamar für Hip-Hop praktiziert, auf dessen Geniestreich To Pimp A Butterfly er maßgeblich beteiligt war.
Musik, die wie eine Trotzreaktion auf den Zeitgeist wirkt, mit einer Klangsprache, die auch in Richtung Hip-Hop, Klassik, Soul, R&B oder Elektronik offen ist, und die schon jetzt als Meilenstein in der Musikgeschichte gefeiert wird. Metaphysischer, afrofuturistischer Cosmic Jazz. Seine 2015 erschienene Sound-Odyssee The Epic, eine dreistündige Demonstration in Sachen spirituellem Jazz, machte ihn zum Fackelträger seiner Generation für fortschrittliche und improvisierte Musik. Jüngeres Publikum begann sich wieder für modernen Jazz zu interessieren, ihn in Popmusik-Kreisen zu verbreiten. Der Hauch von Coltrane, Pharoah Sanders oder John Gilmore (Sun Ra) beseelt sein Saxspiel, unter anderem, oder auch Busta Rhymes, dessen Verse er wiederzugeben versucht (normalerweise versuchen Rapper Bläser nachzuahmen), aber er macht sein eigenes Ding, auf jeden Fall. „Ich identifiziere mich zuallererst als Musiker, es geht nicht darum, dass ich ein Jazz-Musiker bin. Ich bin ein Musiker, aber Jazz ist die Musik, die mich inspiriert hat, Musiker zu werden“, so Washington in einem Interview mit Wax Poetics.
Letztes Jahr schuf er mit Harmony of Difference eine Multimedia-Installation (und ein gleichnamiges Mini-Album) zur angesehenen Biennale im Whitney Museum of American Art in New York. Seine riesige Fangemeinde wächst kontinuierlich, stellvertretend dafür werden seine Shows bei weltweit bedeutenden Festivals mehr, wie Glastonbury, Primavera oder dem kalifornischen Pop-Festival Coachella, wo er vor kurzem mit erweiterter Streicher-Band vor Beyoncé auftrat. New York, Tokio, Diersbach.
Da fliegt mir doch das Scheunendach weg. Das Warten aufs Konzert, wegen Umbaus und Soundcheck, dauerte dann fast länger als der eigentliche Auftritt, was sich im Nachhinein als optimaler Spannungsbogen herausstellen sollte. Förmlich ausgehungert schlang das Publikum dann zu später Stunde den kollektiven Soundpudding in einem Stück runter. Faszinierend an dieser Band ist die kaum in Worte zu fassende Energie, die sie in den Raum stellte. Eine geballte Ladung, ihr Handwerk am Limit ausführende MusikerInnen: zwei super-tighte Schlagzeuger, spacy Keyboards, eine Prise P-Funk versprühend, zweiter Bläser, ein Kontrabassist, der sich mit Effekten in alles Mögliche morphen kann, eine Sängerin als harmonische Grazie oder Kontrapunkt, dazu Washingtons Vater, Rickey Washington, und, ach ja, fast vergessen … Kamasi. Jeder für sich, wenn er nur solo gespielt hätte, wäre schon unglaublich gewesen. MusikerInnen, die schon seit ihrer Kindheit zusammenspielen, das fühlt sich wie „Posses“ im Hip-Hop an. Die Hälfte in Shades, alt und jung, eine „höllisch“ eingespielte Truppe – alle waren sie schon auf oben beschriebenem, wegweisenden To Pimp A Butterfly-Album vertreten. Wie bei allen großartigen Bands ist der „Frontmann“ nicht der „Star“, das ist die Band – wie im Fußball, die Mannschaft entscheidet zusammen ein Spiel. Von sanften Passagen hin zu hartem und schnellem Fusion-Sound, Schlagzeug-Solos der anderen Art, Soul- oder Elektronik-Sprengsel eingeflochten, plötzlich afrikanische oder brasilianische Rhythmen, Groove Is In Da Hut. Der Sound ist niemals retro, ist total im Jetzt, weiß um Geschichte, Einflüsse, und präsentiert sich, so wie sich die Welt darstellt, in all ihrer Komplexität und Schönheit. „Die Schönheit der Gegensätze und das Geschenk der Vielfalt“, wie Washington während des Auftritts dazu anmerkte. „It’s not to tolerate, but to celebrate people.“ Einheit durch Vielfalt, der Geist von Sun Ra schwebt im Raum. Auch merkt er an, dass er schon an allen möglichen Plätzen war und gespielt hat, aber, sich umblickend: „Das ist wirklich eine sehr coole Scheune!“ In philosophischen Gefilden fischt der letzte Track der prachtvollen EP Harmony of Difference, der auch am Live-Menüplan steht, in dem sich Washington mit Variationen von Motiven spielt und sie alle in diesem Lied (Truth) vereint. Jeder spielt seine eigene Melodie, das ergibt ein überwältigendes (Hör)Bild. „I’m a heavy daydreamer – but yes, now, I’m here“, setzte er diesem epischen Song voran.
Ein weiteres Highlight ist der Jazz/Soul/Funk-Groover Abraham aus der Feder des Bassisten Miles Mosley – oder das wütende Fists of Fury vom neuen Album, das irgendwie, oder auch nicht, wie ein Rocksong anklingt, komplex zwar, aber eingängig funkey, wenn man sich darauf einlässt. Ein politisch aufgeladener Song der New Civil Rights Era, Soundtrack zur Unzeit. Schon bei Malcom’s Theme (von The Epic) griff er die Thematik auf, doch hier bekommt das eine fast aggressive Bedeutung. Der Text rückt von der (immer wiederkehrenden) Harmonie im Rest seines Sets ab, er versucht gar nicht, die Wut, die in den USA gerade vorherrscht, zu verbergen. Akzente überschlugen sich, Bläser ließen die Fäuste in die Höhe schnellen, dabei zum Mittanzen einladend, bis Sängerin Patrice Quinn sang, schlussendlich brüllte: „Unsere Zeit als Opfer ist vorbei. Wir werden nicht länger Gerechtigkeit verlangen. Wir werden Rache nehmen.“ Ein Hit des Jahres, zweifelsohne, perfekt gesetzt, als letzter Song eines Abends, der noch lange nachhallen wird: danach keine Zugabe, die Message soll bleiben. Tja, eigentlich war es nur der letzte Song für die, die gingen – weil die Band noch anschließend bis zum ersten Hahnenschrei in einem zweiten Raum des Bauernhofes eine Jam Session für die Verbleibenden abballerte.
Sein im Juni erscheinendes, zweites Album Heaven & Earth, wovon zwei Stücke live präsentiert wurden, und das Kamasi Washington knapp über einem See schwebend am Cover zeigt, gilt als eines der am sehnsüchtigst erwarteten von 2018, bereits vorab als Platte des Jahres gehandelt. Sein Twitter-Statement dazu: „Die ‚Earth‘-Seite repräsentiert die Welt, wie ich sie von außen sehe, die Welt, dessen Teil ich bin. Die ‚Heaven‘-Seite repräsentiert die Welt, wie ich sie nach innen sehe, die Welt, die Teil von mir ist.“ Gelebte Realität einerseits, seine eigene Realität schaffen anderseits. Da passt es auch perfekt, dass Heaven & Earth auf dem hippen Young Turks-Label erscheint, das sonst eher Poppiges/Gehyptes wie The Xxs, FKA Twigs rausbringt. Das zeigt auch, dass Jazz nicht mehr nur für deine Großeltern ist, sondern eben auch im Pop angekommen ist. Jazz anno 2018, keinen Trends nachhechelnd, aber sie setzend. Vielleicht eine der toughesten Livebands des Planeten, live noch um einen Tick mitreißender als auf den sowieso schon grandiosen Platten. Das Schönste zum Schluss – das alles ist wohl erst der Beginn.
www.inntoene.com
www.kamasiwashington.com
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