Der Wiener Theatermacher Max Kaufmann kutschiert einen LKW umher, in dem spielt es Filme. Das mobile Milieu Kino wird mittlerweile gerne gebucht und war im Sommer auch zum Perspektiven-Festival nach Attersee gereist. Ralf Petersen durfte mitfahren. Ein Reisebericht – mit Rückblicken auf die Entstehungsgeschichte des mobilen Kinos und Einblicken in dessen eigenen Milieufilm SINE META DROM.
Um Viertel nach zwölf verlassen wir das Time’s-Up-Gelände. Hier, am Linzer Hafen, durfte das Milieu Kino, getarnt als unscheinbarer Lkw, seit seinem letzten Einsatz parken. Der letzte Einsatz, das war das Schäxpir-Festival. Da stand das Mobil auf dem Urfahraner Marktgelände und wurde durch das Theaterfestival bespielt. Nun geht die Reise weiter. Nächstes Ziel: Attersee am Attersee. Eva Grün, die Kinobetreiber Max zur Unterstützung an den Attersee begleitet, navigiert uns auf die Autobahn: „Richtung Salzburg!“
Pünktlich zu Fahrtbeginn beginnt es zu regnen. Ich sitz auf der Hinterbank der geräumigen Fahrerkabine. Die erste Dreiviertelstunde kriecht das Milieukino die Steigungen hoch, dann ist der Motor warm. „Die Tankanzeige ist nicht sehr korrekt“, sagt Max. Wir steuern eine Raststation an. Die Orte, an denen das Milieu vorbeikommt, an denen würde es auch gerne betrieben werden: Auf dem Lkw-Parkplatz bei der Truckerzwangspause etwa oder an eben einer Raststätte, wo nachts alle im Auto bleiben, weil sich niemand so richtig sicher fühlt. „Diese Orte find ich am spannendsten!“, sagt Kaufmann.
Pause vorbei: Der Lkw, Baujahr 1988, importiert aus Berlin, rumpelt weiter. Die Gangschaltung ist nicht die feinste; wenn ein Gang nicht reingeht, muss man ihn überspringen. Das Milieukino ist kein profitorientiertes, sondern ein Herzensprojekt. Das äußert sich darin, dass in aufwändiger und detailverliebter Kleinstarbeit ein Lastwagen, den man mit seinen Macken lieben muss, zu einer Art Erlebnis-Kino-Maschine transformiert wurde.
Max Kaufmann ist künstlerischer Leiter des Theaters Odeon in der Wiener Leopoldstadt. Im Odeon, 1988 von seinen Eltern gegründet, ist Max auf- und in die künstlerische Arbeit hereingewachsen. Sein Zugang sind Bühnenbild und Ausstattung, aber auch das Filmschaffen ist schon lange Teil seiner künstlerischen Produktionsweise. Mit dem Gründungsensemble des Odeons, dem Serapionstheater, drehte Max sporadische Kurzfilme, alles immer schnell und trashig. Doch es gab die Idee zu etwas Größerem: Nun sollte es eine aufwändige Produktion werden, ein „richtiger“ Film. Aber statt Handlung, Treatment oder Drehbuch schwebte Kaufmann vor allem eine Frage im Kopf: Wie würde man den Film präsentieren? Die Antwort war schnell gefunden: Natürlich im eigenen Kino, das nur noch gebaut werden muss. Wie lang kann das schon dauern?
Abfahrt St. Georgen im Attergau, „unsere“, weiß Navigatorin Eva. Gleich sind wir da, doch ist Perspektiven-Ko-Kurator Thomas Kasebacher nicht erreichbar. Der sollte vor Ort das Milieu auf den richtigen Stellplatz lotsen. Der Lkw hat derweil zu quietschen begonnen. Manchmal wird der Keilriemen nervös. Also erstmal hin, nach Attersee am Attersee. Neben dem Bahnhof ist auf einem Parkplatz ein Bereich mit rotweißem Sicherheitsband abgesperrt. Kaufmann absolviert ein umfangreiches Einparkmanöver, bei dem die ideale Platzierung des Wagens sowie Gastgartens austariert werden. Schließlich zufrieden, wird die Rückseite des Ladekoffers mit wenigen Handgriffen zum Foyer mit Kassa und Bar transformiert. Die Neonschrift verkündet leuchtend die Ankunft: Milieu KINO. Inzwischen sind auch Ko-Kurator Kasebacher und Ko-Kuratorin Barbara Gölles da, die den Lkw für das Perspektiven-Festival mit Katharina Mücksteins Dokumentation FEMINISM WTF bespielen.
Doch nochmal zurückgespult: Nachdem Max Kaufmann in Berlin den Laster, der einst als „luftgefederter Möbelzug“ für Speditionen diente, entdeckte, kaufte und nach Wien überführte, wurde der auf einem Wagenplatz abgestellt. Der Ausbau konnte beginnen. Der Weg zum Lichtspielhaus bzw. -wagen war mit vielen Hürden und Teilaufgaben verbunden, so machte Kaufmann zunächst einmal den B-Führerschein, kaufte sich ein Auto, einen alten Volvo. Er gewöhnte sich an die rasante Existenz eines motorisierten Verkehrsteilnehmers, bevor er seine Papiere ein Jahr später um den C-Schein, die Lkw-Lenkberechtigung, erweiterte. Früh zeigte sich, dass das Herzens- auch ein Großprojekt war. Mit lockerer Punkerattitüde war es für Kaufmann selbstverständlich, sich in Do-it-yourself-Manier alles selbst beizubringen, wenn es um Reparaturen und Erweiterungen ging. Freund*innen halfen und waren mal mehr, mal weniger eingespannt. „Ich hab die Stoßstange montiert“, erinnert sich Eva Grün. So schnell, wie anfangs gedacht, ging es dann aber nicht: Gute zehn Jahre dauerte es bis zur ersten Filmvorführung. „Man ist nie fertig“, sagt Kaufmann, dem sofort noch eine To-Do-Liste einfällt: Schienen für die Buchstaben auf den Leuchtkisten zum Beispiel.
Und der große Film, der eigentlich zuerst und zuvor geplant war? Der ist mittlerweile auch fertig und handelt vom Wiener Praterstern, für Kaufmann Ort des täglichen Lebens. Es ist eine filmische Achterbahnfahrt durch und entlang des Verkehrsknotenpunktes. Ausschlaggebende Inspiration zur Stoffentwicklung waren Berichte und Schlagzeilen von Boulevard- und Lokalmedien, die den Praterstern als Horrorort ausmachten. Außerdem überhöhte Kaufmann ein Gespräch, in dem jemand sagte, um zum Würstel-Prater zu gehen, würde er Umwege in Kauf nehmen, da es ihn am Praterstern grusele. Der Film, gemäß dem Titel -SINE META DROM- ein Weg ohne Ziel, sollte nun den als Angstszenario empfundenen Alltag sozusagen als Attraktion begehbar machen, nämlich den Alltag derer, für die der Praterstern Heimat und Zuflucht war und bot. Die Fahrt führt die Zuschauer*innen durch sich verdichtende Situationen, durch die inneren Zustände der Wiederkehrer, deren Ort der Praterstern ist: Gestrandete, Gehetzte, Arbeiter*innen, Wütende, Traurige, Hütchenspieler. Gerahmt ist die Realfilmhandlung von aufwändigen Stop-Motion-Animationen, für die eigens ein 1:7-Modell des Drehorts gebaut wurde. „Ein unglaublicher Aufwand“, sagt Regieassistent Artur Schernthaner-Lourdesamy, „die Produktion ist aus allen Fugen geplatzt!“
Zur Aufführung kam SINE META DROM – wo sonst – am Praterstern. Innerhalb von 35 Tagen strömten bei vier bis fünf Vorstellungen pro Tag über 2000 Leute ins Milieukino. „Die Idee war“, sagt Kaufmann, „dass das Publikum nach dem Film den Ort mit anderen Augen sehen würde.“ Das Serapionstheater und das Milieu Kino hatten kein geringeres Ziel, als quasi durch Inszenierung und Verfilmung „dem Praterstern den Praterstern zurückzuspielen“. Ein Gesamtkonzept, das manch Medienvertreter übersah, und dann lieber über den Lkw, nicht aber auch über den Film berichtete. Kaufmann sagt, dass sei, als ob ein Kritiker in ein Restaurant gehe, und dann „über die tollen Räumlichkeiten, aber nicht übers Essen redet.“ Auf der anderen Seite sei das – der Attraktionsfaktor des Milieus – natürlich auch spannend, insofern es für ein weniger cinephiles Publikum eine Zugangsmöglichkeit zum Medium Film bedeute. Das geschah zum Beispiel beim Kurzfilmfestival Vienna Shorts, bei dem, schon aus Neugier, auch weniger Filmbegeisterte im Milieu landeten und zum Kinogenuss kamen.
Max Kaufmann, ohne Fernseher aufgewachsen, erinnert sich noch genau an seinen ersten Kinofilm. Noch nie hatte er laufendes Bild gesehen, da – Max war sechs – kam seine Mutter Ulrike auf die spontane Idee: Ab ins Kino! Geschaut haben die beiden damals „Singin’ in the Rain“, ein Filmmusical mit Gene Kelly. „Absolut magisch!“, sagt Kaufmann.
„Hier gibt’s was zu sehen!“, preist Eva die Abendvorstellung gegenüber Passanten an, die das Kino bestaunen. Max erzählt, eine Frage, die man oft höre, sei: „Ist das ein echtes Kino?“ Lange musste er überlegen, wie man der Ungläubigkeit begegnet. Jetzt weiß er es: „Es ist echt! Es gibt einen 35mm-Projektor, mit dem wir echten Film spielen können!“ So wundert es auch wenig, dass das Milieu Kino, dessen Name sowohl das Attribut elegant als auch verrucht vermitteln sollte, im September beim Untergrundfilm-Festival GEGENkino in Leipzig gebucht ist. Weil der Projektor beim Milieukino nicht versteckt, sondern einsehbar hinter der Kassa befindlich ist, eignet es sich ausgezeichnet, um die Haptik und Schönheit traditioneller Filmvorführung zu feiern sowie Raritäten und Kuriositäten zu zeigen. Das GEGENkino greift damit den Flüchtigkeitsaspekt auf, unter dem sich das Milieu Kino in die Tradition des Wanderkinos einschreibt: Heute hier, morgen dort. Kaufmann reizt das Temporäre. Er wünscht sich, Baulücken zu bespielen, Unorte, Zwischennutzungen. Mit eigener Programmierung, Filmen von Freund*innen oder alten Kinofilmen. „Es ist erst der Anfang!“, sagt Kaufmann. Irgendwann werde das Milieukino sich ein Repertoire aufbauen, Routen abfahren, an Orte kommen, Filme sammeln, sie woanders hinbringen und dort aufführen, ob an Raststätten oder U-Bahn-Stationen. Das ist eine neue Idee: Aus der U-Bahn in das Kino und den Film, dann wieder in die U-Bahn. Der Umstieg ins Kino führt zu einer Schleife in der Realität.
In Attersee am Attersee ist das Milieu gut besucht, auch der Schanigarten ist Treffpunkt für ein vielschichtiges Publikum: Urlauber*innen, Kulturtourist*innen, Nachtschwärmer*innen. „Eine echte Kino-Atmosphäre, das taugt mir total!“, sagt ein Gast. Kino, sagt er, bedeute für ihn „in der Öffentlichkeit gemeinsam etwas Unbekanntes schauen.“ In der Plakatvitrine werben Poster für die Vorführung von SINE META DROM im Hafenkino, welches der Time’s Up Kulturverein veranstaltet. Auch diese Vorführung fand mittlerweile am 17. August statt, eben bei Time’s up im Linzer Hafen, Ausgangspunkt dieser Reise – und ohnehin wieder Rückkehrort für das Kino nach dem Perspektiven-Festival. Dort fragte man sich jedoch: Die erste Aufführung des Praterfilms, die nicht am Prater stattfindet? Thomas Kasebacher und Barbara Gölles vom Perspektiven-Festival haben eine bessere Idee: Machen wir diese „Premiere in der Fremde“ doch lieber hier, als Extravorstellung am Attersee! Zufällig ist sogar der Regieassistent vor Ort: Na also, abgemacht.
Das Perspektiven-Festival fand im Juli in Attersee statt: perspektiven-attersee.at
Die Vorführung als Hafenkino bei Time’s up fand am 17. August bei Time’s up statt. timesup.org
Das Milieukino ist ein umgebauter LKW mit 35mm-Projektor und fünfzehn Sesseln, der an verschiedenen Orten auftaucht und Lichtspielvergnügen verspricht. milieukino.net
Kommende Termine: An drei Tagen des GEGENkinos Leipzig 07.–17. 09. 23