Wolfgang Ullrich und Tom Bieling über Artivismus.
In jüngster Zeit, vor allem im Zuge der Flüchtlingsdebatte mehren sich Projekte, die sowohl als Kunst verstanden als auch an politischer Wirksamkeit gemessen werden wollen. Das Stichwort lautet „Artivism“, zusammengesetzt aus dem Englischen „Art“ und „Activism“. Zu den bekannteren Vertretern zählen Künstlergruppen wie das Zentrum für politische Schönheit, Tools for Action, The Yes Men, Peng Collective, Enmedio, Dashndem oder Arbeiten von John Jordan, Liam Young, und Ai Weiwei.
Mit zum Teil performanceartigen, nicht selten provokanten Aktionen, werden – auch unter Zuhilfenahme von Social Media – politische Diskurse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und angefeuert. Dabei bleibt bisweilen unklar, inwiefern beides – künstlerischer und politischer Anspruch – miteinander verbunden und wechselseitig begründet sein soll.
Handelt es sich bei dieser Unklarheit um eine Schwäche oder eher um eine gezielte Strategie? Wolfgang Ullrich und Tom Bieling werfen einen Blick auf artivistische Ansätze und inspizieren, wie sie funktionieren und was an ihnen problematisch ist.
[Tom Bieling:] Im Verlauf der letzten Jahre mehren sich künstlerische Projekte, die sich im Kosmos aus investigativem und sozialem Engagement, politischem Aktivismus und Aktionismus bewegen, deren Leitmotiv eines zivilen Ungehorsams symbolische Funktionen beinhaltet, die aber auch an direkten, lebensweltlichen Interventionen interessiert sind. Gerade im Zuge der Flüchtlingsdebatte gibt es zahlreiche Projekte, die sowohl als Kunst verstanden wie an politischer Wirksamkeit gemessen werden wollen. Dabei bleibt jedoch oft unklar, wie beides – künstlerischer und politischer Anspruch – miteinander verbunden und wechselseitig begründet sein sollen. Handelt es sich bei dieser Unklarheit um eine Schwäche oder ist sie Teil der Strategie?
[Wolfgang Ullrich:] Das ist sicher Teil der Strategie – allerdings einer, die ich fragwürdig finde. Das Ziel dabei ist, dass man sich, wenn man im Zuge zivilen Ungehorsams Gesetze übertritt oder auch nur mit Anklagen zu rechnen hat, eine Aktion aber als Kunst gelabelt ist, auf die Kunstfreiheit berufen kann. Diese wird gleichsam als eine Art von Blankoscheck verstanden, den man zückt, sobald es eng wird. Allerdings wird dabei übersehen, dass man auch mit der Berufung auf Meinungsfreiheit in einem Rechtsstaat schon sehr weit kommt. Natürlich sind keine Gesetzesbrüche damit zu rechtfertigen. Andererseits ist es aber auch eine merkwürdige Vorstellung, sich als Künstler exklusive Rechte herausnehmen zu wollen – und zu glauben, man müsse sich nicht an Gesetze halten. Da frage ich mich, was für ein Selbstbild solche Menschen haben, ja woraus genau sie ihre Überlegenheit gegenüber anderen, ihren Anspruch auf Immunität eigentlich ableiten. Das geht, so scheint mir, nur mit einem sehr hochtrabenden Genie-Begriff. Zudem wurde die Kunstfreiheit historisch nie als pauschale Immunität verstanden. Vielmehr gab es eine Art von Deal zwischen den Künstlern und der Gesellschaft: Jene dürfen die gewagtesten Dinge tun, solange sie die Grenzen, in denen sie auftreten, klar definieren und respektieren. Auf der Theaterbühne, zwischen zwei Buchdeckeln, auf einem Gemälde, bei einer Performance im Ausstellungsraum darf ich als Künstler andere Menschen verfluchen oder irgendwelche Symbole beschmutzen, darf gegen die Demokratie wettern oder Welten imaginieren, in denen Mord erlaubt oder Vergewaltigung eine bloße Mutprobe ist. Doch sobald ich die Grenze zwischen Kunst und Realität, ja den Spielraum der Kunst übertrete, werde ich auch vom Künstler zum Bürger – und habe mit denselben Konsequenzen für ein gesetzeswidriges Handeln zu rechnen wie jeder andere auch. Es gibt im übrigen viele Beispiele dafür, dass Künstler diese Grenze anerkannt haben, aber mit ihrer Autorität dennoch etwas zu bewirken versuchten. Als etwa in den 1980er Jahren Schriftsteller wie Heinrich Böll gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen protestierten und dabei Zufahrten von Militärstützpunkten blockierten, haben sie sich nie auf die Kunstfreiheit berufen, sondern nahmen bewusst in Kauf, wegen Nötigung verklagt und verurteilt zu werden.
In diesem Zusammenhang wird in letzter Zeit auch wieder vermehrt mit dem Begriff der sozialen Plastik hantiert, der ja in den 1970er Jahren von Joseph Beuys als Versuch formuliert wurde, eine bestimmte Vorstellung gesellschaftsverändernder Kunst zu erläutern. Die darin ausgedrückte Abkehr einer rein formalästhetischen Erschließung von Kunst galt vor allem der Zuwendung zur aktiven Mitgestaltung von Politik und Gesellschaft durch alle Beteiligten, inklusive Künstler und Rezipienten. Inwieweit greift dieses Prinzip bei den artivistischen Projekten, die Sie sich in jüngster Zeit genauer angesehen haben?
Beuys’ Konzept der „sozialen Plastik“ war vor allem gegen die Institutionen der modernen Zivilisation gerichtet. Für ihn waren Bürokratie und Industrialisierung, Rationalisierung und technischer Fortschritt Übel, die mit den kreativen Kräften der Menschen überwunden werden sollten. Beuys war ein Sozialromantiker und Kulturkritiker, der das Organische dem Mechanischen gegenüberstellte und in der „sozialen Plastik“ das Ideal eines organischen Staates erblickte. Deshalb war er etwa auch für direkte Demokratie – eine Demokratie ohne Institutionen, die aus seiner Sicht nur zu Erstarrung und Korruption führen. Bei zeitgenössischen artivistischen Projekten kann ich keine entsprechende Grundsatzkritik an der Moderne erkennen. Vielmehr greift man einzelne Themen sehr punktuell auf, ohne sich auf ein großes Geschichtsbild oder eine metaphysisch-ideologische Weltanschauung zu berufen.
Der Großteil artivistischer Arbeit basiert gleichwohl auf einem erweiterten Kunstbegriff. Die Universalisierung des Kunstbegriffs bringt freilich auch Rezeptionsungewissheiten mit sich: Bemisst man die Arbeit nach politischen Wertmaßstäben oder nach Kriterien der Kunst? Braucht es eine dritte, eigenständige, symbiotische Bewertungskategorie? Oder ist genau diese Frage egal? Schließlich bleibt die Wirkmächtigkeit einer im Deckmantel der Kunst agierenden Protest-Intervention häufig ungeklärt, wenn sie sich im öffentlichen Diskurs verliert. Schlimmstenfalls bleibt sie gegenüber einer „tatsächlichen“ politischen Aktion wirkungslos, gerade weil sie „nur“ als Kunst interpretiert wird.
Was Sie hier ansprechen, ist gleichsam die Kehrseite dessen, was ich vorher erwähnt habe. Dass Künstlern in einem abgegrenzten Raum Immunität zugestanden wird, sie dort also in völliger Freiheit agieren dürfen, ist damit erkauft, dass das, was sie tun, keine reale Wirkung auf die Welt jenseits der Kunst hat. So wie andere Instanzen sich nicht in die Autonomie der Kunst einmischen, besitzt umgekehrt alles, was als Kunst auftritt, den Status eines Als-ob, einer höchstens möglichen Realität. Wenn nun Aktivistengruppen in der realen Welt agieren und dies dennoch als Kunst verstanden wissen wollen, müssen sie damit rechnen, dass man ihre Aktivitäten als lediglich symbolisch und bloßes Als-ob wahrnimmt, eben weil man sich vom Kunstpostulat beeindrucken lässt. Dann droht Wirkungslosigkeit. So etwas wie eine dritte Bewertungskategorie kann es meiner Meinung nach nicht geben: etwas kann nicht zugleich real und möglich sein.
Zumindest stehen die Themenspektren des Artivismus immer in Zusammenhang mit einem konkreten Zeitgeschehen. Aber auch seine Stilmittel sind meist schwer von den damit in Verbindung stehenden Protestkulturen zu trennen. Soziale Bewegungen, insbesondere Protestbewegungen erweitern ihr Formenrepertoire ja permanent. Dabei werden immer auch neue Herangehensweisen ausprobiert und weiterentwickelt. Denken wir beispielsweise an die humorvoll verspielten Aktionen der „Clowns“ im Zuge der Antiglobalisierungsbewegung. Gegenseitige Befruchtungen und ästhetische Überschneidungsformen von Kunst und Protestbewegungen finden sich immer wieder. Sei es im Zuge der Bürger-, Frauen- und Studentenbewegung der 1960er Jahre oder der Friedens- und Umweltbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Die Grenzverläufe zwischen Kunst und Aktionismus sind dabei nicht immer ganz eindeutig: Wenn Pjotr Pawlenski sich vor dem Kreml seinen Hodensack an den Boden nagelt, so geschieht dies aus einer Protesthaltung heraus, aber eben auch als künstlerische Positionierung. Die hieran sich entfachenden gesellschaftlichen Diskurse, auch zu der Frage, wo Kunst anfängt und bloßer Protest aufhört, sind dabei fester Bestandteil der Aktion. Gerade in Zeiten massenmedialer Verbreitung durch Social Networks werden hier Dimensionen erreicht, die Künstlern (und Protestlern) früherer Dekaden verwehrt geblieben sind. Hiermit sind zwei Seiten einer Medaille verbunden: Zum einen ermöglicht die große Reichweite es, Themen auf die Straße zu bringen. Zum anderen müssen sich Artivisten den Vorwurf gefallen lassen, ihre Aktionen dienten nur der Generierung von Klickzahlen. Schmälert es das Anliegen und das Ansehen der Kunst, wenn durch sie vorrangig eine Art „Clicktivismus“ befördert wird, bei dem sich der Betrachter zurücklehnen und in seiner womöglich ohnehin affirmativen Grundhaltung bestätigt sieht? Oder wie Hanno Rauterberg es in der ZEIT ausdrückt: Überzeugt „der Künstler mit seiner Kunst nur die ohnehin Überzeugten“?
Wenn Sie die Geschichte der Protestbewegungen ansprechen, dann kann man wirklich kaum stark genug hervorheben, dass diese oft sehr innovativ und präzise hinsichtlich ihrer Stilmittel und Artikulationsformen waren. Eine Geschichte und Typologie der Ästhetik des Protests ist noch nicht geschrieben. (Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ weist in eine andere Richtung.) Auch weil es da so viel Bemerkenswertes gibt, erscheint es mir unnötig und eitel, wenn heutige Protestgruppen ihr Tun gleich als Kunst verstanden wissen wollen. Es ist nicht neu, dass Protest eine gestaltet-ästhetische Dimension hat. Und, wie gerade besprochen, es schadet vielleicht sogar der Wirkkraft einer Aktion, wenn sie von vornherein als Kunst deklariert wird. Aus meiner Sicht spräche aber nichts dagegen, wenn nachträglich – im Zuge einer historischen Aufarbeitung von Protestkulturen – einige Aktionen mit Kunst verglichen oder dieser sogar zugesprochen würden.
Dass sich Logistik und Ästhetik von Protestkultur zuerst durch die Massenmedien, mittlerweile durch die Sozialen Medien immer wieder verändern, ist zwangsläufig. So etwas wie Clicktivismus kann man daher nicht zum Vorwurf machen, im Gegenteil sind Aktionen sogar eher unzeitgemäß, wenn sie die viralen Möglichkeiten des Internet nicht zu nutzen versuchen. Man kann höchstens fragen, ob bei manchem, was geklickt wird, nicht mehr Aktivität vorgegaukelt wird, als tatsächlich vorliegt. Dann halten User sich für Mitwirkende, die etwas real verändern können, obwohl ihr Verhalten eher symbolische Funktion besitzt. Und Hanno Rauterberg hat recht: Die meisten Formen von Artivismus können höchstens diejenigen mobilisieren, die ohnehin schon dieselbe Einstellung wie die Kunstaktivisten vertreten. Diese versuchen oft auch gar nicht, andere Milieus zu erreichen und Menschen zum Umdenken zu bewegen; vielmehr sind sie stark an ihrem Publikum orientiert, dessen Erwartungen sie entsprechen wollen. Auch hier ist es im letzten eher ein Nachteil, wenn Projekte als Kunst deklariert werden. Man wendet sich dann, wie im Fall anderer Kunstformen, an Interessierte, Insider, gar ein Spezialpublikum – eben an diejenigen, die sich mit (politischer) Kunst beschäftigen – und nicht an die Bürger in ihrer Gesamtheit, deren Meinungsbildung man zu beeinflussen anstrebt.
Vielen artivistischen Projekten und Aktionen der jüngsten Zeit ist gemein, dass sie in Teilen der Bevölkerung Unbehagen und Empörung hervorrufen. Und zwar sowohl in Bezug auf ihre Form als auch auf ihre Funktion. Ein oft gehörtes Argument in solchen Empörungsdiskursen lautet: Die Kunst solle sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Ist es denn aber nicht legitim, dass der Künstler sich konkret mit den Mitteln der Kunst zu bestimmten Positionen und Phänomenen verhält? Die Frage nach politischem Handeln und gesellschaftlichen Idealen stellt und beantwortet er letztlich nicht nur mit anderen Werkzeugen und Methoden, sondern auch mit einer anderen Zielvorgabe als beispielsweise politische Entscheider oder Sozialarbeiter.
Der Vorteil der Kunst besteht freilich immer darin, dass es den Adressaten (z. B. der Staatsmacht) bisweilen schwerfällt, adäquat auf die Aktion zu reagieren. Im Falle von Pussy Riot beruft man sich dann auf fadenscheinige Religionsparagraphen oder führt monströse Regelwerke ein. Wie verhält es sich denn eigentlich mit Verwechslungsgefahren? Wann hören Subversion und der reine Protest auf? Wo beginnt letztlich die Kunst, im Gegensatz zu – sagen wir – politischer oder Sozialarbeit?
Wir müssen hier natürlich unterscheiden, ob es sich um Artivismus in einem westlichen Rechtsstaat handelt oder, wie im Fall von Pussy Riot, um Politaktivismus in einem Staat, in dem die Unabhängigkeit der Justiz nicht sichergestellt ist, wo also ein hohes Risiko eingeht, wer eine gegenüber der Staatsmacht dissidente Meinung artikuliert. Mein Eindruck ist, dass das Bedürfnis, auch als Künstler Anerkennung zu finden, bei Gruppen im Westen deutlich größer ist. Man könnte darin sogar ein Wohlstands- und Luxusphänomen erblicken: Man will nicht nur eine bestimmte politische Haltung artikulieren, sondern auch ein Gefühl von Auserwähltheit verspüren, das Künstler schon immer besessen haben. Gerade weil man in seiner bürgerlichen Existenz nicht bedroht ist, wenn man in einem Rechtsstaat Aktivist wird, verschafft man sich also einen Thrill – eine Exponiertheit – damit, dass man sich zum Künstler erklärt.
Aus dieser selbsterklärten Sonderstellung der Artivisten resultiert aber auch jene spezifische Form von Unbehagen und Empörung in Teilen der Bevölkerung, die Sie ansprechen. So fühlen sich viele – insbesondere weniger gebildete – Menschen von Kunst und gerade von zeitgenössischer bildender Kunst generell überfordert und zurückgesetzt; sie erscheint ihnen oft elitär, rätselhaft, unverständlich. Sie spüren bei den Akteuren Dünkel und Snobismus. Und wenn dann etwas nicht nur als Kunst auftritt, sondern auch noch eine politische Haltung zum Ausdruck bringt, die der eigenen widerspricht, dann kann lange angestauter Unmut, ja dann können Ressentiments, die erst einmal nur der Kunst gelten, in aggressiven Unmutsbekundungen münden. Dass ihnen Kunst fremd ist, haben viele Menschen lange und immer wieder geschluckt, aber dass sie außerdem für etwas steht, das sie ablehnen, ist zu viel für sie. Dann ist auch die entsprechende politische Haltung für sie Ausdruck eines Snobismus, eines elitär-weltfremden Denkens. Man sieht daran einmal mehr, dass die Berufung auf einen Kunststatus den Aktivisten nicht unbedingt nützt: Sie zementieren so politische Lager – und so gut sie ihr spezielles Publikum erreichen und begeistern, so sehr bestärken sie andere in ihrer Ablehnung. Aber vielleicht stört sie das auch nicht, da es ihnen mehr um ihre Rezipienten als um die Gesellschaft insgesamt geht, ja da sie ihr eigenes Gefühl von Auserwähltheit und Überlegenheit noch stärker empfinden, wenn ihnen auch Widerstand begegnet – und wenn dieser von Menschen kommt, die ihnen intellektuell unterlegen sind. Insofern könnte man auch sagen, dass es der Sache nach kaum etwas gibt, was sozialdemokratischen Idealen stärker zuwiderläuft als der heutige Artivismus. Statt daran zu arbeiten, möglichst vielen Menschen Anschluss zu geben und sie mitzunehmen, disqualifiziert man sie als ungebildet und unmoralisch, nur um sich selbst umso besser fühlen zu können. Artivismus ist, etwas überspitzt formuliert, eine spezielle Form von Neoaristokratismus.
Dazu muss festgehalten werden, dass die Kunst heute auch viel schneller auf Menschen und deren Meinungen trifft, die vormals von ihr nicht tangiert wurden, etwa weil man sich in anderen Medienkanälen bewegte. In den sozialen Netzwerken wirkt das Aufeinanderprallen häufiger und vor allem vehementer. Überhaupt scheint in vielen der jüngsten Artivismus-Projekte die Rolle der (sozialen) Medien zentral sein. Aktionen wirken dann besonders erfolgreich, wenn sie viral gehen und die dabei entfachten Debatten möglichst kontrovers sind. Besteht hierbei nicht auch die Gefahr, sich allzu sehr in skandalträchtige Denkmuster zu begeben und sich den Regelwerken der massenmedialen Aufmerksamkeitsökonomie unterzuordnen? Anders gefragt, lässt sich einem – als solchem empfundenen – Elend entgegenwirken, wenn man es mit elends-voyeuristischen Mitteln thematisiert?
Vor allem stellt sich auch die Frage, ob der Anspruch, Kunst zu machen, mit einer Skandalisierungslogik des Boulevards vereinbar ist, denn traditionell hat sich Kunst massenmedialen Kategorien ja gerade verweigert. Manche Gruppen gehen hier jedoch sehr professionell vor, indem sie einerseits etwas präsentieren, das die Bedürfnisse der Skandalpresse befriedigt, andererseits aber Elemente einbauen, die ausschließlich ihre eigene Klientel, also das Kunst- oder Theaterpublikum bedienen. Denken Sie etwa an die Aktion „Flüchtlinge fressen“, die das Zentrum für politische Schönheit im Juni 2016 veranstaltete. Dass da Tiger in Käfigen ausgestellt wurden, denen sich angeblich Flüchtlinge zum Fraß vorwerfen lassen wollten, stellte eine breite Berichterstattung in den Massenmedien sicher, ebenso sorgte es für vorhersehbare Proteste von „besorgten Bürgern“ und Tierschützern und damit für noch mehr Aufmerksamkeit. Für die Leute, die mit ein bisschen Klicken die Welt verbessern wollen, gab es zugleich ein Crowdfunding und eine Website, auf der man für oder gegen einzelne Flüchtlinge voten konnte. Und für die Intellektuelleren und das exklusivere Kunstpublikum fanden Reden im Theater sowie Diskussionsrunden statt. Die einzelnen Teile der Aktion waren so angelegt, dass man sie ganz unabhängig voneinander rezipieren, also gezielt nur das wahrnehmen konnte, was den eigenen Interessen und Erwartungen am besten entspricht. Hier scheint mir ein Maximum an Zielgruppenorientierung und Aufmerksamkeitsmanagement erreicht zu sein.
Offen bleibt stellenweise, inwieweit all dies der Sache an sich dient. Nehmen wir das Beispiel des Projektes „Green light“ von Olafur Eliasson, bei welchem er kürzlich in Wien Lampen von einer Gruppe Geflüchteter zusammenbauen ließ, die dann für einen guten Zweck verkauft werden sollten. Und lassen wir die Frage, inwieweit hier das Label „Artivism“ überhaupt greift, einmal außer Acht. Wenn es tatsächlich um einen konstruktiven Beitrag in Bezug auf die Situation von Flüchtlingen geht, ist solch ein Projekt dann nicht letztlich kontraproduktiv?
Das Kontraproduktive dieser Aktion besteht für mich darin, dass es Eliasson nicht gelungen ist, das undifferenzierte, vielfach klischeehafte Bild, das in der Öffentlichkeit von Flüchtlingen herrscht, zu modifizieren, ja dass die gesamte Aktion sogar auf diesem klischeehafte Bild basiert. So ließ man die Flüchtlinge öffentlich und in Gruppen arbeiten, so als benötigten sie keine Privatsphäre und träten gleichsam von Natur aus immer nur im Plural auf, man ließ sie die immer selbe simple Tätigkeit verrichten, so als seien sie ungebildet und kaum lernfähig, man bot ihnen mit der Lampe ein Objekt, das nur eine rudimentäre Symbolik von Hoffnung zum Ausdruck bringt, so als seien sie für komplexere Inhalte oder Formen zu primitiv. Ob man mit traumatisierten Menschen aus der eigenen Kultur auch so umgegangen wäre, ist sehr zu bezweifeln. Gegenüber Flüchtlingen fehlt es bei einem Projekt wie „Green light“ also offenbar an Empathie. Dabei hat man doch gerade der Kunst in ihrer Geschichte immer wieder zugetraut, ja sogar von ihr verlangt, dass sie in der Lage ist, durch eine Stimulierung der Einbildungskraft Empathie für Menschen in anderen Lebensverhältnissen zu stiften.
Es entsteht mitunter der Eindruck, dass gerade im Flüchtlingskontext viele kunstaktivistische Projekte aus einem naiven, unreflektierten Zusammenhang heraus entstehen. Der große Gestus des humanitären Aktes, des Handelns im Auftrag der Menschlichkeit, entpuppt sich dabei schnell als profaner, banal plakativer Schnellschuss. Wenn es tatsächlich um Kunst um des Aktivismus Willen geht, stellt sich die Frage, inwieweit die jeweiligen Künstler dem wirklich gerecht werden. Einige der jüngsten, populäreren Artivismus-Gruppierungen sind jedenfalls mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre Aktionen würden in erster Linie der Schärfung ihrer eigenen Marke dienen und weniger der Sache an sich.
Das stimmt, allerdings ist dieser Vorwurf vielleicht manchmal etwas ungerecht und einseitig. So hat man es durchaus oft als Aufgabe von Künstlern angesehen, dass sie einen eigenen Stil entwickeln und sich in Szene setzen, also, wenn man so will, ihre eigene Marke schärfen. Erst vor dem Hintergrund, dass es bei Projekten der Artivisten um Flüchtlinge geht, erscheint das auf einmal als zu egoistisch und selbstverliebt. Dass das Schicksal der Flüchtlinge nicht unbedingt im Zentrum des Interesses steht, ist jedoch in anderer Hinsicht, wie ich finde, viel interessanter. So richten sich viele Projekte – nicht zuletzt auch „Green light“ – an ein Kunstpublikum. Wie viele andere Formen zeitgenössischer Kunst bieten sie dabei die Chance auf Partizipation: aktive Teilnahme an politischem Protest oder an Integrationshilfen. Man kann etwa eine der Lampen online oder im Museumsshop kaufen, bei anderen Projekten kann man spenden oder eigene Zeit und Fähigkeiten zum Einsatz bringen. Angesprochen werden damit wertebewusste Bürger, die längst gewohnt sind, vor allem Kaufentscheidungen nach moralischen Kriterien zu fällen und dafür einen Mehraufwand zu leisten. Wenn man etwas teurer kauft, damit von diesem Geld unterprivilegierten Menschen geholfen werden kann, erfährt man den eigenen Konsum als ein Handeln, das die Welt verändert. Etwas kritischer könnte man darin einem Ablasshandel erblicken, mit dem die Konsumenten und genauso die Teilnehmer an artivistischen Aktionen ihr schlechtes Gewissen – die Sorge, selbst zu wenig zu tun – besänftigen, vielleicht sogar in gutes Gewissen verwandeln. Künstler wie Eliasson sind also gerade deshalb beliebt, weil sie dem Publikum eine Gelegenheit verschaffen, durch Partizipation Schuldgefühle abzuarbeiten. Diese entstehen insbesondere bei Menschen, die selbst keine Opfer sind und auch kaum erfassen können, was es heißt, eines zu sein. Entsprechend wollen sie gerne eine Art von Tribut leisten. Daher braucht nicht zu wundern, wenn die Qualität artivistischer Projekte nicht daran gemessen wird, wie überzeugend sie ein alternatives Bild von Flüchtlingen zu etablieren vermögen oder ob sie durch Empathieleistungen wirksame Solidarisierungsbewegungen in Gang setzen können. Sofern es vielmehr darum geht, Rituale zur Entlastung von schlechtem Gewissen anzubieten, ja sofern vor allem der Seelenhaushalt des Publikums von Bedeutung ist, unterscheidet sich aktuelle politische Aktionskunst im Übrigen kaum von anderen, oft als elitär oder konservativ verdächtigten Kunstgattungen aus der Geschichte der Kunst. Wie schon so oft geht es auch diesmal um eine Art von Läuterung des Publikums.
Die Frage ist ja, wen kann ich mit einer Arbeit so überzeugen, dass sich auch wirklich etwas ändert? Wer genau mit der Kunst adressiert werden soll und wer sich letztlich von ihr angesprochen fühlt, scheint häufig nicht klar zu sein. Der eigentliche Clou bei Schlingensiefs Container-Aktion beispielsweise bestand ja damals darin, dass genau nicht nur Leute aus den eigenen Reihen angesprochen wurden, sondern es tatsächlich auch um einen Miteinbezug einer breit gefächerten Passantengruppe und somit auch rechter Wähler ging.
Sie sprechen einen wichtigen Unterschied an. So scheint mir im Fall fast aller heutigen Aktivistengruppen, wie schon ausgeführt, sehr wohl klar zu sein, an wen man sich adressiert. Eben an jenes bildungs- und konsumbürgerliche Publikum, das ein Verantwortungsgefühl angesichts der herrschenden politischen Zustände empfindet, aber entweder nicht die Möglichkeiten sieht oder nicht engagiert genug ist, um in anderer Form als bei einer mehr oder weniger symbolisch bleibenden Kunstaktion mitzuwirken und so zu einem besseren Gewissen zu gelangen. Bei den stärkeren Aktionen von Schlingensief war hingegen bemerkenswert, dass weder die Adressaten klar waren noch die Botschaft. Da gab es keinen klaren Frontverlauf zwischen „gut“ und „böse“ – als Rezipient oder Partizipant musste man vielmehr damit rechnen, sich plötzlich ganz woanders als erwartet wiederzufinden. Um es zuzuspitzen, könnte man auch sagen, dass Schlingensief nicht gutes Gewissen, sondern schlechtes Gewissen erzeugte. Bei ihm konnte und sollte man sich nicht zu bestimmten Werten bekennen, sondern bisher ungeahnte Seiten und Abgründe in sich entdecken.
In der Druckausgabe der Referentin ist eine gekürzte Version dieses Interviews abgedruckt. Diese Version ist das vollständige Interview.
Artivismus, Teil 2, in einem der kommenden Hefte.
Wolfgang Ullrich, Autor, Kulturwissenschaftler und Kunstphilosoph, lebt in Leipzig und München. Zuvor u. a. Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Forscht zu Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, bildsoziologischen Themen und Konsumtheorie.