Die politische Geisterbahn und die literarische Drastik
Die Referentin #39
So einiges ist erstmal vom Tisch, aber was sich insgesamt derzeit politisch abspielt, wäre selbst als Plot für die fiktionaleren Genres der Literatur bizarr. Die Psychopathen-Ebene der politischen Realität bzw. deren Geisterbahn-Personal werden an dieser Stelle auf literarische Tauglichkeit abgeklopft. Oder: Redaktion fragt, Autorin Dominika Meindl antwortet.
Ja eh. Foto Die Referentin
Redaktion: Ein valides literarisches Mittel ist die Drastik, um wahre Anschauungen über die Welt zu fabrizieren. Allerdings: Welche Geschichten kann man als Schreibende überhaupt noch erzählen, wenn zum Beispiel Alice Weidel, Kanzlerkandidatin der „teils“ rechtsextremen AfD, einer Partei, die dezidiert alleinig das Mutter-Vater-Kind-Modell akzeptiert, als Lesbe mit einer gebürtig aus Sri Lanka stammenden Filmregisseurin zusammenlebt. Weidel und ihre Partnerin ziehen gemeinsam zwei Kinder auf – und leben, wie ihre Partei das wohl nennen würde, im „Elitenstaat“ Schweiz. Alles auf Wikipedia nachzulesen. Ich habe hier in Linz gerade eben diesen Sticker gesehen: „Lebe so, dass die AfD was dagegen hätte“. Ja, eh. Aber: Deren eigene Kanzlerkandidatin lebt dagegen. Ich meine, das ist ja unfassbar. Mit der Realität braucht man da offensichtlich nicht mehr daherkommen. Was wär’ an literarischer Drastik da überhaupt noch aufzubieten, um darzustellen, dass da in alle Richtungen komplette Skrupellosigkeiten vorhanden sind?
Dominika Meindl: Wahrscheinlich müssten wir Schreibenden dieser völlig durchgeknallten Drastik die größtmögliche Seriosität entgegensetzen. 9 to 5 nüchternster Kampf gegen die Entwertung der Fakten. Jahrzehntelang habe ich für unsere Lesebühne Satiren über die tolldreiste Gebarung der Rechtspopulist*innen geschrieben (ärgerlich, dass ich das gendern muss). Ganz leicht ging das, fast wie atmen. Es war schwer, keine Satire zu schreiben. Wie der Pfarrer habe ich zum Chor gepredigt und geglaubt, die Dreistigkeit der Nationalist*innen, Wissenschaftsverächter*innen, Message-Controller, NS-Verharmloser*innen durch Übertreibung lächerlich machen zu können. Was haben wir gelacht. Seit die Demokratie-Feinde bei demokratischen Wahlen gewonnen haben, muss ich meine Zahnschiene auch bei Tag tragen, um mir nicht vor ohnmächtiger Wut die Beißer zu zermalmen. Es ist so unfassbar lächerlich, dass sich eine Alice Weidel ein Privatleben gönnt, das sie und ihre Partei bei anderen als „queer-woke Eliten“ der Meute zum politischen Fraß vorwerfen. Darüber kann man aber keine Comedy mehr schreiben, sondern eher psychopathologische Gutachten.
Was tun? Satire tritt nach oben, nie nach unten. Immer die Elite schimpfen, nie die Unterdrückten. Was machen wir jetzt mit dem Drittel des Wahlvolks, das so nach Unterdrückung lechzt?! Ich möchte jede einzelne Person des FPÖ- und auch des ÖVP-Elektorats am Kragen fassen und etwas zu laut fragen: „Was hast du dir DABEI gedacht?!“
Ist das jetzt die totale Durchsetzung der Postmoderne? Sie müffelt halt sehr nach Autorität. Mag das Volk BDSM? Mal so richtig durchgeherrscht zu werden? Oder vielleicht muss man jeden eigenen Skrupel ablegen und dem Volk zu seinem eigenen Besten einen Linkspopulismus vor den Latz knallen, dass es so lange rotierend die Richtung ändert, bis das Goldene Matriarchat herrscht. Aber schon geniere ich mich, das geschrieben zu haben.
Ich setze mit dem politischen Geisterbahnpersonal fort: Alice erklärt Elon, dass Hitler ein Kommunist war, Elon plant wiederum die Besiedelung des Mars. Trump will Grönland, Kickl setzt sich aufs Pferd. Alle haben was gegen woke Transen, die ja laut Trump sogar Flugzeuge abstürzen lassen. Was läuft da? Ist das so eine Art Idioten-Real-Fiction? Ich meine, so was wäre auf einem Poetry-Slam der Neunziger und Nuller-Jahre insofern als Fiction durchgegangen, als dass eben alle gelacht hätten, wie du angemerkt hast, und dann wieder ihr Bier oder sonstwas getrunken hätten. Jetzt ernster: Die Fake-News-Regulierungen auf Social Media wurden in den USA zurückgenommen – eine von vielen Deregulierungen des Neoliberalismus. Und Mark Zuckerberg stammelte herum, dass eine Kultur der Aggression doch ganz cool sei. Das heißt, irgendwann, wenn es so weitergeht und Hitler als Linker auch bei den Kellernazis durchgehen sollte, haben die Linksextremen den Holocaust verübt. Ich persönlich schlussfolgere: Deregulierte Wirtschaft, deregulierte Sinnzonen. Ultrabrutal. Ziemliche Clockwork-Orange-Gulliver-Realität, oder?
Ja, eine immer irrer rotierende Dialektik. Anything stupid goes. Irgendjemand hat uns in eine entgleisende politische Geisterbahn gesetzt. Die eine Hälfte juchzt vor entgrenztem Vergnügen, die andere ist nahe dran, sich vor Entsetzen zu übergeben. Ein Urfahraner Jahrmarkt des Grauens. Eine Ent-Geisterbahn im Missvergnügungspark. Es muss so eine unglaubliche Lust sein, für eine Weile die moralischen Bürden der Vernunft und Empathie abzuschütteln. Wie Ponys, die aus den quälenden Karussells ausbrechen. Dabei sitzt schon der Volkskanzler auf den Rücken der Pferdchen.
Mein Vater hat vor 20 Jahren einen Dialog in einem Mühlviertler Gasthaus belauscht: „Gut, dass der Hitler gekommen ist, sonst wären uns die Nazi überkommen!“ Wir haben sehr gelacht und uns zugleich gefragt, in welchen schlimmen Verhältnissen der Mann aufgewachsen sein musste, um so daneben zu hauen. Immer noch denke ich, dass den Musk-Gutfindern und Trump-Verharmlosern das Privileg einer guten Bildung verweigert geblieben ist. Aber irgendwie sind sie jetzt so unangenehm viele geworden. Männer, die Abtreibung verbieten wollen, die sich von Trans-Menschen bedroht fühlen, die den Kampf gegen Hassrede als Zensur bezeichnen: Wie kommt ihr auf diesen Irrsinn? Da kann man ja auch halluzinieren, dass es heutzutage so wenig schneit und die Reichen immer reicher werden, weil dem Volk das Gendern aufgezwungen wird. Ich komme da nicht mehr mit.
Eine Weile waren Dystopien im literarischen Trend, aber diese Grusellust ist den Schreibenden und Lesenden vergangen, seit diese Bücher vom Science-Fiction-Regal zu den Sachbüchern wechseln. Die schwindende Zahl der literaturaffinen Menschen ist ausreichend informiert, was diese üble Scripted Reality betrifft. Die große Frage ist, was wir ab jetzt schreiben und lesen wollen.
Ich habe das Gefühl, dass sich „Nie mehr wieder“ momentan nur allzu leicht wiederherstellen ließe in: „Bitte jederzeit gerne wieder“. Ich kann dazu auch anführen, dass in der Nacht, als Kickl mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, hier in Urfahr „Juden raus“ und „88“ an die Wände geschmiert wurde. Gut, diese Regierung ist nichts geworden. Aber man weiß, dass die Angriffe auf Juden wieder zugenommen haben. Man weiß, dass die Übergriffe auf Schwarze, Transmenschen etc. zugenommen haben. Ich meine, dieses politische Personal weckt und befördert die niedersten Instinkte – von den Rotten auf der Straße bis hin zum ökonomischen Gewinnlertum, vom Großkapital bis hin zu einem neuen Oligarchentum. Müssen wir Künstler:innen und Literat:innen aktuell das Reality-Scripting auch deshalb betreiben, damit nachher nicht wieder gesagt werden kann: Wir haben ja nichts gewusst?
Wir haben ALLES gewusst. Immer öfter fühle ich mich wie Marvin, der depressive Android in „Per Anhalter durch die Galaxis“. Er weiß alles, deswegen ist er demoralisiert: „I’d by far rather be happy than right.“ Es wäre mir die größte Erleichterung, nicht recht zu behalten – und alles wird wieder gut. Der untote Antisemitismus stirbt endgültig. Es wird wurscht, wen man liebt und an welches Wesen man glauben mag oder nicht. Ich freu mich schon, wenn das Private nicht mehr politisch ist. Alice Weidel gönne ich ihr Privatleben, sie möge sich bitte umgehend dahin zurückziehen.
Letztes Jahr habe ich Thomas Köck kennen gelernt, ein fantastischer Autor und Dramatiker. In seiner „Chronik der laufenden Entgleisungen“ hatte er einfach ein Jahr lang bis zu den Nationalratswahlen 2024 protokolliert, was in Österreich alles möglich ist. Ich empfehle das Buch sehr, auch wenn seine Lektüre extrem schmerzhaft ist. Hat man ja alles mitgekriegt, hat man ja alles furchtbar gefunden. Köck ging es dementsprechend schlecht beim Schreiben.
Am bizarrsten ist natürlich das Faktum, was wir alles mit uns machen lassen. Der globale Trend zur Beschissenheit der Verhältnisse entpuppt sich als Test – ein weltumspannendes absurdes Theater. Ein affektierter Regisseur hat uns den kritischen Spiegel vorgehalten. Wir sind durchgefallen, beschämt und geläutert. Ich werde aber nicht klatschen, wenn der Vorhang fällt. So eine Schmiere!
Der Schaden ist auf alle Fälle angerichtet. Ich liebe meine Mitmenschen ja wie eine Mutter ihre wahnsinnigen Kinder, doch jetzt haben sie mir das Kraut ausgeschüttet und können mir 1000 Gedichte aufsagen und Blumengebinde pflücken, bis ich wieder gut bin.
Die Fragen für die Redaktion hat Tanja Brandmayr gestellt.
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