Die Referentin #39 - Aktuelle Beiträge

Amiga, lass uns Re-Evolution machen!

Mar Pilz | Kunst und Kultur, 4. März 2025
Die Referentin #39

Zum 8. März haben Fiftitu% und Mar Pilz die nicaraguanische Künstlerin und Singer-Songwriterin Marycow nach Linz eingeladen. Über ihr gemeinsames Projekt Artivismo schreibt Mar Pilz. Sie hält der Diktatur in Nicaragua außerdem ein Plädoyer für die Freiheit entgegen.

   
Bei einer Demo vor 2018. / Marycow. Fotos Archiv Mar Pilz, Marycow

„I am not free while any woman is unfree,
even when her shackles
are very different from my own.“ 
Audre Lorde

Manchmal fällt es schwer, sich vorzustel­len, dass es im Jahr 2025 noch Länder gibt, in denen eines der grundlegendsten Menschenrechte, das Recht auf Meinungsfreiheit, Tag für Tag systematisch stranguliert wird. Aber so ist es in Nicaragua – dem Land, in dem ich geboren wurde, das Land, in dem die Straßen sprechen könnten, wenn sie nicht zum Schweigen gebracht worden wären. Denn seit 2018 atmet Nicaragua nicht mehr. Es ringt nach Luft unter einer Diktatur, die das Leben und jede Form des Ausdrucks mit eiserner Faust erstickt.

Die León, die Wiege der Sandinistischen Revolution, sagen die Sandinisten. Aber für mich ist León eine Stadt, die mir viele Erinnerungen, Freundschaften und eine Begegnung, die bis heute noch bleibt, hinterlassen hat. In dieser Stadt lernte ich die nicaraguanische Künstlerin und Singer-Song­wri­terin Marycow kennen, die meine Freun­din wurde. Unsere Freundschaft vertiefte sich, als wir feststellten, dass wir dieselben politischen Ambitionen hatten: Präsidentinnen von Nicaragua zu werden.

Im warmen León, in Nächten voller Musik und Lachen wurde es zu einem Insider-Witz, uns den Leuten als die zukünftigen Co-Präsidentinnen des Landes vorzustellen – denn in unserer eigenen Welt war es möglich. Zusammen haben wir uns vorgestellt, wie es wäre, die Macht zwischen zwei Frauen zu teilen und zu regieren. Wir nannten uns die zukünftigen Co-Präsidentinnen des Landes. Ein Witz, ein Traum, ein Manifest. Wir wussten nicht, dass Jahre später der Diktator Ortega genau das, eine Co-Präsidentschaft, in die Tat umsetzen würde, indem er die Verfassung aus Nicaragua änderte, um seine Frau Rosario Murillo zur offiziellen „Co-Präsidentin“ zu machen. Nur dass in dieser Geschichte die Macht nicht geteilt wird, sondern sich verdoppelt – in Kontrolle und Zensur. Im Jahr 2025 hat Nicaragua nicht nur die einzigen Süßwasserhaie der Welt, sondern auch die einzige Co-Präsidentschaft. Es wundert mich nicht, dass der magische Realismus in Lateinamerika geboren wurde – denn wie sonst sollte man diese Realität beschreiben? Man muss Lateinamerika erleben, um es zu verstehen. Überall kann Macondo sein – Gabriel-García Márquez‘ Dorf, in dem das Alltägliche vom Fantastischen durchdrungen ist, wo Wunder und Tragödien nebeneinander existieren und die Zeit manchmal stillzustehen scheint – wo alles Unvorstellbare passieren kann.

Neben dem Traum von Präsidentschaft ver­band mich mit Marycow auch der Kampf für unsere Rechte als Frauen – Rechte, die genauso wie das Recht auf Meinungsfreiheit in unserem geschundenen Land täglich verletzt werden. Ein Land, das unter einem machistischen und gewalttätigen Regime leidet, das Missbraucher, Tyrannen und Gewalttäter stärkt – denn derjenige, der an der Macht sitzt, ist selbst ein Vergewaltiger. Daniel Ortega, einer von vielen Männern, die sich die Rhetorik der Guerilleros und der Sandinistischen Revolution zunutze gemacht haben, um an die Macht zu kommen – und der danach dafür gesorgt hat, dass Frauenrechte auf ein Minimum reduziert wurden.

Seit dem Muttertags-Massaker im Mai 2018, bei dem zahlreiche nicaraguanische Mütter im Gedenken an diejenigen Mütter demonstrierten, die ihre Kinder zuvor, bei den am 18. April 2018 begonnenen Protesten verloren hatten und bei dem nach Angaben des Nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte etwa 16 Menschen von Scharfschützen im Auftrag des Ortega-Regimes getötet wurden, hat es in Nicaragua keine Demonstrationen oder Proteste mehr gegeben. Jede Form von Widerstand ist ver­boten. Schriftsteller*innen dürfen nicht schrei­ben, Musiker*innen dürfen keine Musik machen, und Künstler*innen dürfen keine Kunst schaffen. Eine dieser Künstlerinnen ist meine Freundin Marycow. Sie hat mir erzählt, wie frustrierend und erdrückend es ist, nicht schaffen zu können, was sie am meisten erfüllt. Denn was macht eine Künstlerin, wenn sie ihre Kunst nicht ausdrücken darf? Was macht eine Schriftstellerin, wenn sie ihre Emotionen nicht zu Papier bringen darf? Es ist wie ein langsamer innerer Tod. Es ist unmenschlich, die Emotionen zu verbieten, die durch Inspiration entstehen.

Was würden wir heute in Österreich tun, wenn es plötzlich verboten wäre, zu sein, wer wir sind? Wenn Protest, Kunst, Musik und Meinungsäußerung plötzlich nicht mehr erlaubt wären? So wie es einmal war. 

Menschen, die niemals Gewalt, Diskriminierung oder die Verletzung ihrer Rechte durch einen unterdrückerischen Staat erlebt haben, nehmen ihre Freiheit als selbstverständlich hin und unterschätzen sie. Wenn sie wüssten, wie wenig Freiheit andere haben, würden sie keine Räume und Möglichkeiten verschwenden – und ich spre­che nicht nur von Protesten, sondern von allem. Sie würden ihr Wahlrecht nicht ungenutzt lassen, sie würden die Möglichkeit, sich durch Kunst, Musik, Film, Schreiben oder Tanz auszudrücken, nicht ungenutzt lassen. Sie würden Bildungsräume nicht ver­schwenden und keine Chance verstreichen lassen, etwas zu erschaffen. Denn in Ländern wie Nicaragua könnte dich ein einziges Lied deine Freiheit kosten.


Über den Dächern von León. Foto Archiv Mar Pilz, Marycow

Und doch, selbst in der Dunkelheit, gibt es Risse, durch die Licht sickert. Trotz der Distanz, trotz der Jahre, die mich von Nicaragua trennen, fanden Marycow und ich wieder zusammen. Ich rief sie eines Tages an, mit einer Idee, einem Vorschlag. „Amiga, lass uns Revolution machen!“ habe ich ihr gesagt. So wurde Artivismo geboren – eine Symbiose aus Kunst und Widerstand. 

Wir haben schon einmal gemeinsam ein Projekt gegen sexuelle Belästigung auf der Straße durchgeführt. Diesmal wollten wir es noch einmal versuchen und das Lied Con la misma moneda („Mit der gleichen Münze“) wiederaufleben lassen – ein Song, den Marycow selbst geschrieben hat. In ihrem Rap thematisiert sie die alltägliche sexuelle Belästigung auf der Straße, eine Realität, mit der Frauen weltweit konfrontiert sind. Sie bringt den Wunsch zum Ausdruck, sich „schön anziehen zu können und ungestört spazieren zu gehen“, ohne Angst vor sexueller Belästigung. Als ich das Lied zum ersten Mal hörte, fühlte ich mich nicht mehr allein. Es gab andere wie mich, die einfach nur frei und sicher durch die Straßen gehen wollten.

Mit der Unterstützung von Fiftitu% bewarb ich mich für Linz Import. Die Monate des Wartens waren eine Mischung aus Angst und Hoffnung, und dann, an einem Sommertag 2024, kam die Nachricht: Unser Projekt wurde angenommen. 

„Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Energie und Hoffnung du mir gerade gegeben hast, amiga!“ – sagte mir Marycow durch eine Sprachnachricht, als ich ihr erzählte, dass sie nach so langer Zeit wieder frei sein würde, um an einer Demonstration zum 8. März teilzunehmen.

Den 8. März gibt es auf Nicaraguas Straßen nicht mehr. Der internationale feministische Kampftag wird im Privaten gefeiert – unter Freundinnen bei privaten Treffen, in den sozialen Netzwerken, durch eine unterstützende Nachricht per Telefon oder durch jede andere erfinderische Möglichkeit. Denn in einem Regime, das Kunst fürchtet, wird jede Form des Ausdrucks zu einem Akt des Widerstands.

Artivismo ist für uns mehr als ein Projekt – es ist eine Antwort auf das Schweigen, eine Brücke zwischen unterdrückten Stimmen und denen, die zuhören können. Eine Brücke, die Länder verbindet in einer Zeit, in der oft von Trennung, Mauern und Fremdenfeindlichkeit gesprochen wird – meistens mit einer Macho-Stimme.

Aber Widerstand braucht Verbündete. Deshalb laden wir alle ein, sich an diesem Projekt oder an der Demonstration am 8. März zu beteiligen. Denn noch haben wir Frauen* in Österreich diese Freiheit und dieses Recht. 

Lasst uns deswegen für diejenigen demonstrieren, die es nicht können, für diejenigen, die nicht wissen, dass sie es können, und für diejenigen, die es nicht mehr können. Denn jede Melodie, jeder Tanz und jede Stimme kann ein Akt der Rebellion und der Freiheit sein. Es kann eine Re-Evolution sein!

 

Infos zum feministischen Kampftag 8. März:
fiftitu.at 

Infos zu den Muttertag-Ereignissen:
www.dw.com/de/eine-chronologie-der-proteste-gegen-die-regierung-ortega/a-48356684
amerika21.de/blog/2018/06/202777/nicaragua-luegen-gewinnen

Mar Pilz
eine politische inkorrekte Frau.
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