Gewaltfreier Anarchismus
Die Referentin #39
Anarchismus-Reihe: Die Referentin bringt seit längerer Zeit eine Serie über den Anarchismus als frühe soziale Bewegung und Ausdruck kämpferischer emanzipatorischer Entwicklungen. Noch immer gibt es aber die Vorstellung, Anarchismus sei gleichzusetzen mit Bombenlegen, Chaos und systematischer, blinder Gewaltanwendung. Hier eine Einführung zum gewaltfreien Gegenteil von Lou Marin.
Bild graswurzelrevolution
Die Strömung des gewaltfreien Anarchismus steht in ihrer Geschichte und Gegenwart gegen diese vorurteilsbeladene und falsche Vorstellung von Anarchismus und verbindet den Anarchismus explizit mit einer Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit bzw. dem Kampfmittel der direkten, gewaltfreien Aktion und des zivilen Ungehorsams zur Erringung einer anarchistischen Gesellschaft.
Konsequente Ziel-Mittel-Relation
Der gewaltfreie Anarchismus geht davon aus, dass sich eine gewaltfreie, herrschaftslose und damit revolutionäre Gesellschaft nur mit den diesem Ziel entsprechenden Mitteln verwirklichen lässt. Dies wird als Ziel-Mittel-Relation konzipiert: Die im revolutionären Prozess eingesetzten Kampfmittel müssen in sich bereits dem Ziel der angestrebten herrschaftslosen Gesellschaft entsprechen. Damit grenzt sich der gewaltfreie Anarchismus sowohl gegenüber dem bürgerlichen Pazifismus als auch den gewaltsame Mittel befürwortenden Anarchist*innen ab.
Der bürgerliche Pazifismus will an sich den Staat und damit die Staatsgewalt bestehen lassen und sendet staatliche Vertreter aus, um mit Vertreter*innen anderer Staaten über Frieden zu verhandeln. Dies ist die klassische Form staatlicher Diplomatie, die am Herrschafts- und Gewaltcharakter, der jedem Staat innewohnt, nichts ändert. Hier wird das Bestehen des Staates nicht angetastet und die Kriege verursachenden Staaten werden mit diplomatischen Verhandlungsangeboten nicht per se vom Krieg abgehalten. Sollte es zu diplomatischer Einigung kommen, wird zumeist das Recht des militärisch Stärkeren belohnt.
Im Gegensatz zum bürgerlichen Pazifismus bekämpft der gewaltfreie Anarchismus zuallererst die Gewalt und die Herrschaftsform des gegenwärtigen, eigenen Staates. Da Staaten durch die ihnen innewohnende Gewalt und ihr Expansionsstreben immer zu Kriegen neigen, wird durch die angestrebte Abschaffung des Staates – und damit auch durch den Verzicht auf Diplomatie – ein gerechter, weil nicht mehr auf Herrschaft und Gewalt basierender Friede überhaupt erst möglich.
Der gewaltfreie Anarchismus lehnt also jede Form der militärischen, bewaffneten Gesellschaftsänderung via Guerilla, Milizen oder Armeen als Gewalt und damit als Herrschaft ab. Nur unbewaffnete und nicht-gewaltsame Kampfformen bergen in sich die Möglichkeit einer Abschaffung von Gewalt und Herrschaft. Dem liegt eine begriffliche Trennung von Macht und Herrschaft zugrunde. Herrschaft gründet immer auf Formen von Gewalt, selbst wenn sie in der Struktur verankert und nicht sofort sichtbar sind – so ist etwa die kapitalistische Herrschaft eine Gewaltform, weil von ihr gegen freiheitlich-sozialistische Bewegungen früher oder später immer die Gewaltmittel der Polizei oder des Militärs eingesetzt werden. Dennoch ist nicht jede Form von Macht gleich Herrschaft. Wenn Macht von unten gewaltfrei ausgeübt wird, verringert sich der Grad von Gewalt und Herrschaft in der Struktur oder verschwindet ganz.
Die Geschichte der Revolutionen im 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass es eine immer wieder eintretende historische Entwicklung hin zur schlimmsten Gewalt- und Herrschaftsform, der Armee mitsamt Kriegsdienstzwang für die gesamte männliche, und inzwischen auch weibliche Bevölkerung gibt. Im Gegensatz dazu gibt es im gewaltfreien Anarchismus eine Differenzierung zwischen Macht und Herrschaft. Macht kann zwar auch Herrschaft und Gewalt sein, muss es aber nicht. Es gibt eine gewaltfreie Macht von unten, mit der mittels Formen des Streiks, der gewaltfreien Aktion, Sabotage gegen Sachen – Sachen können keine Gewalt erleiden – Boykotts und Formen der Desertion und Massenverweigerung Gewalt und Herrschaft bekämpft werden, ohne neue Gewalt- und Herrschaftsformen an deren Stelle zu setzen. Ziel bleibt die selbstverwaltete, kollektiv wirtschaftende Wirtschaftsform eines freiheitlichen Sozialismus.
Das Hauptargument der gewaltsam vorgehenden Anarchist*innen: Der Staat bestimmt über die Mittel
Nach der Katastrophe des deutschen Nationalsozialismus und dem von ihm verursachten Zweiten Weltkriegs haben sich infolge der Student*innenbewegung von 1968 neue soziale Bewegungen herausgebildet, etwa die Ökologiebewegung, der Feminismus, die antistalinistischen Massenbewegungen von 1989 in Osteuropa, die Bewegung für eine andere, gerechte Globalisierung bis hin zur Bewegung für Klimagerechtigkeit. In diesen sozialen Bewegungen waren gewaltfreie Kampfmittel sowohl ständig präsent als auch ständig umstritten. In der westdeutschen Anti-AKW-Bewegung, die nach einem 40-jährigen Kampfzyklus von 1972 bis 2012 die Abschaltung aller AKWs in der BRD erreichen konnte, gab es neben den gewaltfrei-anarchistisch organisierten Aktionsgruppen um die 1972 gegründete Zeitung „Graswurzelrevolution“ auch immer wieder Gegengewalt propagierende Gruppen wie maoistische bzw. marxistisch-leninistische Parteien, autonome Gruppen oder auch bewaffnete Gruppen wie die französische Action Directe oder die deutsche Rote Armee Fraktion (RAF).
„Sie legitimierten ihren eigenen Rückgriff auf Gewalt mit einem Verweis auf die Gewalt des Staates. (…) Beliebte Argumente (waren): ‚Der Staat ist gewalttätig, darum müssen/können/sollen wir in selbiger Art und Weise antworten.‘ Die Frage der Gewalt ist tatsächlich der einzige Bereich, bei dem sich Anarchist*innen wiederholt und offen auf das Verhalten des Staates beziehen, um ihre eigene Praxis zu erklären und zu rechtfertigen. Es sind hier also nicht mehr die herrschaftslose Gesellschaft oder anarchistische Prinzipien, die die Mittel definieren und als Orientierungspunkt für eine emanzipatorische Praxis dienen. Es ist der Staat. Er bestimmt die Spielregeln.“1 Darum handeln aus Sicht des gewaltfreien Anarchismus Gegengewalt ausübende Aktivist*innen nicht mehr selbstbestimmt, sondern fremdbestimmt.
Bild graswurzelrevolution
Vorläufer*innen und Hauptvertreter*innen des gewaltfreien Anarchismus
Der so konzipierte gewaltfreie Anarchismus entstand in Theorie und Praxis ab Ende des 19. Jahrhunderts sowie in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Es gibt hier keine allein dominierende Figur wie Marx für den Kommunismus, sondern mindestens 54 historische Vorläufer*innen und Vertreter*innen des gewaltfreien Anarchismus.2 Besonders in den Arbeiter*innenbewegungen von Ländern wie den Niederlanden (Bart de Ligt, Clara Wichmann), Österreichs (Pierre Ramus, Olga Mišar), Russlands (Leo Tolstoi), Frankreichs (Albert Camus, Rirette Maîtrejean, Simone Weil) oder Indien (Mahatma Gandhi) wurden die wichtigsten theoretischen Bestandteile in Abgrenzung zur anarchistischen „Propaganda der Tat“ (Bomben-Anarchismus) der 1890er-Jahre oder eines gewaltverherrlichenden Anti-Kolonialismus (Frantz Fanon in Algerien) entwickelt. Dass etwa Gandhi sich selbst in mehreren Texten und Reden als Anarchist bezeichnet hat, wird von einer geschichtsrevisionistischen autoritären Linken geflissentlich verschwiegen: „Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art.“3
Dabei sind ohne dessen Kampagnen und theoretische Einflüsse der Erfolg des Anti-Kolonialismus in Indien sowie die historische Zurückdrängung des britischen Kolonialreiches nicht denkbar – so wie auch die epochale Unterminierung des sogenannten Ostblocks als militärische Allianz der Sowjetunion ohne die gewaltfreien Massenbewegungen 1989–1991 nicht denkbar wäre. Beide Ereignisse zeigten die materielle Wirkungskraft und Effizienz gewaltfreier Macht von unten.
Noch jede Herrschaftsform, selbst die nationalsozialistische Besatzung in einigen Ländern Europas von 1939 bis 1945, konnte durch zivile Widerstandsbündnisse, in denen Individuen aus dem Establishment, die sich aus einer Gewissensentscheidung heraus abgespalten hatten und mit einer Untergrundbewegung – etwa der Hilfe und dem Verstecken jüdischer Verfolgter4 – verbündeten, erfolgreich herausgefordert werden. Dafür waren nicht unbedingt mehrere Jahrzehnte nötig, wie bei der indischen Unabhängigkeitsbewegung von 1915 bis 1948, sondern auch bei kurzfristigen Erfolgen antifaschistischen Widerstands gegen diktaturorientierte Putschversuche, wie jüngst in Südkorea5, zeigte sich die materielle Macht von unten eines massenhaften zivilen Widerstands – und gibt uns Hoffnung in einer von Kriegen und faschistischen Regierungen sowie Bewegungen kontaminierten Zeitepoche.
Anmerkungen:
1 Sebastian Kalicha: Für ein anarchistisches, gewaltfrei-revolutionäres Gegennarrativ. Eine Kritik anarchistischer Gewaltapologie am Beispiel des Buches „How Nonviolence Protects the State“, in: Arbeitsgruppe Anarchismus und Gewaltfreiheit (Hg.): Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution. Texte zum gewaltfreien Anarchismus & anarchistischen Pazifismus. Band 2, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2021, S. 161–197, hier S. 179.
2 Vgl. die 54 im Portrait vorgestellten Personen in: Sebastian Kalicha: Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2027, S. 47–189.
3 Vgl.: Lou Marin/Horst Blume: Gandhi. „Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2029
4 Vgl. Lou Marin/Barbara Pfeifer (Hg.): Menschen retten! Wie ziviler Widerstand jüdische NS-Verfolgte vor der Deportation bewahrte, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2024.
5 Lou Marin: Südkorea: Kriegsrecht ohne einen Schuss verhindert. Ein aktuelles Beispiel für die Wirkung gewaltfreier Macht von unten, in: Graswurzelrevolution Nr. 496, Februar 2025.
Die Anarchismus-Textreihe in der Referentin widmet sich dem Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt, zeichnet Porträts über frühe Anarchist*innen und benennt aktuelle Tendenzen im anarchistischen Denken und seiner Praxis. Die Serie ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, die ebenso Themen und Autor*innen der Reihe betreut.
Siehe auch: anarchismusforschung.org
Alle Texte der Serie sind auch über die Webseite der Referentin abrufbar.
Redaktionell geführte Veranstaltungstipps der Referentin