K.-o.-Tropfen gehen uns alle etwas an
Die Referentin #39
K.-o.-Tropfen waren lange nicht in Medien und Politik präsent – höchste Zeit, die Thematik in den Blick zu nehmen. Anlässlich der aktuellen Kampagne SO WHAT?! #notyourfault schreibt Rebekka Hochreiter über Gewalt und Missbrauch in Verbindung mit Betäubungsmittel.
Zwei Sujets der Kampagne. Sujets FIFTITU% / Frauenbüro Linz.
Das Getränk nicht stehen lassen, nie allein ausgehen, mich von Unbekannten nicht auf einen Drink einladen lassen – es gibt vieles, das ich beachten muss, um sicher zu gehen, dass mir nicht Schlimmes passiert. So zynisch ist der aktuelle gesellschaftliche Diskurs zum Thema K.-o.-Tropfen: Es passiert nur in Nachtclubs, Bars und auf Partys. Und wem es passiert, hat nicht genug aufgepasst. So fordert eine Aufklärungs-Kampagne zum Thema sogar „Lass dich nicht k.o.-tropfen“. Danke, das hatte ich auch nicht vor! Immerhin: Inzwischen wird wenigstens über das Thema berichtet. Darum sind auch solche – wenn auch unglücklich formulierte – Kampagnen wichtig. Denn es ist höchste Zeit, diese Thematik in den Blick zu nehmen.
Als mich vor zwanzig Jahren eine nette Barkeeperin in Spanien das erste Mal davor warnte, mein Getränk unbeaufsichtigt zu lassen, waren K.-o.-Tropfen in Medien und Politik nicht präsent. Auch nicht, als sich in meinem persönlichen Umfeld Berichte von Betroffenen häuften. Oder als ich selbst eine der Betroffenen wurde.
Vor ein paar Jahren wurde ich Opfer von Gewalt durch K.-o.-Tropfen. Es hat Jahre und therapeutische Unterstützung gebraucht, um darüber sprechen zu können, so dicht war es in Scham und Selbstvorwürfe eingehüllt: Hätte ich doch irgendwas an diesem Tag anders gemacht / Hätte ich mein Getränk nicht stehen lassen, als ich auf dem Klo war / Wäre ich nicht allein fortgegangen / Wäre ich nicht in diese Bar gegangen und, und, und. Es war sehr leicht, mir selbst Vorwürfe zu machen – die Medien und sogar mein Bekanntenkreis haben dabei geholfen.
Zwar bekam sexualisierte Gewalt in Verbindung mit betäubenden Substanzen durch einige prominente Fälle, wie Bill Cosby oder Rammstein, in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit.
Die Art und Weise, wie der Diskurs darüber geführt wird, erinnert jedoch noch immer oft an die sogenannte Minirock-Debatte. Nach wie vor müssen sich Menschen nach Belästigungen, sexualisierter Gewalt und diskriminierenden Übergriffen dafür rechtfertigen, was sie getragen oder nicht getragen haben, getan oder nicht getan haben. Diese Art von Diskursen verfestigen Schamgefühle bei Betroffenen und die Wahrnehmung, selbst daran schuld zu sein.
Einen Wendepunkt markiert der Fall Gisèle Pelicot in Frankreich 2024. Gisèle Pelicot wurde von ihrem Ehemann Dominique Pelicot wiederholt über mehrere Jahre sediert und zahlreichen Männern über das Internet zur Vergewaltigung angeboten. Dabei filmte und fotografierte ihr Ehemann die Taten. Bevor diese ans Licht kamen, hatte Gisèle Pelicot aufgrund von Schmerzen im Unterleib und Gedächtnislücken mehrfach Ärzt*innen aufgesucht, aber keine davon schöpfte Verdacht. Trotz allem, was ihr passiert ist, machte sie den Prozess öffentlich und weigerte sich, die von der Gesellschaft erwartete Scham anzunehmen. Der mittlerweile berühmt gewordene Ausspruch: „Die Scham muss die Seite wechseln“ kann uns helfen, einen neuen, besseren Umgang mit diesen, tief in der patriarchalen Gesellschaft verwurzelten Strukturen zu finden.
Die Öffentlichkeit versuchte zwar, den Fall Pelicot als Einzelfall hinzustellen. Er beweist jedoch, dass sich die Praktiken, Menschen willenlos, handlungsunfähig und bewusstlos zu machen (ein neuer Begriff spricht von chemischer Unterwerfung), nicht auf einige wenige Täter im Kontext von Nachtclubs und dunklen Bars beschränkt, sondern auch Bekannte aus dem eigenen Umfeld sowie alle Gesellschaftsschichten umfassen kann. Darüber hinaus macht er das Ausmaß derer sichtbar, die bereit sind, sich an einer solchen Straftat zu beteiligen. Im Fall Pelicot gab es über 80 Täter, von denen jedoch nur 51 identifiziert und schuldig gesprochen werden konnten.
Die Vergewaltiger wurden von Dominique Pelicot über einen privaten Chatroom angeworben, in dem sich die Mitglieder über sexualisierte Gewalt an betäubten Personen austauschten. Wie sicher müssen sich Täter fühlen, die einen Chatroom à son insu („ohne ihr/sein Wissen“) nennen?
2024 deckte das NDR-Investigativformat STRG_F ein Vergewaltigungsnetzwerk in Telegram-Gruppen auf, in denen Täter den Einsatz von Betäubungsmitteln besprechen und Übergriffe organisieren. Trotz eindeutiger Hinweise und der Identifizierung eines Täters reagierten die Behörden in Deutschland, den USA und Kanada nicht.
Das Wort K.-o.-Tropfen ist ein umgangssprachlicher Sammelbegriff für über 100 Substanzen.
Denn Täter bedienen sich einer großen Fülle an verschiedensten Mitteln: Von sogenannten Partydrogen (GHB – Gamma-Hydroxybuttersäure, besser bekannt als Liquid Ecstasy,) bis zu Stoffen wie dem farb- und geruchlosen GLB (Gamma-Butyrolacton), das zur Herstellung von Reinigungsmitteln oder Kunststoff verwendet und daher ganz einfach und legal über das Internet bestellt werden kann. Dieses wird im Körper zu GHB verstoffwechselt und wirkt daher ähnlich.
Aber auch Alkohol kann mit dem Vorsatz, jemanden „gefügig“ zu machen, als K.-o.- Mittel eingestuft werden – etwas, worüber wir auch reden sollten.
Das Recherche-Netzwerk STRG_F entdeckte auch neuartige K.-o.-Mittel, die als harmlose Haarpflegeprodukte oder Wimpernkleber-Entferner getarnt und legal verkauft werden. Diese enthielten eine gefährliche Mischung aus Tiernarkosemitteln, Designer-Benzodiazepinen und Medikamenten gegen Erbrechen – viele dieser Substanzen sind in Standardtests nicht nachweisbar.
Auch wenn der Begriff der K.-o.-Tropfen oder K.-o.-Mittel wichtig für die Aufklärung ist, bleibt es fraglich, inwieweit die Bezeichnung in der Berichterstattung passend ist.
Wie wäre es z. B., wenn öfter von versuchter Körperverletzung mittels betäubender Substanzen gesprochen wird? Denn das Verabreichen von K.-o.-Tropfen ist immer Gewalt. Ich denke, das können wir nicht oft genug kommunizieren.
Es gibt viele Vorschläge zu Vermeidung von Gewalt mit K.-o.-Tropfen. Doch diese Ideen sind oft technischer Natur und dienen meist nur der Symptombekämpfung.
Expert*innen fordern beispielsweise eine strengere Regulierung des Stoffes GLB, um Missbrauch zu verhindern: Eine Möglichkeit wäre eine Verkaufsbeschränkung über die europäische Chemikalienverordnung, um den freien Zugang einzuschränken. Eine weitere Idee ist die Beisetzung von Bitterstoffen, um den Missbrauch zu erschweren – allerdings sieht die Chemiebranche diesen Ansatz kritisch, da dies die industrielle Nutzung von GBL beeinträchtigen könnte. Es gibt auch bereits farbverändernde Strohalme, Armbänder oder Nagellack – die jedoch nur bei bestimmten Substanzen anschlagen.
Das ist ein verkürzter Blick, der das Grundproblem verkennt. Denn dabei werden wichtige Aspekte dieses Themenkomplexes vernachlässigt: Die Verantwortung der (Zivil-)Gesellschaft, oder die Aufklärung (potenzieller) Täter darüber, dass es sich beim Verabreichen von K.-o.-Tropfen um eine Straftat handelt, die im schlimmsten Fall mit dem Tod enden kann. Besonders aber beim Abbau von Scham und Schuldzuweisungen gegenüber den Opfern greifen solche Ansätze zu kurz. Um echte Lösungsansätze zu finden, müssen wir sehen, wie groß das Ausmaß an Gewalt in Verbindung mit betäubenden Substanzen ist.
Wie bei allen strukturellen Problemen braucht es eine Vielfalt an Maßnahmen. Daher wäre es meiner Meinung nach ein erster Schritt, die Gesellschaft als Ganzes zu sensibilisieren, die Scham nicht zu verstärken, betroffenen Personen zuzuhören und sie ernstzunehmen. Es muss klar sein, dass Betroffene von Gewalt mittels K.-o.-Tropfen vielen Herausforderungen ausgesetzt sind: Sie sind oft physisch oder psychisch gar nicht in der Lage, sofort ins Krankenhaus oder zur Polizei zu gehen. Viele haben Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird oder sie schämen sich und denken, sie hätten selbst etwas falsch gemacht. Zu den vielen Herausforderungen kommt erschwerend hinzu, dass K.-o.-Tropfen nicht lange im Blut und Urin nachgewiesen werden können, in manchen Fällen sogar nur 6 bis 12 Stunden.
Die Vermeidung von Gewalt durch K.-o.-Mittel darf nicht in der Verantwortung potenzieller Opfer liegen. Daher braucht es umfassende Lösungen, wie Betroffene unterstützt werden können, Anzeige zu erstatten und es schaffen, ins Krankenhaus zu gehen. Es braucht geschultes Personal in Lokalen, vor allem aber in Krankenhäusern und bei der Polizei, damit es zu einer gründlichen Beweissicherung kommt. Dazu können Gewaltschutzambulanzen in jedem Bundesland ein wichtiger erster Schritt sein.
Vor allem aber braucht es einen Abbau patriarchaler Strukturen! Denn wie die jüngsten Fälle zeigen, sind K.-o.-Tropfen vermehrt ein Instrument der Gewalt gegen FLINTA*Personen.
SO WHAT?! #notyourfault
Die aktuelle Kampagne des Frauenbüro Linz, „SO WHAT?! #notyourfault“, die von FIFTITU% entwickelt wurde, setzt sich mit Vorurteilen gegenüber Betroffenen auseinander, um Schuldzuweisungen zu thematisieren und zu hinterfragen. Es geht darum, Gewalt in Verbindung mit K.-o.-Mittel schambefreit und ohne Täter-Opfer-Umkehr in den Fokus zu nehmen und als gesamtgesellschaftliches Thema, das uns alle betrifft, zu behandeln. Bei Fragen, Anliegen oder Feedback kannst du dich gerne an das Frauenbüro oder FIFTITU% wenden.
Redaktionell geführte Veranstaltungstipps der Referentin