Macht der Welle
Die Referentin #41
Eine vierköpfige Crew ist 30 Tage auf der Donau unterwegs. Im Fokus stehen die verbindende Kraft der Donau, der kulturelle Austausch sowie eine Unternehmung zur Förderung von Medienvielfalt und Demokratie. Nachbetrachtungen zum Projekt „Im Fluss“, einer Schiffsreise von der Schlögener Schlinge bis ans Schwarze Meer. Von Stephan Roiss.
Die Reise bis ans Schwarze Meer. Foto Im Fluss
Am 22. Mai 2025 verlässt die „Ma Tjo Po“ ihren Heimathafen in Grafenau. An Bord dieses 17 Meter langen Stahlverdrängers befindet sich eine vierköpfige, multidisziplinär agierende Crew, bestehend aus Christine Pavlic (Künstlerin), Gigi Gratt (Musiker), Markus Luger (Entwickler) und Stephan Roiss (Schriftsteller). Das Schiff wird 30 Tage lang auf der Donau unterwegs sein, 2182 Stromkilometer zurücklegen, 9 Länder passieren, bis es am 20. Juni sein Ziel erreicht: das rumänische Städtchen Sulina. Eine Kamera am Bug zeichnet die Fahrt auf, vermittelt gleichsam den Blick mit den Augen der „Ma Tjo Po“. Eine Auswahl dieser Videos wird nicht nur auf DorfTV ausgestrahlt, sondern auch im Cafe Otter (Ottensheim) und im Foyer der Stadtwerkstatt. Darüber hinaus gestaltet die Besatzung acht Sendungen für Radio FRO. Zu diesem Zweck führt sie zahlreiche Interviews mit Menschen, die sie unterwegs trifft, sammelt Field Recordings, produziert Musik. Weitere Interventionen finden statt, weitere Formate werden bespielt: es gibt Improvisationskonzerte, ein täglich aktualisiertes Logbuch, performative und künstlerische Eingriffe. Im Fokus von „Im Fluss“ (a.k.a. „In Flux“) stehen die verbindende Kraft der Donau, kultureller Austausch, die Förderung von Medienvielfalt und Demokratie.
Die Reise ist intensiv. Alles ist im Fluss. Wir schlafen jeden Tag auf dem Schiff, erwachen fast jeden Morgen woanders. Bald sind wir alle landkrank: Wenn wir anlegen und von Bord gehen, haben wir das Gefühl, der Untergrund schwanke weiterhin. Erstaunlich, wie rasch wir amphibisch werden, nur noch halb dem Land zuzurechnen sind. Überhaupt bewegen wir uns oft in Zwischenräumen. Am 7. Juni halten wir uns nicht nur zwischen zwei Staaten, sondern auch zwischen zwei Zeitzonen auf: Am rechten Ufer liegt Serbien mit mittereuropäischer Zeit, am linken Ufer erstreckt sich Rumänien, wo es eine Stunde später ist. Zudem passieren wir an diesem Tag den Mittelpunkt unserer Wegstrecke.
Die Donau zeigt immer neue Facetten. Im Stauraum von Gabčíkovo in der Slowakei ist die Wasserfläche 3 km breit – diese Weite und die vielen Möwen lassen uns glauben, wir befänden uns bereits am Meer. Bei Golubac erreicht der Fluss sogar eine Ausdehnung von gut 6 km, doch da sich ringsum Hügelland aufschwingt, bleibt der maritime Eindruck aus. Im Eisernen Tor wiederum zwängt sich die Donau zwischen mächtigen Massiven hindurch, wird von den Serbischen Karpaten und dem Banater Gebirge bedrängt. Nach dieser felsigen Enge fließt der Strom bald wieder breit und selbstlos durch die Ebene. Die Landschaft wandelt sich ohne Unterlass und mit ihr die Flora und die Tierwelt. Bei Stromkilometer 874 erblicken wir die ersten Pelikane. Wir haben sie erst im Donaudelta erwartet. Dort schließlich erblicken wir Goldschakale, beobachten Schildkröten, die sich in der Morgensonne wärmen, und lernen, dass auch Marienkäfer zur Plage werden können. Kormorane schmücken die Bäume, sie sitzen wie schwarze Juwelen in den Kronen.
Wir passieren Landesgrenzen, hören immer neue Geschichten in verschiedenen Sprachen, gewinnen Ahnungen von persönlichen Schicksalen, kulturellen Szenen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Dass die Demokratie überall unter heftigem Beschuss steht, wissen wir bereits vor unserer Reise, doch dieses Wissen vertieft und konkretisiert sich, indem wir innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit Impressionen aus so vielen unterschiedlichen Ländern sammeln. De facto ist die Lage in allen Donaustaaten kritisch. In Österreich scheint eine Regierung unter FPÖ-Führung nur noch eine Frage der Zeit zu sein, die slowakische Gesellschaft ist nicht erst seit dem Attentat auf Fico tief gespalten, in Serbien gibt es seit Herbst 2024 heftige Proteste gegen das System Vučić, Bulgarien stolpert seit Jahren von Neuwahl zu Neuwahl, in Rumänien wurde Georgescu als Präsident mit Mitteln verhindert, die demokratiepolitisch ähnlich fragwürdig waren wie der prorussische Kandidat selbst. Das Interview, das wir in Budapest mit Ákos Cserháti von Civil Rádió führen, ist allen voran eine eindrückliche Warnung. Als er die Machtergreifung der Fidesz-Partei und den schleichenden Verfall der politischen Kultur in Ungarn beschreibt, fallen die Worte: „It happened gradually. We always said, they don’t dare, they won’t do that—and they always dared and they always did, and took another little piece of our democracy and our freedom.“
Die Crew. Foto Kurt Bayer
Obwohl wir viel über Politik sprechen, uns Zoll- und Polizeibeamte regelmäßig an die Existenz von Grenzen erinnern und wir immer wieder eine neue Flagge hissen müssen, spielen Staatsterritorien in unserem persönlichen Erleben eine untergeordnete Rolle. Oft gehen wir an Land und müssen kurz überlegen, in welchem Land wir nun sind. Ungarn oder Serbien? Bulgarien oder Rumänien? Egal, wo wir uns befinden: in erster Linie gehören wir dem Fluss an. Unser Haus ist das Schiff, und unser Haus ist Bestandteil eines Dorfes namens Donau. Und im Dorf hilft man einander. Fast alle Menschen, die wir treffen, agieren freundlich und zuvorkommend. Wir reden mit Musiker:innen, Künstler:innen, Literat:innen, Medienaktivist:innen, aber auch mit dem Besitzer einer großen serbischen Reederei, mit rumänischen Fischern, Arbeitern eines bulgarischen Atomkrafwerks, mit Wasserfrauen und Seebären. Unter unseren Gesprächspartner:innen sind nebst vielen emanzipatorisch Denkenden auch Waffennarren und Putin-Verehrer, doch selbst die größten politischen Differenzen führen in der persönlichen Begegnung nie zum Verlust des wechselseitigen Respekts. Daraus speisen sich Hoffnung und Verzweiflung gleichermaßen.
Das Gefühl, in einem Dorf namens Donau zu leben, liegt auch darin begründet, dass wir häufig Schiffe und Menschen wiedersehen. Wir sind Mitglieder einer nomadischen Gemeinschaft. Erst in Marbach und später im slowakischen Komárno begegnen wir Pierre, einem 75jährigen Franzosen, der mit seinem geradezu winzigen Motorboot auf eine griechische Insel gelangen will. Zwei Kajakfahrer:innen aus Aschach überreichen wir kurz vor Belgrad eine Packung Manner-Wafferl und treffen sie zwei Tage später auf einer Landzunge wieder, wo sie ihr Nachtlager aufgeschlagen haben.
In Serbien finden wir viel Zeit, uns mit Einheimischen auszutauschen. Davor ist uns nicht klar gewesen, wie nachhaltig das Trauma des NATO-Bombardements wirkt, wie außereuropäisch sich viele Serb:innen fühlen und wie schwer u. a. für Kunstschaffende der Umstand wiegt, keinen Pass eines EU-Landes zu besitzen: Sie sind direkt oder indirekt von vielen Förderquellen ausgeschlossen und ihre Mobilität ist stark eingeschränkt. Umgekehrt treffen wir einen russischen Musiker, der vor der Truppenmobilisierung geflohen ist und sich mit seiner Familie in Novi Sad niedergelassen hat, da russische Staatsbürger:innen in Serbien kein Visum brauchen.
Neben Serbien gibt es noch zwei weitere Länder auf unserer Route, die weder Mitgliedsstaaten der EU noch Teil des Schengen-Raums sind. Die Republik Moldau besitzt einen Donauzugang, der nur 570 Meter breit ist. Lange Stacheldrahtrollen markieren die Grenzen. Während wir passieren, bleiben die Fernstecher der Soldaten pausenlos auf uns gerichtet. Wir versuchen in den Nachbarstaat Ukraine einzureisen. Wir haben auf unserer Reise schon einige Nationalflaggen am Bug angebracht, doch als wir die gelb-blaue Fahne hissen, ist es ein gänzlich anderes, bedrückendes Gefühl. In diesem Land herrscht Krieg. Es gibt keine Worte. Unser Einreiseversuch scheitert. Wir sind kein Frachter, sondern ein privates Sportboot, haben keine Agentur, die für uns die Bürokratie erledigt. Die ukrainische Grenzpolizei ist freundlich, aber gibt uns rasch zu verstehen, dass sie andere Probleme hat, als sich stundenlang mit unserem Sonderfall zu beschäftigen. Es wird uns untersagt, Fotos vom ukrainischen Ufer zu machen. Sie könnten dem Feind Informationen bieten. Der Krieg wird bis zuletzt gegenwärtig bleiben. Nicht nur als Thema in vielen Diskussionen. Unser Zielort Sulina ist nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Dort werden wir in der Nacht donnernde Geräusche hören, die zweifelsohne keinen natürlichen Ursprung haben: was wir hören werden, sind Detonationen und/oder das Arbeiten von Luftverteidigungssystemen. Einheimische werden uns berichten, dass erst seit Kriegsbeginn so viele Pelikane im Sulina-Arm der Donau zu beobachten sind. Auch die Tiere fliehen vor den Kampfhandlungen.
Bei Braila, 170 Kilometer vor der Donaumündung, begegnen wir den ersten Seeschiffen, mächtigen Gefährten, die den Gewalten des Meeres trotzen können. Sie fahren unter den Flaggen von Sansibar, Norwegen, Panama, Mumbai. Ab Tulcea verwandelt sich der Countdown unserer Reise: die Entfernung zum Schwarzen Meer wird nicht mehr in Stromkilometern, sondern in Seemeilen angegeben. Allmählich erkennen wir: wir nähern uns nicht so sehr dem Abschluss unserer Unternehmung, sondern einem Tor zur Welt. Der Nullpunkt, den wir ansteuern, ist zugleich ein unendlich vielfältiger Beginn.
Donaukilometer Null. Foto Im Fluss
Wir können dem Moment der Ankunft nicht gerecht werden. An beiden Ufern taucht Sulina auf und wir suchen die Markierung, die das Ziel unserer Reise anzeigt: die schwarze Tafel mit der weißen Null, das Ende des Countdowns. Es macht sich ein Gefühl wie zu Silvester breit, als Silvester noch bedeutsam erschien: Wie sollst du dem kommenden Augenblick gerecht werden? Was ist zu tun? Tanzen? Einander umarmen? Schreien? Singen? Nachdenklich werden? Reflektieren? Zusammen? Jede und jeder für sich? Du lebst so lange in diesen Fragen, bis der Augenblick dich überholt hat, was keinen Sinn ergibt, aber genau deshalb ist plötzlich Ruhe. Wir müssen die schwarze Tafel mit der weißen Null geraume Zeit suchen. Dann ist sie da gewesen. Und wir sind da. Schließlich wird doch noch ein bisschen getanzt. Aus einer Spieluhr erklingt der Donauwalzer.
Alle Infos zum Projekt: www.in-flux.at
„Im Fluss“ wird Teil der Ausstellung „On the Waterfront“
Galerie MAERZ
14. Oktober – 08. November 2025
Redaktionell geführte Veranstaltungstipps der Referentin
(28. August 2025)