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Überschneidungen und Konflikte

By   /  30. August 2023  /  No Comments

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Die Referentin bringt seit einigen Ausgaben eine Serie über Anarchismus bzw. frühe soziale und politische Bewegungen mit Befreiungspotential. Dieses Mal geht es um Anarchismus und Feminismus: Eine quasi natürliche Nähe zwischen anarchistischen und feministischen Positionen existiert nicht. Antje Schrupp beginnt historisch und setzt mit einem Bericht aus St. Imier, vom Politfestival Anarchy 2023, fort.

Die meisten Anarchis­t*in­nen halten sich wohl für Feminist*innen; das ist schließlich selbstverständlich für Menschen, die sich politisch links und herrschaftskritisch verorten. Historisch ist das jedoch keineswegs so klar. So beginnt in praktisch allen Übersichten die „Ahnenreihe“ des Anarchismus mit Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), der – in seinen eigenen Worten – Frauen, „wenn es zum Äußersten käme, lieber hinter Schloss und Riegel sperren” wollte, als ihre Emanzipation zuzulassen. Proudhons Anhänger ließen Frauen nicht in ihre Sektionen eintreten und agitierten auf internationalen Kongressen gegen die Frauenerwerbsarbeit.

Selbstverständlich gab es unter den Anarchisten des 19. Jahrhunderts auch andere Ansichten zur „Frauenfrage“. Aber eine quasi natürliche Nähe zwischen anarchistischen und feministischen Positionen existiert nicht. Auch nicht von Seiten einer historischen und aktuellen Frauenbewegung, die traditionell stark auf den Staat fokussiert ist; nicht zufällig sind Frauenrechtlerinnen des frühen 20. Jahrhunderts als „Suffragetten“ bekannt, also als Vorkämpferinnen für das Wahlrecht. Viele Feministinnen setzen auch heute noch auf den Staat, wenn es darum geht, die Rechte von Frauen durchzusetzen und zu schützen (Quote, Gleichstellungsgesetze, Elterngeld und so weiter). Wenn Louise Michel1, Anarchistin und Autorin des 19. Jahrhunderts, das Angebot der Gleichberechtigung innerhalb der bestehenden Verhältnisse ausschlug und sagte: „Behaltet diese Lumpen, wir wollen sie nicht“, hätte die Mehrheit ihrer Geschlechtsgenossinnen widersprochen.

Um die Behauptung, dass Anarchismus und Feminismus Hand in Hand gehen, mit Leben zu füllen, müssten wir also genauer bestimmen, wo Schnittmengen sind und wie sich die beiden Bewegungen gegenseitig befruchten können.

Beim internationalen anarchistischen Politfestival Anarchy 20232, das in diesem Sommer aus Anlass des 150. Jubiläums des ersten internationalen anti-autoautoritären Kongresses in St. Imier, einem Städtchen im Schweizer Jura, stattgefunden hat, wurde schon einmal klar, dass Anarchismus heute für viele Frauen attraktiv ist. Die Mehrheit der mehreren tausend Teilnehmer*innen aus ganz Europa war weiblich, vor allem bei den 20 bis 30-Jährigen. Feministische Bekenntnisse und Inhalte waren in St. Imier stark präsent, ebenso die queer­feministische Auflösung binärer Geschlechtsidentitäten. Was Kleidung, Engagement, Redeanteile und Redeverhalten betraf, so war praktisch kein substanzieller Unterschied zwischen weiblich und männlich zu lesenden Personen erkennbar. Aber die kritische Auseinandersetzung mit Gender und Geschlechtsidentitäten ist nicht das Einzige, worum es im Feminismus gehen sollte. Neben einer Neubestimmung dessen, was Geschlecht bedeutet, geht es auch darum, bestehende, männlich geprägte politische Narrative herauszufordern und umzuschreiben. Und dieser Aspekt war in St. Imier weniger stark ausgeprägt. Ein Beispiel: Die brasilianische Aktivistin Cibele Troyano zeigte ihren Film „Kropotkine – un régard féminine“, der vier Frauen aus dem Umfeld des bekannten Anarchisten Pjotr Kropotkin3 zu Wort kommen lässt – seine Kinderfrau, seine Ehefrau, eine politische Aktivistin sowie die Krankenschwester, die ihn vor seinem Tod versorgte4. Doch statt einer inhaltlichen Auseinandersetzung beschränkten sich die Stimmen der Frauen darauf, Kropotkin zu bewundern, zu verehren, anzupreisen. Der „weibliche Blick“ geriet zur Heldenverehrung. Es sei ihr darum gegangen, die Bedeutung von Frauen im Umfeld Kropotkins sichtbar zu machen, sagte Troyano in der anschließenden Diskussion. So lobenswert das auch ist: Aus feministischer Perspektive reicht es nicht aus.
Generell ist der Grat schmal – zwischen einer Würdigung weiblicher Stimmen und ihrer Instrumentalisierung zu Werbezwecken für das anarchistische Projekt. Shirts und Tassen mit den Konterfeis von Emma Goldman oder Louise Michel sind das eine, die intensive Auseinandersetzung mit den Ideen und Schriften anarchistischer Vordenkerinnen wäre etwas ganz anderes. Auch dieser Aspekt war in St. Imier weniger stark ausgeprägt. Womöglich ist das ein Unterschied zwischen Feminismus und Anarchismus: Letzterer ist eine klar definierte Idee, die sich so beschreiben lässt – Ablehnung staatlicher Strukturen, Bevorzugung von direkter Aktion gegenüber Parteipolitik und dergleichen. Feminismus muss sich jedoch in seinem Kerninteresse in die Ideen und Systeme integrieren, und den Kampf überall führen, eben weil er alle Aspekte, Systeme, Ideen, und in Folge alles betrifft. Feminismus hat zwar immer wieder Entwürfe für die ideale, nicht-patriarchale Welt entwickelt, war aber selten einheitlich, was etwa Maßnahmen betrifft, um die Diskriminierung qua Geschlecht zu beenden. Feminismus steht für Debatte, denn es geht darum, die bisher aus der symbolischen Ordnung Ausgeschlossenen zu artikulieren: die der Frauen und auch darüber hinaus wegen ihrer Geschlechtlichkeit benachteiligten Personen. Aber Frauen sind untereinander ebenso unterschiedlich wie Menschen generell, was nur zur Geltung kommen kann, wenn die Unterschiede zwischen ihren Positionen herausgestellt werden. Konkret auf den Anarchismus bezogen, würde das bedeuten: Wir brauchen Bücher und Diskussionen über die fehlende feministische Theorie oder Bücher und Diskussionen über Konflikte unter Anarchistinnen, zum Beispiel zwischen Emma Goldman und Lucy Parsons oder innerhalb der Mujeres Libres. Dass „auch Frauen Anarchistinnen waren“ ist aus feministischer Perspektive uninteressant, interessant ist, was für einen Anarchismus sie jeweils wollten, und welchen nicht.

Nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit ist also aus feministischer Perspektive die ungelöste Herausforderung für eine an Freiheit orientierte Politik. Dabei war die Ungleichheit zwischen „Frauen“ und „Männern“ in der Praxis des Kongresses von St. Imier sogar relativ leicht zu überwinden, man musste es sozusagen nur wollen. Aber was ist mit Ungleichheit, die nicht so leicht überwunden werden kann? Unter der Überschrift „Care“ verhandeln feministische Debatten seit Jahrzehnten all das, was mit der Notwendigkeit zu tun hat, sich um andere zu kümmern und sich auf andere zu verlassen. Es geht dabei nicht nur um Putzen, Kochen, Abwaschen für etwa Kinder, sondern um die prinzipielle und unaufhebbare Ungleichheit, die zwischen denen besteht, die etwas können und jenen, die es nicht können (aber darauf angewiesen sind, Kinder, alte oder beeinträchtigte Menschen etwa …).
In der anarchistischen Praxis sind diese Fragen nur wenig präsent, vielleicht auch deshalb, weil sich Anarchismus vor allem um die Freiheit der Individuen kümmert und weniger um das gegenseitige Angewiesensein. In St. Imier etwa waren die Organisator*innen teilweise extrem erschöpft, weil sie kaum zum Schlafen kamen. Da alle Mithilfe der Teilnehmer*innen, anarchistischen Prinzipien gemäß, auf Freiwilligkeit beruhte, lief das Ganze konkret auf die Selbstaufopferung derer hinaus, die Verantwortung trugen. Viele wichtige Erfordernisse konnten deshalb nicht erfüllt werden. Zum Beispiel kam niemand dazu, sich überall um funktionierende Technik zu kümmern. Selbstorganisation ist prima, aber das gegenseitig aufeinander Angewiesensein, weil etwas gemeinsam gemacht wird, oder größer umgelegt, wenn es um allgemeine gesellschaftliche Erfordernisse und konkret Care-Bedürftige geht, brauchen die unbedingte Sicherheit (und nicht nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit), dass „es funktioniert“. Denn sie können nicht wie gesunde, junge, starke Menschen, im Zwei­felsfall selbst für ihre Bedürfnisse sorgen.

Es ist kein Zufall, dass in St. Imier „Ungleiche“ fehlten. Generell war das Publikum nicht sehr divers. Anarchismus ist als Theorie und vor allem als Praxis besonders attraktiv für eine bestimmte Gruppe von Menschen, nämlich solche, für die „Autonomie“ ein positiv besetzter Begriff ist und die ideale Welt eine, in der alle Menschen individuell unterschiedlich, aber prinzipiell gleich sind. Feminismus hingegen ist die Praxis des Umgangs mit der real gegebenen Ungleichheit. Und das betrifft nicht nur das Geschlechter- und Generationenverhältnis, sondern ist wie ein Brennglas, durch das potenziell alle Themen betrachtet werden können.
Deutlich wurde das beim Podium „Anarchists at War“, wo Aktivist*innen aus der Ukra­ine, Russland und Belarus von ihren (teilweise schlechten) Erfahrungen mit internationaler anarchistischer Solidarität berichteten. Die drei Frauen und ein Mann traten nicht nur als Antikriegs-Aktivistinnen auf, sondern verwiesen immer wieder auf ihren feministischen Hintergrund und damit auch auf ihren bewussten Umgang mit Differenzen: Sie verwahrten sich gegen „Westsplaining“ (etwa von Leuten, die ihnen erklären wollen, dass nicht Russland, sondern die Nato das größte Problem sei), schützten ihr Podium gegen Versuche des „Derailing“, also der Ablenkung vom Thema der anarchistischen Solidarität (zum Beispiel von denen, die stattdessen über Waffenlieferungen diskutieren wollten) und so weiter. Ein positives Beispiel dafür, wie feministische und anarchistische Erfahrung und Praxis sich gegenseitig als fruchtbar erweisen können.
Es ist klar, dass Anarchismus und Feminismus viele gemeinsame Anliegen haben und sich gegenseitig befruchten können. Aber das passiert nicht von selber, es muss aktiv angestrebt und moderiert werden. Die bloße Anwesenheit vieler Frauen reicht nicht aus, sondern es braucht unter Anarchist*innen die grundsätzliche Bereitschaft, ihre eigenen Gewissheiten aus dem Blick einer Perspektive „der anderen“, einer Perspektive der Differenz, hinterfragen zu lassen. Feminist*innen wiederum sollten sich klarmachen, dass eine solche Haltung nicht staatlicherseits verordnet werden kann, weil es sich dabei um einen komplexen Prozess des kulturellen Lernens handelt, das auf Beziehungen beruht, die echtes Interesses aneinander voraussetzen.

 

1 Luise Michel, 1830–1905, war Autorin und Anarchistin.

2 anarchy2023.org

3 Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, 1842–1921, Anarchist, Geograph und Schriftsteller. Er hinterließ u. a. die revolutionäre Schrift Die Eroberung des Brotes.

4 Kropotkine – un régard féminine, siehe Youtube: youtu.be/hicM7Epi40Y

Die Serie zum Anarchismus in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw der Gruppe Anarchismusforschung entstanden. Siehe auch: anarchismusforschung.org

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About the author

ist Politikwissenschaftlerin und Publizistin, sie ist Feministin, Anarchistin und religiöse Denkerin. antjeschrupp.com www.antjeschrupp.de

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