Vor 15 Jahren hat der Komponist Peter Ablinger eine Landschaftsoper in Ulrichsberg aufgeführt. Eigens dafür wurde ein besonderes Arboretum gepflanzt, eine Baumsammlung nach akustischen Gesichtspunkten. Nun ist Ablinger zusammen mit der Violinistin Biliana Voutchkova anlässlich des Kaleidophons im Jazzatelier Ulrichsberg zurückgekehrt, wo er Ende April aufgetreten ist. Ein Reisebericht von Ralf Petersen.
Ulrichsberger Kaleidophon 2023: Es ist Sonntag, der 30. April und eine Komposition von Peter Ablinger eröffnet den dritten und letzten Tag des Festivalwochenendes. Ablinger, gebürtiger Oberösterreicher, wohnt seit langem in Berlin, wo er zusammen mit der bulgarischen Geigerin Biliana Voutchkova das Stück An den Mond erarbeitet hat, ein „al fresco“ (Ablinger) komponiertes Stück. Al Fresco bedeutet Im Freien, draußen, ins Frische – dabei entstand das Stück im Corona-Lockdown. Gleich zu Beginn des Kompositions- und Probeprozesses, erzählen mir Ablinger und Voutchkova, musste die Arbeit unterbrochen werden: Voutchkova war an Covid erkrankt. Ablinger hatte vorher zufällig ein Buch über antike Zaubersprüche gelesen, nun musste ein Zauberspruch gegen die Krankheit her. „Wie ein Kind daherreimend“ begann Ablinger, eigene Zaubersprüche zu erfinden. Arbeitsmotto: Den Zufall leiten lassen.
Auftakt. „Eins und zwei und Brei und Gier und fünf und Hex und gesund“ und andere Variationen, Klänge, Worte, Töne prasseln aus Voutchkova heraus. Noch sind die Worte zu Sinneinheiten sortierbar. „Schreib’s auf“, sagt Voutchkova, „bis nichts mehr bleibt“. Der Klang, Stimme und Violine, schwillt an, das Rauschen verstärkt sich zum polyphonen Lärm. Wie die Stimmen isolieren, filtern, Kontexte erkennen, Bedeutung erzeugen?
„In der Kunst“, sagt Ablinger, „geht es auch um Sinnlosigkeit“: Große Künstler*innen bringen zum Staunen ohne Erklärung, bei den Rezipient*innen klappen die Kiefer nach unten: „Was ist denn hier los?“ Zuschauer*innen und Künstler*innen stellen automatisch Verbindungen her: „Sinn“, sagt Ablinger, „ist wie ein Gefängnis, dem es zumindest momentweise zu entkommen gilt.“ Ablinger bevorzugt daher Strategien und Taktiken, die die Kommunikation erschweren, bestenfalls verweigern. Statt der Verkündung präferiert er das Rätsel.
Auf der Bühne quälendes Schleifen, zerrendes Flüstern. Es folgt – meiner Zählung nach – der vierte Zauberspruch. Zu den Klängen, die Voutchkova auf der Bühne erzeugt, fügt Ablinger Abweichungen in bis zu 31 Schichten hinzu, Voutchkovas Stimme kommt in Form von Zuspielungen vom Band zu ihr zurück, so dass sie bisweilen auf ihr eigenes Echo zu reagieren scheint. Während des Entstehungsprozesses, erklärt Voutchkova mir, sei sie stets ihrer Intuition gefolgt. An den Mond wurde nach den zwei durch Krankheit verlorenen in zwei „kompakten“ (Voutchkova) Wochen gemeinsamer Arbeit durch Improvisationen und Echtzeit-Komposition hergeleitet. Ablingers Herangehensweise, sagt Vouchtkova: „Nicht mischen, sondern widersprechen!“ Im Folgenden wurde das dann sehr streng geschriebene Stück immer wieder wiederholt.
„Jetzt“, sagt Voutchkova, aber nicht im Gespräch, sondern auf der Bühne. Jetzt, das ist auch der Titel eines Stücks, das Ablinger 1996 geschrieben hat: „JETZT/ sonst nichts/ immer nur das Wort „JETZT“/ mit unterschiedlichen Pausen/ wasweißichwielang/ 1.2.96“. Der Grundimpetus seiner Arbeit, sagt Ablinger, sei der eines Kindes im Sandkasten, „das einen Sandturm baut“. Das Kind habe nicht zum Anliegen, zu wissen wie hoch der Turm sein kann, es baue einfach. „Aber wenn der Turm ganz hoch ist, ruft es doch: ,Guck mal, wie hoch der Turm ist.‘“ Statt Sand aufzutürmen, synthetisiert Ablinger Stimmen. Voutchkova zischt und vokalisiert wie zum Ausdruck des Leides verstellte Laute, die Klänge scheinen widersprüchlich, einander entgegenlaufend: Es wird gehorcht, antizipiert, erwartete Klänge werden in Empfang genommen oder abgewatscht. Ein Spiel mit Wiederholung und Differenz.
Unter den antiken Zaubersprüchen, die Ablinger las, war einer, der besagte: „Wenn der Mond abnimmt, soll er die Krankheit mitnehmen.“ Vom Balkon aus betrachteten Ablinger und Voutchkova den Supermond, einen Vollmond, besonders nah an der Erde. „Die Mondsprüche und der tatsächliche Mond waren in der Verbindung miteinander so intensiv“, erzählt mir Ablinger, „dass es einfach der Titel sein musste.“
Auf der Bühne – nach meiner Zählung sind wir bei der 6 – reiben sich Bienensummen und akzentuierte Betonungen aneinander, das Surfen auf den Soundwellen endet immer wieder im Wellenbruch der Verzerrung. In ein Wabern führen sich einzelne Konsonanten ein, bis das Summen abschwillt. Dann gibt es einen Spezialgast: Voutchkova spielt auf einer alten Zither, deren Saiten klingen wie schwere Ketten, auf die sich hallend Ablingers Worte aus Voutchkovas Mund legen: Wieder ein „Jetzt“ etwa, oder ein „In seinem Mund“. Anschließend, zurück auf der Violine, wüstes Spiel, schrilles Stakkato, Dröhnen und Desorientierung. Das Rätsel wird verwirrender.
Im Rahmen von Kulturhauptstadt Linz 2009 war die Zusammenarbeit mit dem Jazzatelier unter Leitung von Alois Fischer ein wichtiges Sonderprogramm: In Ulrichsberg sollte sich einmal das „Hören neu lernen lassen“, so eine gängige Ansage von damals. Im Rahmen von Linz 09 wurde zuvor die Initiative Hörstadt gegründet, die sich bis heute für eine „bewusste und menschengerechte Gestaltung der akustischen Umwelt“ einsetzt – und man ermöglichte mit Kulturhauptstadt-Mitteln Ablingers Landschaftsoper, für deren ersten Akt ein Arboretum aus 20 Bäumen gepflanzt wurde, das, hochgewachsen, erfahrbar machen soll, wie unterschiedlich das Rauschen verschiedener Bäume klingen kann. Peter Androsch, Komponist, Künstler, Klangaktivist, Mitbegründer der Hörstadt und damals bei Linz 09 tätig, sagt dazu: „Baumsammlungen und -gruppen als akustische Mittel sind eine sehr alte Idee. Das ist der Urgedanke der akustischen Ökologie: Luft überträgt Schall.“
Angesprochen auf mein Dilemma, im Konzert alles verstehen zu wollen, kommentiert Androsch, Musik beziehe sich immer auf gesellschaftliches Erleben: Ohne Karte oder andere zusätzliche mediale Ebenen (Setlist, vormaliges Hören, einordnender Vortrag…), bin ich, in meinem Versuch des Verstehens, auf meine persönlichen Erfahrungen zurückgeworfen. Als Zuhörer muss ich selbst „eine Verbindung herstellen“. Die Wahrnehmung der akustischen Ebene steht eng in Zusammenhang mit dem Wunsch, sich sicher zu fühlen: „Nur das Gehör informiert uns darüber, was hinter unserem Rücken ist“, sagt Androsch. Vertraute Geräusche beruhigen uns, hohe Frequenzen (Feuer, Alarm, Schrei) führen zu Stress: „Gefahr“, sagt das Gehirn dem Körper, „Wir müssen wegrennen!“ Auch die avancierte Musik greift gerne auf Extreme zurück und spielt mit der Sehnsucht der Hörer*innen nach vertrauten Klangabfolgen. „Es gibt vielleicht kein Ohrenlid“, sagt Ablinger mir, „dafür aber viel raffiniertere Prozesse.“ Bewusst Hören zu lernen, bedeutet, diese Geräuschfilterungsprozesse verstehen und beeinflussen zu lernen.
Zauberspruch Nummer 10. Lautes Rauschen. Ist Biliana Voutchkova ein raschelnder Baum, den man auf die Bühne gepflanzt hat? „Wie eine Pflanze fühle ich mich nicht, aber eine Naturgewalt ist vorhanden“, sagt mir Voutchkova, „während der ganzen Vorstellung.“ (Meine) Nummer 10 ist klarlinig, beschleunigend, eine Wegbeschreibung. Es folgt ein Schrei, dann ein Quietschen, ein Fluss fließt, ein verlangsamter Schwarm ist zu hören, die Klänge klingen, als könne man sie schmecken. „Lauf, lauf, lauf“, dringt es aus Voutchkova und: „Nimm, nimm, mit, mit, mit“. Nun wirds rasant, ich schreibe noch die 14 auf, da sagt Voutchkova schon: „Und tschüss“ und An den Mond ist vorbei. 14 anstatt 16 – ich hab mich also tatsächlich verzählt. Rätsel ungelöst.
Es folgt Das ökologische Manifest, eine Improvisation mit Stimmen, Violine, Geräuschen. Dafür tritt Ablinger, der Komponist, auf die Bühne. „Peter“, erzählt mir Voutchkova später, „improvisiert eigentlich nie. Das ist wirklich eine Seltenheit.“ Sie erklärt mir, dass Das ökologische Manifest für Ablinger ein Stück ist, während es für sie eine Improvisation sei: „Es ist nicht wieder aufführbar, man müsste es imitieren. Das will niemand.“ Auf einem Tisch hat Ablinger Dinge versammelt, die er zur Klangerzeugung nutzen wird: Plastikfolie, eine Papiertüte, metallene Deckel, Wasserflaschen. Es beginnt damit, dass Ablinger Kugeln in der Hand aneinanderreibt, dass sie einen kreischenden Ton vermitteln. Voutchkova spielt und schabt auf der Violine, murmelt. „Beanstandung“, sagt Ablinger, „fallen lassen, gegebenfalls“, oder „Veränderung erzwingen können“. Es stellt sich das Gefühl ein, man oszilliere zwischen zwei Radio- oder gar Fernsehprogrammen. „Es enthält viele Informationen“, sagt Voutchkova mir, „aber es ist kein erzählendes Stück.“ Der Empfänger muss die Klangkulisse filtern und sich selbst „als Mitschöpfer“ (Ablinger) begreifen, „selber die Komposition zusammenstellen.“ Während des kurzen Stücks erhalten die Gegenstände in Ablingers Händen eine immer größere Schwere, so reibt er etwa Hölzer aneinander, als brennten sie. Voutchkova scheuert auf ihrer Violine. Schließlich endet der Nachrichtenstrom: Das ökologische Manifest zersetzt sich im Rahmen einer improvisierten Störgeräusch-Symphonie vor unseren Ohren.
„Sind Menschen wie Bäume?“, frage ich Peter Ablinger. „Nein“, antwortet Ablinger, „wir sind mit einander verbunden. Wir sollten keine scharfen Grenzen ziehen: Menschen, Pflanzen und viel mehr sind ein System und leben in Symbiose.“ Voutchkova frage ich, ob sie eine Grenze zwischen Klang und Geräusch zieht. „Noise, pitch …“, sagt sie, „I just love sound“.
Peter Ablinger ist ein in Schwanenstadt in Oberösterreich geborener und seit 1982 in Berlin lebender Komponist. ablinger.mur.at
Biliana Votchkouva ist eine in Berlin und Bulgarien lebende Violinistin und Vokalistin. Mit ihrem Trio Jane in Ether ist sie 2024 auf Tour, auch in Österreich.
bilianavoutchkova.net
bilianavoutchkova.net/jane-in-ether.html