Fahren lautet der Titel des ersten Dokumentarfilms von Veronika Barnaš, dessen Premiere bei der diesjährigen Diagonale, dem Festival des österreichischen Films, abgesagt werden musste. Stattdessen gab es im Juli beim Kurzfilmfestival dotdotdot im Wiener Volkskundemuseum die Gelegenheit, ihn sich anzuschauen. Ein fixer Programmpunkt ist er auch bei Crossing Europe Extracts, das diesen Oktober in Linz stattfindet.
„Heute wird der Jahrmarkt vor allem von mechanischen Fahrgeschäften, von Karussellen und ähnlichem, dominiert. Die vorrangige Funktion des Jahrmarktes ist es, körperliche Rauscherlebnisse zu erzeugen – sei es durch die Fahrgeschäfte oder im Bierzelt. Am Jahrmarkt darf sich jede/r in einem bestimmten Zeitraum und Rahmen gehenlassen, was eng mit der Tradition des Karnevals verbunden ist, der auch als Ventil zur Disziplinierung in der Gesellschaft eingesetzt wurde“, erzählt die Künstlerin und Kuratorin Veronika Barnaš.
Die Idee zum Film gab die 2017 im Nordico Stadtmuseum Linz gezeigte Ausstellung Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten, die sich der Geschichte des ältesten und größten temporären Jahrmarktes Österreichs widmete. Im kuratorischen Team war Barnaš gemeinsam mit Andrea Bina und Georg Thiel tätig. Insbesondere die Beschäftigung mit den fahrenden Schausteller*innen weckte das Interesse der Künstlerin. „Besonders spannend ist ihre nomadische Lebensweise, die sie zum Teil noch bis heute praktizieren. Feste Wohnsitze haben sie erst ca. seit den 1950er Jahren. Bis dahin lebten viele ausschließlich in Wohnwägen. Dass es diese Form des nomadischen Lebensstils in Österreich, sonst nur bei Roma und Sinti bekannt, gab und bis zu einem gewissen Grad noch immer gibt, fand ich interessant, ebenso wie ihre Arbeit am Vergnügen.“
In Fahren (2020, 30 min) begleitet die Filmemacherin zwei Schausteller*innen-Familien, strukturiert ihn in Sequenzen und zeichnet damit neben dem ästhetischen auch ein intimes Bild des temporären Spektakels, das v. a. eines zum Zweck hat: den Menschen auf den Fahrgeschäften einen kurzen Moment der Schwerelosigkeit zu ermöglichen. Dokumentiert werden Auf- und Abbauarbeiten, stundenlange Autofahrten und vor allem die kräftezehrende Arbeit, die dem Vergnügen als solches augenscheinlich entgegensteht. „Genau diesen Gegensatz habe ich während der Feldforschung und dem Drehen eindrücklich kennengelernt“, so Veronika Barnaš, und ergänzt zur Entstehung des Filmes: „Nach der Erstellung eines Stammbaums der weitverzweigten oberösterreichischen Schausteller*innen-Familien wollte ich mich noch eingehender mit deren Geschichte und Lebensstil befassen und diese/n auch vermitteln.“ (Anm.: Der Stammbaum ist unter www.veronikabarnas.net einsehbar). Für den Film habe ich das Ehepaar Avi und einen Teil der Familie Schlader von 2017 bis 2019 drei Saisonen lang begleitet. Film erschien mir das entsprechende Medium, um dieses Leben in Bewegung zu dokumentieren: Die Schausteller*innen sind quasi permanent von einem Ort zum nächsten unterwegs, die Fahrgeschäfte bewegen sich und die Besucher*innen suchen die Bewegung der Fahrgeschäfte. Ich wollte zeigen, wie dieser Lebensstil abläuft und was er mit sich bringt. Fahrende Schausteller*in zu sein, sei eine Leidenschaft, die man in die Wiege gelegt bekommt, wurde mir von vielen von ihnen gesagt. Sie sind überzeugt, dass kaum jemand, der/die nicht in eine Schausteller*innen-Familie geboren wurde, die viele und schwere Arbeit aushalten würde. Sie hingegen würden dies von klein auf lernen. Aber es gibt heute in den jüngeren Generationen auch viele, die nicht mehr ins Gewerbe einsteigen bzw. auch damit aufhören.“
Im Rahmen ihres PhDs an der Kunstuniversität Linz/Abt. Kulturwissenschaft, forscht Barnaš zu fahrenden Schausteller*innen und Jahrmarktkultur mit Fokus auf das sich wandelnde Verhältnis von Mensch und Maschine. „In Österreich gibt es kaum Forschung zu fahrenden Schausteller*innen. Anhand des Familienarchivs einer Schausteller*innen-Familie möchte ich ihre Geschichte und den Wandel in den Unterhaltungsmedien und -formaten am Jahrmarkt anhand des exemplarischen Beispiels dieser Familie von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute rekonstruieren“, skizziert die Künstlerin ihr Folgeprojekt. In diesem wird sie den in einem Wanderbuch verzeichneten Routen eines Vorfahren dieser Familie durch weite Gebiete der ehemaligen k. u. k Monarchie bis nach Izmir folgen, um daraus einen weiteren Film zu machen.
Da sich Gemeinden und Vereine immer mehr von der Verantwortung, Jahrmärkte/Kirtage zu organisieren, zurückziehen, übernehmen Schausteller*innen diesen Aufwand mittlerweile oft selbst. „Es zeichnet sich zwar kein Ende der Jahrmarktkultur ab, aber es werden in Zukunft voraussichtlich nur wenige, größere Schausteller*innen-Unternehmen bestehen bleiben. Insbesondere die Covid-19-Pandemie bedroht viele von ihnen in ihrer Existenz, da seit März 2020 bis auf weiteres alle temporären Jahrmärkte abgesagt wurden“, verweist Barnaš am Ende auf die aktuelle Krise, die die oben angesprochene Entwicklung wahrscheinlich beschleunigen wird.
Veronika Barnaš, Fahren, Dokumentarfilm, 30 min, dt./engl. UT, 2020
www.veronikabarnas.net
Filmvorführung:
8. – 10. Oktober 2020
Crossing Europe EXTRACTS: Local Artists Shorts 2020 im OÖ Kulturquartier
www.crossingeurope.at