„Wandelalter“, Welle 3 von Walter Pilars „Lebenssee“-Projekt, ist soeben erschienen. Eine wunderbare Schatztruhe, Welt gespiegelt in Zeiten und Gegenden rund um den (und mitunter auch im) Traunsee. Ein Gespräch mit dem Dichter.
Das Ende passt gut für einen Anfang. Auf Seite 378 ein Foto mit Walter Pilar, der eine Flasche hält. Darin eine Maus, „(wahrscheinlich) Gelbhalsmaus“, urteilt das Biologiezentrum Linz, das übrigens nicht bloß kaltherzig forscht („Manchmal erreichen uns auch t r a u r i g e Funde.“). Der Verlag, so Pilar, habe Bedenken geäußert, dass wegen des Fotos der Vorwurf der Tierquälerei kommen könnte. Aber die Mausgeschichte, wie sie Pilar auch im Buch erzählt, geht so: Ende März 2014 irritierten ihn in seiner „ferienhausküche“ gelbe Plastikbrösel, die rund um eine halbvolle Maiskeimölflasche lagen. In the bottle besagte Maus, sie musste sich durch den Plastikstöpsel durchgefressen haben. Klarer Fall von Selbstpräparation, Pilar ruft aus: „Des is wirklich reinster Skurrealismus!“ Eine seiner Wortschöpfungen, zentral für sein Schreiben. Und die Maus schaue auch „ned irgendwie verzerrt, sondan gaunz friedlich“ aus (zu überprüfen auf dem Foto auf Seite 380). „Aber der Tod is schon was Schlimmes“, wende ich ein. Pilar, heftig: „Aowa bei die Schamanisten is des goaned aso!“ Um diese These zu untermauern, holt er ein Buch über Schamanismus hervor und deklamiert: „Wenn der Tod akzeptiert wird, kann er zur Ekstase werden.“
Eine tropische Sommernacht, wir sitzen auf der Steinterrasse vor Pilars Haus auf zirka halber Höhe des Linzer Pöstlingbergs. Auf dem Tisch hat Pilar vorsorglich Material, Unterlagen angehäuft („alles
belegboa“). Wenn die Gedankenflüge ihn auf ungeahnte Nebenpfade führen, springt er auf, verschwindet im Haus und kehrt mit weiterem Belegmaterial wieder. Die dritte Welle von Pilars „Lebenssee“-Projekt soll uns in diesen (drei) Stunden beschäftigen. Untertitel „Wandelalter“, kürzlich beim ehrenwerten Ritter-Verlag erschienen. Ein Schatzkästchen? Dieses Buch ist eine wahre Schatztruhe und jeder Versuch vergeblich, eine anständige Inhaltsangabe zu liefern. Ich schlage Pilar das Wort „Puzzle“ vor, und zwar ohne die Gewissheit, dass die Teile ein ganzes Bild liefern könnten. Er scheint einverstanden, fast, und ergänzt: „Oder eine Art Kaleidoskop.“
„Lebenssee“: Welle 1 und 2 sind 1996 bzw. 2002 erschienen. Ebensee, wo Pilar (Jahrgang 1948) aufgewachsen ist; akribische Spurensuche am, um den und im Traunsee. Ausufernd, längst vergessene Quellen aufstöbernd. Wörter doppelt und mehrfach gewendet, ihren Gleich- oder auch nur ähnlichen Klängen lauschend. Geschichten, poetische Gestaltung, Dialektausdrücke im eigenen präzisen System wiedergebend. Ein Affront gegen die „hohe Literatur“, übrigens auch gegen die kommerziellen Interessen professioneller Literaturvertreiber. Widerborstig, inniglich, eigenwillig, schlichtweg „pilaresqu“. Liebevoll Details aufsammelnd, Pilar sinniert: „Mi reizt jao des á, je gleana waos is … des wiad jao nimma beachtet auf da Weujd …“ Pilar hat „Lebenssee ~~~“ streng nach dem Plan eines Flügelaltars aufgebaut (der als reales Objekt gerade in einem Kunstarchiv verstaubt – wieder eine eigene Geschichte). Er hält das Buch über den Tisch, die Finger zwischen die Kapitel geschoben: „So siagsta’s skulptural.“
Kapitel 1 bildet das Fundament (= „Predella“) des Altars, bezeichnenderweise mit „WASSERSPIEGEL“ betitelt. Somit ein schwankendes Fundament, was Pilars poetische Kraft nur anfacht: „Des heujd i duach.“ Laut- und Bild-Gedichte, versehen auch mit bisweilen stark unter Flunkerverdacht stehenden Fußnoten. „Vom GRUNDLN unter GRUNDFISCHEN“, das erste dieser organischen Poeme: Über der Wasseroberfläche heißt „ober der Narrationsgrenze!!!“, darunter schweben vereinzelt „?“, „0“ und Konsonantenkonsorten, noch tiefer, ganz klein geschrieben „ev. bis zum erdmittelpunkt“.
Weiterblättern, nach vorne, zurück. Fundstücke, die über Pilars Schreiben Auskunft geben. Seite 253, Pilar über eine Begegnung 1992 mit seinem ehemaligen Studienkollegen Franz Innerhofer, der inzwischen ein sogen. Suhrkamp-Autor geworden war. Pilar mit sanfter Ironie sich selbst und dem Kollegen gegenüber: „… empfand ich es als Auszeichnung, daß ein so berühmter schriftsteller mit mir literaturmärktlichen zniachterl* (auch wenn aus politisch reflektierter kleinverlagspolitik heraus) überhaupt fortgehen & also reden wollte.“ Fußnote „* zniachtl = schwächliches kleines wesen“.
Seite 261, Pilar sinniert über Bildmedien, die ein Geschehen festzurren: „… schaut die ganze G e s c h i c h t e schlagartig
n u r s o aus. Als hätte es nie auch andere Emanationen, Emotionen, Häniden gegeben. & darum fuzzle bzw. scheisze ich ja so lange an diesem Lebensseeprojekt herum.“ (Anm., „Häniden“, Pilar gibt Auskunft: = „kurze Momente“, siehe Otto Weininger: „Geschlecht und Charakter“).
Wir haben uns vorgenommen, an diesem Abend über das Thema „Performance“ zu sprechen. Wer Pilar liest, sollte ihn auch lesend erlebt haben. Schreiben und Vortrag des Geschriebenen gehören bei Pilar zusammen, zuletzt performte er beim Festival der Regionen im Sommer 2015 in Ebensee. Er spricht von „Performanzen“, von solchen erzählt er auch im Buch. Darunter die legendären „Ella-Pancera-Festtage“ im Juli 1984 in der „alten“ Salzlagerhalle Ebensee, eröffnet am 9. Juli von „Walter Pilar, vulgo Waltatti Pilatti im Dialog mit Universum, Publikum und Veranstaltungsraum“. Pilar zitiert („i tua jao ned so, eujs ob des eujs auf mein Mist gwaoxn wa“, sagt er) seinen Kompagnon Georg Nussbaumer, der u. a. festhielt: „Pilar liest pharaonenartig mit einem selbst gebauten, bezeichneten und beschrifteten, verkehrt konischen, hohen Papierhut am Kopf. Dann folgt ein unglaublich langer Kopfstand, der Kopf in der davon komprimierten Papierröhre wie ein überdimensionaler Eierbecher ruhend und er liest und liest weiter, das Buch steht aufgeschlagen am Boden vor seinem Gesicht. Dann startet sein ebenso handgefertigtes und mit einem Feuerwerkskörper betriebenes Raketenauto, zuerst fauchend und nur leicht anrollend, so dass man schon meinte, das würde nun nichts mehr, (…)“
Zurück zum Gespräch in der Jetztzeit. Kurzer Anflug von Melancholie, Pilar über Vergänglichkeit: „Dao haosd so vüü Performances gmaochd, und nix davao gibt’s heid mea zun Seng.“ Andrerseits (der Interviewer hat’s in Hochdeutsch notiert): „Was ich für den Untergang der Performance halte, ist, wenn alles gefilmt wird … Geschichte wird von den Siegern geschrieben, so auch in der Kunstgeschichte … Wenn man alles festhält, diese Videos laufen dann bei Ausstellungen, in
Auslagen … Gleichzeitig ist das eine Zumüllung, die Filmarchive sind zugestopft … Energieflüsse versiegen …“ Ich frage nach, ja was jetzt? Lob der Einmaligkeit, ganz im Geist der 68er, oder doch das Ganze auf ein Filmmedium bannen? Pilar antwortet mit dem großartigen Satz: „Ich bin im Widerspruch, ich weiß.“
Walter Pilar und ich haben nur am Rande über Zeitgeschichtliches gesprochen, das als „NACHTSTRÄHN(E)“ auf knapp 100 Seiten eine zentrale Stelle von „Lebenssee ~~~“ einnimmt. Im Februar 1934 war in Österreich ein paar Tage Bürgerkrieg. In Ebensee waren die Auswirkungen deutlich spürbar, der Konflikt endete ohne Blutvergießen. Darüber existiert nur spärliches (mündliches) Quellenmaterial, Pilar montierte es zum bemerkenswerten Text „Kinder mittens im Bürgerkrieg“. Zweitens erforscht Pilar die Jahre des 2. Weltkriegs und die Zeit danach. Die Spurensuche gipfelt in einer Nachtwanderung, in der ein „Er“ – Pilar ist ein „Nachgeborener“ – das Ungeheuerliche, die düsterste Düsternis erinnert. Dieser Text handelt vom Holocaust, Teil der Tötungsmaschinerie war das KZ Ebensee. Überlebende und halbverhungerte „Kazettla“, die nach Kriegsende durch den Ort huschten. Pilar erzählt, wie später, viele Jahre später noch an den Stammtischen gesprochen wurde. Er beobachtet, hört zu, spricht mit den Menschen. Pilar entschlossen und beißend sarkastisch, wenn es gegen das Herrenmenschentum geht. Ein Zitat genügt keinesfalls, der ganze ungemein starke Text aus „NACHTSTRÄHN(E)“ gehörte in die hiesigen Schulbücher:
„In dieses Nacht- & Nebeljahrzehnt, mit da bestn öffentlichen Sicherheit überhaupts’ (weitere Stammtischweisheit) waren germanische Schemen abgestiegen zu Scheingendarmen, um mit schwarzen Schand-Armen das ‚rassisch minderwertige Material‘ zu vergasen. & vergifteten damit auch die Lebenden & das Leben an sich & sich selbst.“
Walter Pilar: „Lebenssee ~~~ Wandelalter“: Ritter-Verlag, Klagenfurt und Graz 2015, 384 Seiten mit zahlreichem Bildmaterial.
Walter Pilar liest am 3. November, 19.30 h, im Linzer Stifterhaus.
www.stifter-haus.at