Noch bis Anfang Oktober ist im Lentos die bisher größte Einzelschau einer der international einflussreichsten Künstlerinnen zu sehen: Cathy Wilkes hat Disparates installiert, Figuratives, Objekthaftes. Eine Menge Beziehungsgeflechte ermöglichen weitläufige Gedanken. Wer traut sich in den großen, spärlich befüllten Raum?
Dass das Werk der britischen Künstlerin mit Emotionen zu tun hat, scheint common sense in der Besprechung von Cathy Wilkes – und ist wohl auch wesentlicher Teil ihres Werkes. Betritt man den großen Raum, und die Autorin hat dies unter gänzlich verschiedenen Umständen getan, einmal bei der gut besuchten Ausstellungseröffnung, ein anderes Mal an einem Ausstellungstag, der weniger Besucherinnen und Besucher bereithielt, empfängt einen zunächst einmal der Raum selbst. Ein Raum, der ob der weitgehenden Leere zuerst unerwartetes Durchatmen ermöglicht, während man eine verloren wirkende Objektgruppe ausmacht, die sich trotz Abwesenheit von mächtiger Masse behauptet.
Nähert man sich der Objektgruppe, den „Figuren und Objekte von 5 Arbeiten“, oszilliert ab dem ersten Moment das Empfinden zwischen großer Würde, existenzieller Schäbigkeit, Detailreichtum und Verlust – eine Gemengelage, die vielleicht bezeichnend für das innerliche Dasein schlechthin ist, oder sogar für eine Seinsgeschichte der Menschheit selbst. Innerhalb der begehbaren Installation wird der neugierige schweifende Blick gefangen genommen von minimiert wirkenden Puppenfiguren, die in Brokatgewändern die Reste einer großen, lange vergangenen Zeit zu zitieren scheinen, ein anders Mal in beklemmende Ärmlichkeit gehüllt Assoziationen zur näheren Zeitgeschichte oder den aktuellen humanitären Katastrophen wecken. Gemeinsam mit Scherben, Objekten und kleineren Gegenständen sind Figuren zu eindeutigen und doch rätselhaften Szenerien verwoben; ein größeres Gebilde am Boden oder einige winzige Bündel vermeint das menschliche Auge als qualvoll verendetes Tier oder als mehrere am Boden liegende Säuglinge zu erkennen.
„Säuglinge“, die so gar nichts mit lebensecht nachgebildeten Puppen zu tun haben, sondern vielmehr in einer hohen Kunst der Minimierung manchmal lediglich aus einem Stück Knäuel und Stoff bestehen: Diese figurativen Elemente, die sich bei genauerem Hinsehen lediglich als Fragmente „von etwas“ erweisen, beziehungsweise das erahnte „Ganze“ lediglich innerhalb des Gesamtsystems der Installation spürbar machen, wirken in der Beobachterin, im Beobachter wie unmittelbar abrufbare Trigger, die etwas Starkes auslösen. Man möchte etwa diese herzzerreißend verloren wirkenden Bündel aufheben und in den Arm nehmen. Und vielleicht gerade deshalb, weil man über das Konkrete im objekthaften Geschehen nichts wissen kann, treten an die Stelle dieses Nicht-Wissen-Könnens die triggerhaft ausgelöste Erinnerung an persönliche Emotion, der Instinkt oder Bilder von gemeinsamer kultureller Erfahrung. Beziehungsweise tritt man möglicherweise selbst mitten hinein in ein Bedeutungs- und Beziehungsgeflecht, das Will Bradley als das Wesentliche für Wilkes‘ Arbeit identifiziert hat: „Den Versuch, sich auf ein System von Objekten einzulassen in vollem Bewusstsein um die komplexen Bedeutungen und Beziehungen, die ein solches System hervorbringen kann“1.
Als Besonderheit der Ausstellung sei an dieser Stelle angemerkt, dass selten der Unterschied von fotografischer Objekt-Abbildung und einer tatsächlich räumlichen Präsenz und Wirkung von figurativen Szenerien so deutlich hervortritt wie bei Cathy Wilkes Arbeit. In diesem Zusammenhang sei auf das veröffentlichte Bildmaterial der „Puppen“ und „Figuren“ verwiesen, die in der räumlichen Präsenz des Ausstellungsraums zweifelsohne andere Wirkungen entfalten. Und ebenso an dieser Stelle angemerkt sei eine andere Beobachtung, die aus den eingangs erwähnten unterschiedlichen Situationen der Ausstellungsbesuche resultiert: Wurden bei der Ausstellungseröffnung die Besucher und Besucherinnen, sozusagen aus der Ferne beobachtet, in dieses begehbare und rätselhafte Environment aus existenzieller Würde und Not wie von selbst involviert, sieht man sich jenseits einer Ausstellungseröffnung der einsameren und auch analytischeren Involvierung der eigenen Person in dieses System gegenüber.
Cathy Wilkes Arbeiten werden wegen ihrer unmittelbaren Wirkung oft mit Begriffen aus dem Theater beschlagwortet: als Bühnenbild, Kulisse, Kammerspiel in Moll – oder ähnlichem. Etwas ist passiert, etwas wurde (oder wird) gespielt in diesem Bühnenbild; in einem Environment von Kulisse oder Szenerie, wo Figuren oder BesucherInnen gleichermaßen zu DarstellerInnen gemacht werden können. So versammeln die „Figuren und Objekte von 5 Arbeiten“ verschiedene Werke – unter anderem etwa zwei bei der Biennale 2013 gezeigten Werke, „Ohne Titel (Possil, at last)“, „Ohne Titel (Biggar)“, sowie „Ohne Titel, Tramway“ von 2014 aus Glasgow. Anstatt einer herkömmlichen Werkschau wurden sie neu arrangiert und neu zueinander in Beziehung gesetzt. Ein künstlerischer Zugang, den der Tate-Kurator Nick Hackworth bereits anlässlich Wilkes Turner-Preis-Nominierung 2008 als „constantly involving installation“ bezeichnet hat und auch aktuell gemeint haben könnte.2
Dies ist insofern interessant, als dass durch das ständig neue miteinander in Beziehung setzen der Einzelbestandteile immer neue Aufladungen und Wirkungen zwischen den Objekten entstehen – und diese immer etwas andere Auswahl oder Anordnung von Objekten die starke Aufladung erklärt. Auf der Ebene „eines Geschehenen, einer Geschichte“ gibt es an das Werk Wilkes, neben den Begriffen aus dem Theater, auch eine Annäherung über den Begriff der Archäologie (etwas ganz anderes war in einer anderen Zeit) oder der des Traumes (etwas passiert auf einer anderen Realitätsebene oder im persönlichen Zeitsprung); und die BeobachterInnen sind aufgerufen, sich mit diesem Vergangenen, mit diesem kulturell Erinnerten – oder auch mit dem ins Abseits geratene, mit dem Verlust, mit diesem Eingefrorenen – gleichsam als lebendige Archäologen ihrer eigenen Assoziationen auseinanderzusetzen. Cathy Wilkes spricht selbst davon, „Mut zum Sehen“ zu machen.
Andererseits eröffnet dieser Zugang, sozusagen im weit aufgeschlagenen Inbetween von Theater, Traum und Archäologie, eine Interpretation eines künstlerischen Zugangs, der wie eine künstlerische Formabwägung auf die Wahrnehmung von Welt rückwirkt: So sind Teile der 2014er Glasgow-Präsentation „Ohne Titel“ in Glasgow entlang eines Tramway-Schienenstrangs angeordnet worden, der das Gefühl von „etwas ist passiert“ auch als Tatort konnotiert, und damit die BesucherInnen quasi zu Zeugen eines Geschehnisses – oder Zeugen ihrer subjektiven Sicht auf die Geschehnisse – macht.
Ist die Welt nun eine untergegangene Zivilisation, eine Erstarrung, ein Schaupiel, ist sie ein Ort der Betrachtung, der Introspektion, oder ist sie ein Tatort? In der Lentos-Schau erscheint diese Formabwägungen jedenfalls gut ausbalanciert zu sein zwischen der bereits angesprochenen Installation und zwei weiteren Tableaus, die vielleicht eher auf das museale Element Bezug nimmt: Auf zwei weiteren Plattformen sind auf Metallgittern kleinere Objekte befestigt (Bilder, Holz, Metall, Aussortiertes, Alltagsgegenstände, Puppen, Maschinenteile, anderes). Das Metallgerüst rückt die Objekte in Distanz, macht sie im Gegensatz zur anderen Installation unbegehbar. Ist die Welt also doch auch, trotz dieser involvierenden Aufladungen, trotz der eigenen Involvierung, sozusagen auch distanziert oder sogar museal betrachtbar?
Ein wichtiger abschließender Aspekt, der hier angesprochen sein soll, ist die Frage, ob Cathy Wilkes Werk politisch ist. Die Frage drängt sich im Zusammenhang mit Wilkes innerlich-subjektiver Rezeption ihres Werkes geradezu auf – noch einmal Nick Hackworth im O-Ton: „emotive, highly individual“. Im neuen Lentos-Ausstellungkatalog bevorzugte man das Wort „introspektiv“, das sicherlich zutreffend ist, erkennt man doch in Wilkes Arbeit eine Geometrie, eine genaue „innere“ Vermessung, Überprüfung und Ausbalancierung von Gegebenen. Lentos-Direktorin Stella Rollig verweist im Zusammenhang des Politischen auf die feministische Bürgerinnenrechtsbewegung-Parole „Das Private ist politisch“ – und auf die soziale Dimension des Familiären, des Ökonomischen, konkret etwa der Fabrikschließungen (die in „Possil“ verhandelt werden oder dem Verfall der Stadt „Biggar“).3 Zweifelsohne erweckt die Lentos-Schau darüberhinaus Assoziationen mit Not, Verlust, Flucht und Menschenwürde, appelliert sozusagen auch an das sozialpolitische Gewissen der Menschen – wenngleich diese Wirkung auch nicht in ihrem direkten Zweck intendiert sein mag. Dass Cathy Wilkes das Innerste des Menschen aber sehr wohl als in Not geratenen Hort der äußeren Welt verortet, könnte eine Ausstellungsbeteiligung belegen, die 2013 im Kunsthaus Bregenz unter dem Gesamttitel „Liebe ist kälter als das Kapital“ stattfand. Hier standen bei Wilkes beinahe nackte Schaufensterpuppen an der Supermarktkasse, Konsumreste lagen am Förderband. Auch hier drängt sich eine Idee von Reste-Reduktion auf, sozusagen als quantifizierbare Restemotion im Inneren, oder eine Müllmaterialität, die nur mehr auf Konsum-Trigger zu reagieren fähig ist. Und als Titel der Gesamtschau „Liebe ist kälter als das Kapital“ benannte dieser Zusammenhang das Innere in seinem vielleicht bittersten Verlust. Insofern stimmt die Lentos-Schau geradezu hoffnungsfroh, da sie trotz der bereits angesprochenen Themen des Verlustes und der Not eine ungemeine Schönheit, Würde und Fähigkeit des Menschen anerkennt: die Fähigkeit des Sehens, des Nachspürens von detailreicher Materialität, der Sensorik, dem Raumempfinden. Und vielleicht als politischste Aussage überhaupt macht es die eigene innere Sicherheit zum einzigen Ort der Überprüfung der äußeren Faktenlagen.
Bleibt am Schluss noch zu sagen: Es liegt ein wenig im Wesen der Schau, streunende, staunende und flüchtige Gedanken zu entwickeln. Dies aber umso mehr als Empfehlung! Und: Wer traut sich noch bis Anfang Oktober in den großen, spärlich befüllten Raum des Lentos um seine eigene Sicht zu entwickeln?
1 Will Bradley, Ausstellungskatalog zu Cathy Wilkes
2 www.tate.org.uk; „TateShots“, zu den 2008 Turnerpreis-Nominierten Goshka Macuga und Cathy Wilkes
3 www.lentos.at
Das LENTOS Kunstmuseum Linz präsentiert die bisher größte und umfassendste Schau der für den Turner Prize nominierten Künstlerin Cathy Wilkes (geb. 1966 in Belfast, lebt und arbeitet in Glasgow). Die Ausstellung versammelt Arbeiten aus mehr als einem Jahrzehnt, darunter mehrere große skulpturale Installationen, Gemälde, Arbeiten auf Papier und Archivmaterial. Tate Liverpool in Zusammenarbeit mit dem LENTOS Kunstmuseum Linz und dem Museum Abteiberg, Mönchengladbach. Die Schau ist noch bis 4. Oktober zu sehen.