Time’s Up wurde bereits in der Referentin #1 vorgestellt. Nun präsentiert die Linzer Intitiative die damals bereits in Planung befindliche Installation „Mind the Map“ im März in Prag. Das Projekt konzentriert sich auf die aktuelle Asyl- und Migrationspolitik, insbesondere auf die Migrationsströme im Mittelmeer. Tina Auer von Time’s Up gibt Antworten über die explorative Installation.
Time’s Up benennt die Ausstellungssituation von „Mind The Map“ als explorative Installation. Diese folgt einer fiktiven Biographie von Christine Kollan, die, laut Time’s Up-Text, „versehentlich Flüchtlinge unterstützt und außerplanmäßige Firmenerbin wird“. Die Installation bespricht verschiedene Ebenen der Auswirkungen des europäischen Ansatzes mit Flucht und Migration, beziehungsweise „wie diese in unser Leben und Verhalten rückwirken“. „Mind the Map“ ist Teil des europaweiten Projekts „Future Fabulators“, und ist, nach einer Präsentation im Herbst in Nantes nun im Frühjahr in Prag zu sehen.
Zuerst eine Frage zur fiktiven Person Christine Kollan, an deren Schicksal ein Erzählstrang aufgebaut ist: Sie scheint irgendwie versehentlich in Migrationsströme geraten und wird währenddessen außerplanmäßig Firmenerbin. Ein ungewöhnliches Setting, in dem es möglich ist, aufeinanderprallende Welten sichtbar zu machen? Ich beziehe mich auf zwei Nachrichtensituationen (siehe Bilder), wo plötzlich über die Firmenerbin Christine Kollan berichtet wird – und wahrscheinlich dann unvermeidlicherweise über Migration. Frage dazu: Wer ist die fiktive Person Christine Kollan, was „kann“ sie, bzw: Was bringt der Faktor Fiktion in diesem Setting?
Wir brauchen Christine Kollan. Wir (be)nutzen ihre Historie, ihre gegenwärtigen Erlebnisse, ihre Denke, Zweifel, Ängste und Sehnsüchte – allesamt gediehen aus Faktenextrakten verwoben mit blanker Fiktion – und gewinnen dadurch Freiheiten und Spielräume, um uns den tatsächlichen Begebenheiten von Migration und Fluchtbewegungen zu nähern und auf eine Weise einzuarbeiten, die uns angemessen erscheint. Angemessen in dem Sinne, als dass wir uns durchaus bewusst waren und sind, dass wir, während wir die Geschichte über Flüchtende konzipieren, in „Sicherheit“, fernab von Grauen, Perspektivlosigkeit, Not und Schrecken sitzen.
Christine erlaubt uns (als AutorInnen und vielleicht auch als BesucherIn) eine Perspektive, die eine bestimmte „Nähe“ zu unseren eigenen Lebenssituationen birgt. Nicht dass wir etwa finanzstarke Industriellenabkömmlinge wären oder sich ein imposant großes Segelboot in unserem Besitz befinden würde, mit dem wir bevorzugt das Mittelmeer kreuzen. Aber als wir begonnen haben, die Thematik um flüchtende Menschen für eine künstlerische Arbeit aufzugreifen, als wir uns entschieden haben, ein individuelles Erlebnis in diesem Kontext zu „verzimmern“, herrschte schnell Einigkeit, dass wir uns die Perspektive Flüchtender nicht erlauben dürfen. Dies wäre – aus der „wohligen“ Position aus der wir die Erlebnisse skizzieren – alles zwischen anmaßend, zynisch und überheblich. Keine(r) von uns musste je den Mut und die Risikobereitschaft aufbringen, welche die Menschen, die sich für die Flucht entscheiden, an den Tag legen. Keine(r) von uns erlebte oder verspürte je die Notwendigkeit aus Perspektivlosigkeit, aus Verzweiflung oder Todesangst den jeweiligen Lebensmittelpunkt verlassen zu müssen. Allesamt befinden wir uns in der privilegierten Position einen Reisepass zu besitzen, der – wenn überhaupt nötig – Visumanträge für fremde Länder zu einem rein formalen Akt macht und uns nie – bisher zumindest – auch nur ein einziges Mal die Einreise in eines der gewünschten Länder verunmöglichte.
Damit konkret zum Raumsetting, zur explorativen Installation. Sie scheint erzählerische, und um es wörtlich zu sagen, erforschende und kundschaftende Wege zu schlagen. Wo werden die BesucherInnen durchgeschleust, welche Zusammenhänge und künstlerischen Mittel waren euch wichtig, um diese explorativen Routen anzulegen, und warum? Tina, du schreibst in deinem Blog (Anm.: Link siehe unten) von niederschmetternden Berichten von NGOs, die sich auf eine „ausschließlich auf sicherheitsrelevante und wirtschaftliche Faktoren bezogene Grenzpolitik unter Ausschluss von humanitären Aspekten und Missachtung der Menschenrechte“ entwickeln hat können. Vielleicht die Frage auch dahingehend, wie hier mit einer Komplexität der Fakten hinsichtlich explorativen Routen umgegangen wird.
Erfahr-, erleb- und erforschbar sind verschiedene Ebenen – eine Methode, die wir immer wieder anwenden bei unseren „begehbaren Erzählungen“. Begründet auch darin, als dass alle BesucherInnen unterschiedliche Zeitfenster für das Erforschen der Geschichte zur Verfügung haben. Insofern bemühen wir uns immer um eine „Oberflächenebene“ – vergleichbar vielleicht mit dem filmischen Mittel des Establishing Shots. Ohne spezifische Aufmerksamkeit werden inhaltliche, zeitliche und auch „genre-spezifische“ Eckpfeiler der Story transportiert. Vertiefende, vernetzende und detaillierte Inhalte bedürfen in Folge dann einer ausgeprägteren Zuwendung der BesucherInnen. Wichtiges, ebenfalls wiederkehrendes Mittel in unseren Arbeiten ist die Immersion, das „Einnehmen“ der BesucherIn. Hierbei kommen alle Medien zum Tragen, die je nach Situation zielführend sind. Diese reichen exemplarisch von atmosphärischen Licht- und Tonlandschaften über architektonische Eingriffe und bewusster Requisitenverwendung (und deren spezifischer Produktion) bis hin zur Platzierung fingierter Nachrichtenberichte (Online- und oder Druck, sowie Radio und Fernsehen), privater Korrespondenz oder persönlicher Aufzeichnungen der Protagonisten.
„Mind The Map“ im Konkreten erlaubt zu allererst Einblick in Christines Leben – episodisch und zeitlich geordnet sind relevante Ereignisse ihres Lebens „verzimmert“. Beginnend mit einer flüchtigen Hinführung zur gesamten Situation, welche das von Leichtigkeit und Müßiggang geprägte Leben Christines einleitet. Symbolisiert durch den Nachbau eines Segelboot-Decks samt exemplarischer Ausstattung und akustischer Umgebung dann die Hilfestellung Christines der in Seenot geratenen Menschen. Dann die Anschuldigung der Schlepperei in Folge, verkörpert durch eine möglichst realitätsnahe Replikation einer Gefängniszelle verschmolzen mit einem Grenzzaun – aufgebrochen und zum Über-/Eintritt einladend – um vom Unfalltod ihrer Familie zu erfahren und um im (ebenfalls repräsentierten) Büro des Familienbetriebes zu landen um dort den vergangenen, den gegenwärtigen und zukünftigen Verlauf von Christines Lebens zu rezipieren und mit ihr gemeinsam sozusagen nach einer möglichen Entscheidung für ihr weiteres Leben zu suchen.
Die Komplexität der Fakten haben wir beispielsweise in den von uns als „Transitzonen“ bezeichneten Wegen zwischen „Christines Episoden“ eingearbeitet. Sie bergen exemplarisch reale Fakten, Zahlen, Bilder und Stimmen über und von Flüchtlingen und MigrantInnen. Weitgehend unkommentiert, haptisch und raumfüllend, werden Zitate und Bilder an Wände und Bodenflächen, Zahlen und Orte von Vermissten und Toten auf Gummibootreste projiziert und illustriert. Integrativ spiegeln sich verschiedene Fakten natürlich auch in sämtlichen Erfahrungen Christines wider. In fingierten Nachrichtenbeiträgen zum Beispiel oder in den geführten Verhören und auch in ihrem Tagebuch, das in immer wieder aktualisierter Form in der Installation mehrmals aufliegt.
In deinem Blog, den ich vorhin bereits erwähnt habe, steht außerdem einleitend: „Als ich kürzlich mit einem angehenden Historiker über die Situation der europäischen Asyl- und Migrationspolitik sprach, im Besonderen über die Sicherung der EU-Außengrenzen, merkte dieser an, dass, wird die Lage in ein bis zwei Dekaden historisch betrachtet und verortet, er davon ausgeht, dass die Gräuel- und Gewalttaten, die sich seit den 1980-ern bis heute zunehmend zuspitzen, auf der selben Ebene wie verschiedene im Heute bekannte Kriegsverbrechen verhandelt werden würden.“ Jetzt ist es so, dass du diesen Blogeintrag bereits im August 2014 gemacht hast – und ich sage das deshalb, weil zu diesen Migrationsströmen, die ja aus einem ohnehin massiven und elenden sozialen Ungleichgewicht resultieren, noch durch Kriegsflüchtlinge „überlagert“ wurden – ich meine jetzt hinsichtlich der Wahrnehmung erst so richtig spürbar wurde für den populären Mainstream in Europa. Wie habt ihr das im Zuge eurer Beschäftigung wahrgenommen, überholen sich da nicht die Ereignisse? Was ist euch im Kern wichtig?
Das mag nun äußerst pathetisch und möglicherweise fernab von einer Antwort auf deine Frage sein, aber mir kommt unverzüglich der erste Artikel der Menschenrechtskonventionen in den Kopf. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Und in diesem Sinne erlaube ich mir zu behaupten: Nein, die Ereignisse – zumindest im Grunde – überholen sich nicht.
Aber selbstverständlich variieren und verändern sich Parameter im weltpolitischen Geschehen, erzielen andere, neue, adaptierte Wirkungen, lösen auf allen Seiten sich wandelnde Reaktionen aus. Das haben wir im Verlauf der Er- und Ausarbeitung von „Mind The Map“ freilich wahrgenommen – und auch weit über diese Produktionsphase hinaus (und aktuelle „Wandlungsbeispiele“, alleine die österreichische Regierung betreffend, beginne ich nicht einmal aufzuzählen!)
Trotz alledem, die individuelle Herausforderung an jede(n) einzelne(n) von uns, die wir in den wohlhabenderen Industrieländern geboren sind, so meine ich, bleibt dieselbe. Eine, die eben jede(r) für sich zu bearbeiten hat – abgesehen von notwendigen kollektiven Konzepten einer Weltengemeinschaft. Fragen danach zum Beispiel, welche Haltung samt daraus resultierender Konsequenzen und Aktionen, kann und will jede(r) eigenständig in diesem Räderwerk einnehmen. Dies könnte eine mögliche Deutungsart, vielleicht ein Kern für und von „Mind The Map“ sein – zumindest die Hinführung zu diesen Fragen. Ein Versuch, sich nicht mit dem Banalen, dem Offensichtlichen oder gar dem Falschen zufrieden zu geben, sondern sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen und plumpen Populismus sowie irreführender Hetze entgegenzutreten.
Was erlebt ihr vor Ort, ich meine, „Mind the Map“ wurde ja auch im Herbst bereits in Nantes gezeigt. Gibt es da einen informativen oder künstlerischen „Rückfluss“ – oder einfacher gesagt: Welche Reaktionen erlebt ihr?
Die Ausstellung im Le Lieu Unique in Nantes, FR, bot die großartige Gelegenheit, bedingt durch die ständige Anwesenheit von äußerst interessierten AusstellungsbetreuerInnen, einer umfangreichen Sammlung von Reaktionen. Die Bandbreite war (das kennen wir auch von anderen „begehbaren Erzählungen“) ziemlich facettenreich. Erwähnenswert bei MTM im Speziellen erscheint die Wahrnehmung, dass viele
BesucherInnen von einer „reale Tatsachendarstellung“ überzeugt waren und Christine Kollan dadurch zu einer „wahrhaften Figur“ wurde, über welche viele BesucherInnen auch weiterführende Information einholen wollten. Prinzipiell gab es großes Interesse – alleinig die BesucherInnenzahl war eine große Überraschung für uns, aber auch der Verweildauer der einzelnen BesucherInnen zeigte, dass die Geschichte als gesamtes Aufmerksamkeit und Neugierde weckte.
Hier noch die obligatorische, aber sehr gerne gestellte abschließende Frage: Whats next bei Time’s Up? Und, ich greife mit der Abschlussfrage ein Wort auf, das du zweimal verwendet hast: Was verzimmert ihr als nächstes?
Ui, ein wenig liegt mir ein „zu viel“ auf den Lippen – aber das würde dann ein negatives Bild zeichnen, das liegt mir gänzlich fern, da ja die Freude am Denken und Tun nach wie vor ungebrochen ist. Aber in der Tat sind wir neben der weiteren Vermittlung und einhergehenden Adaptionen von „Mind The Map“ auch inmitten der Konstruktion einer neuen begehbaren Erzählung. Einer „Climate Fiction“ diesmal, aufbauend auf einem „Near Future Scenario“ im Zuge des paneuropäischen Projektes Changing Weathers. Inszeniert wird eine mögliche Zukunftsvision, in der einschneidende Umwelt- und Wasserverschmutzungen zu essentiellen Veränderungen im Bereich Mobilität, Transport und Warenhandel führten. Auswirkungen dieser unübersehbaren Trends sollen exemplarisch in stofflich, materialisierter Weise, sinnlich – haptisch greif- und (er-)fassbar in einen Raum gelegt, ausgebreitet und eingeschrieben, also „verzimmert“ im Raum, im Zimmer dargestellt und neuerlich als explorative Installation veröffentlicht werden. Ja, und nicht sang- und klanglos an uns vorüberziehen lassen wollen wir unser 20-jähriges Jubiläum – dieses gilt es irgendwann, oder auch durchgängig zwischen Herbst 2016 und Sommer 2017 zu begehen. Und von den beiden, in den nächsten Wochen zu erwartenden Bescheiden bezüglich zwei weiterer Projekte auf EU-Ebene reden wir dann wieder von Angesicht zu Angesicht – bei einem nächsten Gespräch 😉
timesup.org/MindTheMap
„Mind the Map“ wird im März in Prag beim Austrian Cultural Forum im Rahmen der East Doc Platform präsentiert.
timesup.org/mtm-prague
timesup.org/talk/pn/prague
https://loosediary.wordpress.com/2014/08/06/ mind-the-map-es-bleibt-polemisch