Anna Mitgutschs neuer Roman „Die Annäherung“ ist, und damit folgt sie der Tradition ihres bisherigen Werkes, ein komplexes Buch mit vielen unterschiedlichen Facetten. In ihrem zehnten Roman thematisiert die in Linz lebende Autorin viele Bereiche, ohne die Homogenität ihrer Geschichte zu gefährden.
Es ist ein Buch über die nie geglückte Auseinandersetzung zwischen der Kriegsgeneration und den Nachgeborenen, über das Altern eines Mannes, die Liebe zu seiner Pflegerin und die von Hindernissen begleitete Annäherung der Tochter an ihn, den Vater. Sie möchte nicht nur seine Liebe gewinnen, sie will auch das Leben des wortkargen Mannes kennenlernen, ihn verstehen; verstehen bedeutet für sie auch, sich dem „Loch in seiner Biografie“ zu nähern, die Frage zu klären, ob sich ihr Vater als Wehrmachtsangehöriger schuldig gemacht hat.
Einige Autorinnen und Autoren – unter anderem Peter Henisch, Christoph Meckel, Martin Pollack, Per Leo – haben bereits die NS-Vergangenheit eines fiktiven oder realen Verwandten in den Mittelpunkt eines literarischen Textes gestellt.
Anna Mitgutschs fiktive Protagonistin Frieda, eine Historikerin, kann trotz ihres beruflichen Wissens das „Loch in der Biografie“ ihres Vaters, nie gänzlich ausfüllen, sondern muss sich begnügen es zu umkreisen. Anna Mitgutsch lässt bisweilen, und das ist eine besondere Qualität des mehrperspektivisch erzählten Romans, die Ereignisse in der Schwebe. Und genau dieser Ansatz reizt auch die Autorin: Sie faszinieren die Leerstellen, das Annähern an Fragen, ohne sie auflösen zu können. Silvana Steinbacher hat sich mit Anna Mitgutsch über ihr beeindruckendes Buch unterhalten.
Die Verbrechen des Nationalsozialismus, die Shoah, Schuld, Erinnern und Vergessen sind immer wiederkehrende Motive in deinem Werk.
Viele Autorinnen und Autoren haben sich bereits literarisch an der Vergangenheit ihrer Väter während der NS-Zeit abgearbeitet. War es für dich herausfordernd dich diesem Sujet literarisch zu nähern?
Das ist mein Lebensthema seit meiner Schulzeit. Wenn man meinen literarischen Werdegang betrachtet, so klingt diese Thematik ja bereits in meinem ersten Roman „Die Züchtigung“ an.
In meinem neuen Roman „Die Annäherung“ steht ein Mann mit über neunzig Jahren im Mittelpunkt, sein Leben umfasst also fast ein Jahrhundert. Über dieses Leben zu schreiben, ohne auf den Nationalsozialismus einzugehen, das geht nicht.
Bei der sogenannten Väterliteratur habe ich eine Veränderung des Ansatzes beobachtet. Der Grundtenor der 68-Literaten war hauptsächlich ein anklagender, jetzt, mehrere Jahrzehnte später wird der Wunsch spürbar die Väter oder Großvätergeneration zu verstehen oder zumindest sich in sie hineinversetzen zu können. Ist das deiner Meinung nach hauptsächlich durch die zeitliche Distanz erklärbar?
Ich kenne die Literatur der jüngeren Generation nicht. Was mich betrifft, bringt wohl das Älterwerden die Einsicht mit sich, dass im Leben Schwarz-Weiß-Zeichnungen selten der Realität entsprechen. Grauschattierungen herauszuarbeiten ist viel reizvoller.
Bei einigen Romanen, die ich zu dieser Thematik gelesen habe, beispielsweise Martin Pollacks „Der Tote im Bunker“ steht die reale Figur des Vaters im Mittelpunkt. Bei dieser Figur gibt es keinen Zweifel an seiner Schuld.
In deinem Roman ist der Ausgangspunkt ein anderer. Die fiktive Figur Frieda kann die Frage der Schuld ihres Vaters nicht klären, kann ihre dringliche Frage nie eindeutig beantworten und muss dieses Faktum schließlich akzeptieren.
Ja, das war mir sehr wichtig. Ich kenne viele Väterbücher meiner Generation, darin werden die Väter entweder als Verbrecher und Monster dargestellt, oder es schimmert dieser Beschwichtigungsgestus durch, sie hätten ohnehin keine nennenswerten Verbrechen begangen. Für mich als Schriftstellerin sind beide Ansätze unbefriedigend, denn solche Eindeutigkeiten gibt es ja nur in den ausgewiesenen Fällen der Kriegsverbrecher. Es existieren ganze Bibliotheken historischer Forschung zur NS-Zeit und zu den Verbrechen der Wehrmacht. Mir geht es um die Spurensuche nach der Wahrheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln, der Kriegsgeneration und der Nachgeborenen, der Nachkommen der Opfer und der Täter, und wie sich jedes Mal der Wahrheitsanspruch verändert und die Fakten manchmal zur Unkenntlichkeit uminterpretiert wurden. Erinnerung mit Fakten zur Deckung zu bringen ist ein schwieriges Unterfangen und letztlich unmöglich, denn schon in dem Augenblick, in dem etwas passiert, beginnt die Interpretation, man verändert die Fakten, so wie man sie haben möchte, und glaubt schließlich an diese Version. Erinnern ist immer ein Interpretieren, Auswählen, neu Zusammenstellen, auch das Vergessen gehört dazu, das absichtliche und das unbewusste, um eine Fiktion zu schaffen, die man dann für die Wahrheit hält oder sie dafür ausgibt.
Thema deines neuen Romans „Die Annäherung“ ist nicht nur die Recherche der Tochter nach der NS-Vergangenheit des Vaters, dieses Buch schildert auch sehr eindrücklich das letzte Lebensjahr eines alten Mannes, die Strapazen des Alters, die Liebe des greisen Mannes zu seiner Pflegerin und sehr wesentlich eine komplexe Vater-Tochterbeziehung. Der Versuch ihrer Annäherung führt schließlich zu einer Konkurrenz mit einer jungen Krankenpflegerin, deren Anwesenheit es dem über 90jährigen Mann ermöglicht noch einmal Lebendigkeit und einen Funken Erotik in sich zu spüren.
Er erfährt durch die Zuwendung der jungen Ukrainerin ein letztes Glück. Ich glaube, Glück hat immer auch eine erotische Komponente. Diese junge Pflegerin ist zwar eine bezahlte Pflegekraft, aber sie ist großzügig, sie gibt ihm Zuneigung und Zärtlichkeit, sie hört zu und gibt ihm eine Zuwendung, die über das hinausgeht, was er bezahlen könnte. In der kurzen Zeit, die die junge Frau in seinem Haus ist, kommt sie ihm näher, als ihm seine Tochter jemals gekommen ist. Frieda, die sich ihr Leben lang nach der Liebe ihres Vaters sehnte, erkennt, dass sie mit den falschen Mitteln um sie gekämpft hat. Schließlich gibt sie seiner Bitte auch nach, in die Ukraine zu fahren, um die junge Frau zu ihm zurückzubringen, was ja in der unausgesprochenen Konkurrenzsituation zwischen den beiden auch ein Akt der Selbstverleugnung ist.
Sprechen wir noch über die gegenwärtige Situation, ich beobachte seit einigen Jahren in meiner näheren Umwelt vermehrt offenen Antisemitismus. Antisemitismus habe ich atmosphärisch immer wahrgenommen, aber verschämter, eher hinter vorgehaltener Hand. Aufgefallen ist mir, dass dieser offene Antisemitismus mit teils haarsträubenden Theorien, unter anderem jener die Juden wären schuld oder zumindest mitverantwortlich an der Finanzkrise, untermauert wird. Beobachtest du diese fatale Entwicklung auch?
Diesbezügliche Verschwörungstheorien habe ich schon anlässlich von 9/11 gehört, der Mossad stehe dahinter, hieß es da, auch nach den Anschlägen in Paris, an der Finanzkrise sind angeblich auch die Juden schuld. Der neue Antisemitismus erscheint mir besonders gefährlich, denn er ist ein Zusammenfluss zwischen rechts und links. Da ist zunächst der alte christliche Antisemitismus, der, wenn auch schwach, weiterwirkt, dann der völkische Antisemitismus der Rechten. Sehr deutlich spürbar ist in letzter Zeit der linke Antisemitismus und historisch gesehen relativ neu, doch besonders hemmungslos und gefährlich, der islamistische Antisemitismus, durch den in Europa längst als absurd abgetane Anschuldigungen wie die der angeblichen Ritualmorde wieder hervorgekramt werden.
Fürchtest du die rechten Strömungen, die derzeit verstärkt wahrzunehmen und auch antisemitisch sind, nicht auch?
Der Antisemitismus der Rechten wird vermutlich nicht mehr die Macht und Bösartigkeit entwickeln können, die zur Shoah geführt haben. In dieser Beziehung wird er in der Zukunft eher marginal bleiben.
Marginal?
Ich sehe es so: Geschichte wiederholt sich nicht auf die gleiche Art und Weise, sie wiederholt sich in verschiedenen Erscheinungsformen. Heute tritt der Antisemitismus in veränderter Form auf. Natürlich sind auch die Rechten antisemitisch, aber aus jüdischer Sicht sind sie nicht die größte Gefahr, sie sind für die Gesellschaft als geschichtliches Phänomen wiedererkennbar und daher leichter neutralisierbar.
Kommen wir noch zu deinem Leben als Schriftstellerin, zum Prozess des Schreibens. Was ist für dich reizvoll am literarischen Schaffen?
Mich interessieren Zwischentöne, Gratwanderungen, Leerstellen. Figuren, die nicht auflösbar und ihrer Zeit voraus sind, reizen mich, sich einem Geheimnis zu nähern, ohne es lösen zu können.
In diesem Buch ist es der Balanceakt zwischen Schuld und Schuldlosigkeit, Fragen, die nicht zu beantworten sind, Figuren, die ihre Gefühle nicht zum Ausdruck bringen können, die nicht zueinanderfinden trotz aller Liebe, Menschen, die trotz aller Sehnsucht einsam bleiben.
Diesbezüglich liegst du momentan aber nicht im „Trend“, wie mir scheint. Ich habe den Eindruck, dass bei der erzählenden Literatur zunehmend die Handlungsabläufe erklärt, nachvollziehbar, fast didaktisch aufgefächert werden sollten. Das ist zumindest mein Eindruck. Siehst du das auch so?
Ja absolut, alles muss logisch und didaktisch sein. Menschliche Beziehungen sind aber nicht logisch. Lebenshilfe ist auch nicht Aufgabe der Literatur. Viele Kritiker und Leser legen an Romanfiguren ihre eigenen Maßstäbe an, wie man sich verhalten soll, sie weisen streng Romanfiguren neurotisches Verhalten nach und erklären das Buch für schlecht, wenn die Figuren nicht ihren Idealen entsprechen. Besonders schwachsinnig finde ich die Frage: Was will uns der Autor oder die Autorin sagen? Wenn ich eine Botschaft habe, schreibe ich einen Essay oder eine Stellungnahme. Ich habe keine didaktischen Absichten und will niemanden belehren. Ich gebe dem Leser auch keine Lesehilfen. Als Leserin fasziniert mich Komplexität, das nicht Auflösbare.
Anna Mitgutsch „Die Annäherung“
Roman, München (Luchterhand)
Seit 08. März erhältlich
Lesungstermine
30. 03. Alte Schmiede, Wien
31. 03. Stifterhaus Linz
28. 04. Literaturhaus Salzburg
02. 06. Literaturhaus Graz