Als im Zuge der Grippewelle in den letzten Wochen deutlich wurde, dass in Wien an den Wochenenden kaum Kinderärztinnen aufzutreiben sind, wurde ein Experte zur Sachlage interviewt. Der meinte an diesem Tag im Radio wiederkehrend und eher lakonisch, man habe es halt mit einer Generation von Ärztinnen zu tun, die auf ihre „Work-Life-Balance“ achteten. Und die Wochenendarbeit als etwas Unangenehmes betrachteten. Aber dass man die Attraktivität der längeren – also auch Wochenendarbeitszeiten – durch höhere Bezahlung steigern könnte. Das klingt eklig. Angesichts der vielen Menschen, die sich einen Dreck um ihre Work-Life-Balance kümmern können, von Logistikarbeiterinnen bei Amazon ganz zu schweigen. Am gleichen Tag erfuhr ich, dass der deutsche Vizekanzler sich ein paar Tage frei nimmt, weil seine Tochter erkrankt ist. Am Freitag kämen die Großeltern. Das klingt nur im ersten Moment schön, hemdsärmelig und rührend; im zweiten Moment ist es ebenso eklig, denn es macht nur deutlich, wie groß mittlerweile der Gap ist zwischen Menschen, die sich aussuchen können, wann sie wo zu welchen Bedingungen arbeiten und jenen, die sich aus dem Prekariat fliegend in ein neues Proletariat entwickeln: Sie können von ihren Jobs weder leben noch sind sie rechtlich abgesichert, einzig der Konzern profitiert von ihrer Arbeitsleistung. Bemerkenswert dabei ist die Menge an Büchern, die man zu diesem Thema bei Amazon bestellen kann. Das Leben, die alte Ironie-Bitch.
Während sich also Ärztinnen nach einem freien Wochenende und der deutsche Vizekanzler nach ein paar Tagen mit seiner kranken Tochter sehnen, arbeiten sich zum Beispiel und vor allem Handelsangestellte buckelig, viele mit der Gewissheit, dass ein krankes Kind zu Hause zwar wartet, die eine Woche Pflegefreistellung, die der Kollektivvertrag pro Jahr vorsieht, aber ausgeschöpft ist. Nur damit kein Missverständnis aufkommt: Ich finde es großartig, wenn auch männliche Arbeitnehmer vorleben, dass Sich-frei-Nehmen, um ein Kind zu pflegen etwas absolut Normales ist. Ich bin ein absoluter Fan von Menschen, die für sich entscheiden, dass Arbeit nicht alles ist, kein Sinnersatz, und Geld niemals das ersetzen kann, was an Zeit verloren geht. Allerdings muss diese Diskussion dann für alle Berufe und Tätigen geführt werden und es sollen alle von der Diskussion profitieren. Und das ist derzeit nicht der Fall. Ich erinnere an die jeweiligen kritischen öffentlichen Statements und Interviews, wenn von längeren Arbeitszeiten und Sonntagsöffnungszeiten, im Handel etwa, die Rede ist: … und gerne auch an die Aufschreie seitens der Verantwortlichen, als die verheerenden Arbeitsbedingungen bei Amazon ruchbar wurden: …
Genau, es gibt sie nicht. Ich stellte mir also vor, dass beim nächsten „Vorschlag“, Angestellte doch länger und öfter im Geschäft oder im Lager arbeiten zu lassen, eine der Vertreterinnen der Handelsangestellten aufsteht und sagt: Das geht nicht, das bringt meine Work-Life-Balance aus dem Gleichgewicht, und wenn, dann brauchen wir finanzielle Anreize, um den Wochenenddienst an der Kassa und im Lager attraktiver zu machen, bitte schön.
Es wird wohl nicht passieren. Und deshalb sollten auch Ärztinnen und Politikerinnen sich aktuell vielleicht weniger um ihre Work-Life-Balance kümmern als um das Recht für Alle zu sagen: Ich will nicht mehr.