„Wenn die ganze Welt lügt, wohin flüchte ich? If the whole world is a liar, where do I seek Asylum?“
13. November 2014, Traiskirchen, Österreich
Es ist Donnerstag, der 13. November 2014. Die Zeitungen berichten schon seit einiger Zeit über das Asyl-Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen, Niederösterreich. Es gab dort kürzlich den Fall einer ansteckenden Viruserkrankung, und seitdem schlachten, wie üblich, die rechtspopulistische Partei FPÖ sowie nutznießende lokale PolitikerInnen die Situation aus, um ihre Meinungen und Vorstellungen in der Öffentlichkeit kundzutun. Schnell wird die eigentliche Problematik, dass durch den aktuellen Flüchtlingsstrom innerhalb kurzer Zeit verhältnismäßig viele Asylsuchende in Österreich Schutz und Hilfe suchen, in den Hintergrund gedrängt. Denn die großen Mäuler der Populisten halten die öffentliche Diskussion in Schach. Die Aufmerksamkeit wird von den Bemühungen um konstruktive Problemlösung weggezogen, umgeleitet in einen politischen Schachzug.
Der Parteivorsitzende der FPÖ, Heinz Christian Strache, kündigt für den Abend des 13. Novembers eine Protestkundgebung am Hauptplatz von Traiskirchen an. Die Sozialistische Jugend und Netzwerke gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit kündigen eine Gegendemonstration an. Um 18:30 Uhr erschallen am Hauptplatz, der etwa einen Kilometer vom Erstaufnahmezentrum Traiskirchen entfernt liegt, die Reden der freiheitlichen Politiker und die Proteste der Gegenveranstaltung. Zu diesem Zeitpunkt beginnt zwischen Hauptplatz und Erstaufnahmezentrum die Akteurin Elisabeth Lacher, ihren Beitrag auf den Gehsteig in der Johann-Foissner-Straße zu schreiben.
Zur Vorbereitung ist Elisabeth Lacher am Nachmittag nach Traiskirchen gefahren und zwischen Erstaufnahmezentrum und Hauptplatz hin- und zurückspaziert. Sie fühlte eine Betroffenheit während des Gehens. Sie war betroffen von den Kameras entlang der Zäune an jeder Ecke, von der Schleuse beim Eingang des Zentrums, bei der sich die Asylsuchenden an- und abmelden müssen. Sie hat sich überlegt, wie es ihr ergehen würde, wäre sie auf diesen Ort angewiesen. Sie hat nachgedacht, ob sich diese Frage PolitikerInnen und Bevölkerung wohl auch manchmal stellen. Ob diese dann auch die Betroffenheit spüren? Ob sie auch einen Schmerz spüren, wie ihn Elisabeth Lacher an diesem Tag spürte, als sie über die Situation nachdachte und durch Traiskirchen spazierte?
Und sie beginnt nachzudenken. Denkt an die Menschen, die hinter dem Zaun leben. Denkt darüber nach, was sie über Flucht und Migration bereits gelesen und erfahren hatte. Erinnert sich an ihre Reise nach Westafrika vor 10 Jahren. Denkt daran, was ihr die WestafrikanerInnen damals von Migration nach Europa erzählt hatten. Welche Möglichkeiten es in Europa für AfrikanerInnen gäbe. Welches gute Leben in Europa möglich sei. Sie denkt daran, wie ihr Postkarten gezeigt wurden von Verwandten und Bekannten, die auf unterschiedlichen Wegen nach Europa emigriert sind. Stolz zeigten diese ihr die Postkarten, erzählten vom guten Leben, das die Fortgegangenen in Europa haben. „Er hat es geschafft“, sagt eine stolze nigerianische Mutter über ihren ältesten Sohn, der mit 19 Jahren aus der Armut einer Lehmhütte ohne fließendes Wasser im Umkreis von fünf Kilometern, nach Europa geflüchtet ist. Regelmäßig berichtet er von einer guten Arbeit, von einer schönen Wohnung und schickt der Mutter Geld für die jüngeren Geschwister. Auch diese träumen davon, ein gutes Leben in Wohlstand in Europa zu haben, wenn sie alt genug sind um auszuwandern.
Damals spürte Elisabeth Lacher dieselbe Betroffenheit wie an diesem Tag der FPÖ-Kundgebung in Traiskirchen. In den Briefen und Berichten an die in der Heimat Gebliebenen war kein Wort zu lesen über die Mühen, eine Arbeit zu finden. Über die Mühen des Alltags. Über das, was es noch heißt, in Europa zu leben. Kein Wort über Einsamkeit, Ausgeschlossen Sein, Angst, Fremde, Heimweh. Wahrscheinlich wollten sich die Gegangenen diese Blöße nicht geben, denkt Elisabeth Lacher. „Ich würde das bei meiner Mutter wahrscheinlich genauso machen“, gesteht sie sich ein. Oder die Flucht aus Armut und Bedrohung lässt Europa wirklich als Schlaraffenland erscheinen. Elisabeth Lacher konnte sich diese Frage nicht beantworten.
Während sie durch Traiskirchen spazierte dachte sie auch daran, wie es sein muss, nicht mal die Wahl zu haben ob man migriert oder nicht, weil man flüchten muss. Wie es sein muss, diese Entscheidung gar nicht treffen zu können. Weil man fort muss um Leib und Leben zu wahren.
Elisabeth Lacher wollte weg. Sie wollte eigentlich nicht hier sein. An diesem Nachmittag in Traiskirchen, vier Stunden bevor die Dummheit am Hauptplatz durchs Mikrofon erschallt und den akustischen Raum der Öffentlichkeit verschmutzt. Aber sie blieb, sie musste etwas entgegensetzen. Sie konnte es anders nicht ertragen.
„Wenn die ganze Welt lügt, wohin flüchte ich? If the whole world is a liar, where do I seek Asylum?“
Um 18:30 Uhr geht sie zu einem ausgewählten Gehsteig zwischen Hauptplatz und Asylzentrum und schreibt ihre Frage in deutscher und englischer Sprache zwei Stunden lang als Endlosschleife auf den Boden. Zu Beginn sind kaum PassantInnen unterwegs. Während des Schreibens spürt sie die wenigen Vorbeigehenden. Sie spürt die Irritation, die sie auslöst. Die meisten weichen umgehend aus. Sobald der erste Satz geschrieben ist, versuchen einige der Leute, mit der Schreiberin ins Gespräch zu kommen. Doch diese überhört das Gesagte und schreibt unbeirrt weiter. Neben der Irritation, die sie auslöst und wahrnimmt, kommen nun auch Rückmeldungen hinzu. Oft hört sie zustimmende Worte wie „Schön“ von den PassantInnen. „Toll, was Sie hier machen“. Manche Personen regen sich auf: „Was macht denn die für einen Blödsinn da?“ „Ist dir fad?“ „Hat wohl nix zu arbeiten“.
Da von Seiten der Schreibenden keine Reaktion kommt, gehen diese PassantInnen dann doch relativ schnell weiter. Es dürfte ihnen langweilig sein, sich über etwas aufzuregen, wenn sie dabei ignoriert werden.
Nach etwa eineinhalb Stunden sind die Reden am Hauptplatz vorbei. Nun kommen viele Personen an der am Gehsteig knienden Schreiberin vorbei. Der Satz ist nun schon einige Male wiederholt und wächst als Zierleiste am Gehsteig entlang. Die Akteurin wird von den vorbeikommenden FPÖ-SympathisantInnen heftig beschimpft. „Du grüne Umweltverschmutzerin!“ „Scheiß Alternative!“ „Depperte Künstler!“ Sie hört diese Beschimpfungen und spürt die aufgeheizte Stimmung nach der Rede der Populistenmäuler. Meist kommen die Schimpfenden in Gruppen vorbei, einer beginnt sie anzumaulen, manchmal steigen die anderen mit ein. Vom Trubel unbeirrt schreibt Elisabeth Lacher weiter. Die Schimpfenden müssen kurz ausweichen, schreien im Weitergehen noch ein paarmal zurück, sind aber schnell wieder weg. Hier gibt es für die Großmäuler nichts zu tun. Eine Frau zu beschimpfen, die am Boden kniet und wortlos ihre Gedanken niederschreibt, macht auf Dauer keinen Spaß.
So konnte die Gehsteigschrift in Ruhe fertiggestellt werden und zierte für einige Tage den Gehsteig in der Johann-Foissner-Straße in Traiskirchen. Bis der Regen kam und den Schriftzug wegschwemmte.
PROJEKTREIHE „GEHSTEIGSCHRIFTEN“, Schreibperformances
Das Projekt „Gehsteigschriften“ ist ein von der Akteurin Elisabeth Lacher selbstinitiiertes Performanceprojekt im öffentlichen Raum. Elisabeth Lacher wählt hierfür Orte aus, die entweder temporär oder permanent Schauplatz des öffentlichen Interesses sind. Sie nutzt dort stattfindende politische Veranstaltungen, Demonstrationen oder Kundgebungen, um ihre Ansichten zur Thematik am Gehsteig sichtbar zu machen.
PERSÖNLICHE ZIELSETZUNG DER AKTEURIN:
Kunst hat die Möglichkeit, bei Menschen eine andere Resonanz zu erzeugen, als sie das alltägliche Leben normalerweise bietet. Das ist für die Akteurin ein wesentlicher Bestandteil der Performance. Sie will vorbeikommenden Personen eine alternative Sichtweise zur Verfügung stellen, als Angebot zur persönlichen Reflexion.
Durch die Gehsteigschriften wird sichtbar, dass es neben der üblich geführten öffentlichen Diskussionen und medialen Berichterstattungen noch viele andere, der eigenen Persönlichkeit angepasste Möglichkeiten gibt, öffentlich Stellung zu nehmen. Für Elisabeth Lacher selbst ist sind die Schreibperformances auch ein Sensor. Durch die Geschehnisse während der Performance lässt sich unmittelbar erkennen, inwiefern es an einem öffentlichen Ort möglich ist, temporär die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen.
PROJEKTKONZEPTION UND REALISIERUNG: ELISABETH LACHER