Seit beinahe zwei Jahrzehnten arbeitet Time’s Up von seiner Ankerstätte im Linzer Hafen aus an interaktiven Settings und Rauminstallationen, kollaboriert mit lokalen und internationalen Partnern und bereist mit den daraus entstehenden Projekten die Kunstwelt von Rotterdam bis Hong Kong. Zunächst vor allem mit abstrahierenden Interfaces und Großrauminstallationen beschäftigt, ist Time’s Up seit ein paar Jahren in der Kreation von intimeren Erzählräumen angekommen. In „Physical Narrations“, bei denen die Rezipienten die etablierte Erzählung erforschen, um- und fortschreiben können. Über Projekte, Prozesse und die Verankerung in Linz hat Wolfgang Schmutz mit Tina Auer und Timothy Boykett gesprochen.
Ich bin zum ersten Mal bei Time’s Up, auf jener Halbinsel, die den Linzer Hafen umspannt und von der Donau trennt. Daher steht zunächst ein Rundgang durch die Heim- und Werkstätte des „Labors für die Konstruktion experimenteller Situationen“ auf dem Programm. Zugleich: Was könnte ein solches Gespräch besser einleiten, als durch jene Produktionsstätte zu spazieren, in der sich die materiellen Versatzstücke aus 20 Jahren Arbeit zu einer eigenen Topografie zusammenfügen? Mischt sich hier doch der materielle Fundus vergangener Projekte mit Transportbereitem für kommende Ausstellungen. Hier ein Bullauge mit mechanischen Wellen für das Projekt „Mind the Map“, das den Fluchtraum Meer thematisiert, demnächst im zeitgenössischen Kunstzentrum „le lieu unique“, in Nantes. Dort der Schrankkoffer von „Unattended Luggage“, mit dem die Migrationserfahrungen der fiktionalen Familie Freudenstein zwischen New York und Österreich erzählt werden. Ihre Österreichpremiere feiert diese Rauminstallation in Bälde beim paraflows X festival in Wien.
Materialien, Objekte und Installationselemente finden sich bei Time’s Up nicht nur im Lager, wo einst Gabelschlüssel und anderes Werkzeug der DDSG auf den Regalen lagen, sondern auch an einzelnen Arbeitsplätzen. Für ein gewisses Maß an Entropie sorgen auf Tischen, Werkbänken und Regalen nicht zuletzt die Spuren, die von verschiedenen Personen während unterschiedlicher Projekte hinterlassen wurden. Und diese Spuren erzählen neben dem Arbeitsprozess eben auch von den individuellen Akteuren. Sie zu lesen, braucht hier den Insider-Blick und Rahmenerzählungen zu Projekten und Personen. In den Projekten selbst jedoch versucht Time’s Up solche Spuren zu einem möglichst unmittelbaren Interaktionsauslöser mit dem Publikum zu machen: Die gestalteten Räume bzw. „Welten“ laden dazu ein, sich als Proto-Detektiv zu betätigen, zu ergründen, wer da gerade nicht da ist, warum nicht und was die hinterlassenen Spuren als Indizien darüber erzählen.
In der Regel erforschen und bespielen die Ausstellungsbesucher_innen die Rauminstallationen. Einmal hat Time’s Up sich auch selbst mitinszeniert. Beim Microwave-Festival in Hongkong stand 2011 eine Kopie der eigenen Küche, die in der Heimstätte im Linzer Hafen als kommunikatives Herz fungiert. In der Replik wurde so wie im Original gekocht, gegessen und geredet. Auf Basis von Kürbiscremesuppe, Schweinsbraten und Apfelstrudel. Den Blick auf die Donau ersetzte jener auf den Hongkonger Victoria Harbour. Das Setting sei schon merkwürdig gewesen, wie sich Tina Auer erinnert. Aber das vertraute Geräusch der Espressomaschine, der Geruch von Kaffee hätten schließlich dazu beigetragen, dass sie sich selbst auf das Szenario einlassen konnte. Und das war im dortigen Kontext durchaus gegen den Strich gebürstet: Fünfzehn internationale Medienlabors waren eingeladen, sich selbst zu präsentieren, dokumentarisch und mit einem Gegenwartsbezug. Time’s Up erfüllte diese Vorgabe auf eigene Weise, dokumentierte sich mit dem Kommunikationszentrum Küche und verstand die darin stattfindende Kontakte als Gegenwartsbezug.
Das Augenzwinkern ist aber offenbar auch in der Homebase nicht fremd. Davon erzählt nicht zuletzt die kleinteilige Tapezierung der Wände mit reichlich Schiffsromantik-Kitsch und Elvis-Fotos. Man fühlt sich hier rasch wohl, es lässt sich gut andocken. Wie zum Beweis dafür trinkt Leo Schatzl in der Original-Küche Kaffee und scherzt darüber, dass er jedesmal bei Hausführungen da sitzen muss, als bewegliche 3D-Installation. Mit Künstlern wie ihm und David Moises fungierte Time’s Up in der Vergangenheit etwa als temporäre Schiffswerft und nannte dies „Time’s Up Boating Association“ (TUBA). Was für dieses Projekt galt, gilt auch für andere als Modell der Zusammenarbeit: Um ein Kernteam von fünf bis sechs Personen gruppieren sich, projektbezogen und in unterschiedlicher Intensität, Kunstschaffende, Konsultierende, Grafiker_innen. Man versuche, daraus eine nachhaltige Zusammenarbeit entstehen zu lassen, ohne in zu starre Muster zu geraten, wie Tina Auer betont. Schatzl und Moises sind zwei Beispiele für langjährige Reisegefährten, neben Projektpartnern wie dem belgischen Netzwerk FoAM, das sich ebenfalls mit spekulativen Zukunftsszenarien beschäftigt, oder dem M-ITI (Madeira Interactive Technologies Institute), das interdisziplinär im Feld der Mensch-Computer-Interaktion forscht.
So offen und zugleich treu sich Time’s Up in der Partnerwahl gibt, so beständig ist auch die Neugierde auf neue Projekte und Prozesse. Thematische Ausgangspunkte liefern dafür in der Regel die eigenen Interessen. Ziel ist es, daraus Szenarien, also Erzählräume zu schaffen, in denen das Publikum explorativ unterwegs ist. Eine hohe haptische Qualität der Installationen sei dabei wichtig, sagt Tina Auer. Zum einen schaffe man damit einen Einstieg, ähnlich dem filmischen „Establishing Shot“. Zum anderen bekomme so auch jenes Publikum etwas, das sich nur oberflächlich auf das Szenario einlässt. „Wenn die Leute jedoch tiefer eintauchen“, ergänzt Timothy Boykett, „kriegen wir Geschichten von ihnen zurück, die oft viel spannender sind, als das, was wir uns selbst ausgedacht haben“. Die Herausforderung liege darin, Navigationsaspekte einzubringen, Orientierung für die Rezipienten zu schaffen, aber dabei eine Dramaturgie zu finden, die genug offen lässt. Gelingt dies, erlebe man immer wieder neue Überraschungen, auch dann noch, wenn man ein Projekt zum zwanzigsten Mal aufbaut. Dass Berühren auch Berührendes generieren kann, erfuhr man im Austrian Cultural Forum New York. Dort brachte die Installation von „Unattended Luggage“ Besucher_innen dazu, ihre eigenen Familiengeschichten zu erzählen, die mit der fiktiven der Familie Freudenstein enge Verwandtschaft hatten.
Hält Time’s Up solche Prozesse eigentlich fest? Für Momente wie in New York aber auch für andere Interaktionen von Besucher_innen sei die eigene Präsenz die relevanteste Form der Dokumentation, sind sich Timothy Boykett und Tanja Auer einig. Ein Fragebogen helfe hier kaum weiter, da jede Unmittelbarkeit dabei verloren geht. Erlebnisse bei Ausstellungen trägt Time’s Up gelegentlich in das „Loose Diary“ ein, das online betrieben wird, im Wesentlichen aber fließen sie in den Erfahrungs- und Erinnerungsschatz der Beteiligten. Ein Patentrezept, wie man vorgehe, eine gültige Formel habe Time’s Up zudem nicht. „Wir haben nur eine Ansammlung von Beobachtungen, Dinge die funktioniert haben, Dinge, die in die Irre geführt haben, Fragen, die wir uns gestellt haben und die wir als wertvoll erachtet haben“, führt Timothy Boykett aus. „Aber wir behaupten nach wie vor, dass wir weit davon entfernt sind, zu wissen wie man in einem dreitägigen Workshop von einem Konzept zu einer fertigen Physical-Narrativ-Planung kommt.“ Das Erzählsystem aufzusetzen, die Storyworld und die Charaktere samt ihrer Hinter- und Beweggründe zu entwerfen, könne dann schon langwierig sein, aber es sei ihnen eben wichtig, stets aufs Neue interessante Darstellungsmöglichkeiten und Interaktionen zu erproben.
Dass man auf dieser stetig Erfahrungen generierenden Reise durchaus ambitioniert unterwegs ist, davon zeugen die Projekte, die man im europäischen Kontext veranstaltet hat, wie PARN, “Physical and Alternate Reality Narratives” und zuletzt das alternative Zukunftserzählungen verhandelnde “Future Fabulators”. Dass die Reise meist weit weg geführt hat, ist daran abzulesen, dass die Mehrzahl der Aktivitäten im Ausland stattfand, bei aller lokaler Kooperation, etwa mit der Ars Electronica oder dem KunstRaum Goethestrasse. Time’s Up liege in Linz vor Anker, aber nicht fest, meint Timothy Boykett. Oder wie es Tina Auer formuliert: „Es gab für mich keinen Grund nach Linz zu kommen, es gibt keinen zu bleiben und auch keinen wegzugehen.“ Um gleich zu relativieren: Natürlich habe es in Linz eine prozessorientierte Kulturpolitik gegeben, als sie kam, Experimente wurden zugelassen, die Atmosphäre war offen. Was Wunder, wenn am Ende des Gesprächs beide ihre Skepsis angesichts aktueller Entwicklungen im Heimathafen Linz anmelden. Kreativität und Kunst gleichzusetzen, nach dem Motto: „If you are so clever, why aren’t you rich“, sei ein schwerer Fehler. Außerdem gehe durch die beinahe ausschließliche Hinwendung zu Großevents die Wertschätzung für längerfristige Prozesse verloren. Und davon versteht Time’s Up immerhin etwas.
Aktuelles Projekt: Mind the Map
Die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Migration steht im Zentrum von Mind the Map, der neuesten künstlerischen Arbeit von Time’s Up. Erarbeitet als „physical narrative“ – einer Erzählung, inszeniert im realen Raum und vom Publikum explorativ erfahrbar. Thematisch konzentriert sich das Projekt Mind the Map auf Praktiken der europäischen Migrations- und Asylpolitik, insbesondere auf die Flüchtlingsströme im Mittelmeer. Anhand der Lebensgeschichte einer fiktiven Figur werden die verschiedenen Ebenen der Auswirkungen des europäischen Umgangs mit Flucht und Migration auf das Leben und Handeln von uns allen diskutiert: Wie können, sollen und müssen Konzepte für eine europa- und weltweite Koordination von Migration aussehen, um den verschiedenen Anforderungen, den humanitären jedoch zuallererst, gerecht zu werden?
Times’s Up erweitert und vernetzt die gebräuchlich beschriebenen Grenzen der Disziplinen Kunst, Technologie, Wissenschaft und Unterhaltung.
Präsentiert wird Mind the Map
in Nantes/Frankreich im le lieu unique –
Zentrum für Gegenwartskunst
im Zeitraum vom 15. 9.–11. 10. 2015