Die Referentin #31 - Beiträge der Ausgabe

Mitleid für das digitale Baby

Johanna Grubner | Kolumnen, 2. März 2023
Die Referentin #31

An einem Freitagnachmittag im November fahre ich mit meinem fünf Monate alten Sohn mit dem Zug nach Linz. Als er etwas quengelig wird, spazieren wir durch die Zugabteile, sein Blick bleibt bei zwei Fahrgästen hängen, woraufhin ich mit ihm stehen bleibe. Ich komme mit den beiden ins Gespräch: Wie alt mein Sohn sei? Wie die gemeinsamen ersten Monate verlaufen waren? Ein übliches Gespräch, das ich als Mutter eines Babys bereits gut kenne. Als mein Sohn das Handy entdeckt, das am Tisch zwischen meinen GesprächspartnerInnen liegt, fixiert er es intensiv, sein Körper beugt sich ekstatisch in Richtung des Handys. Meine Gesprächspartnerin bemerkt das Interesse und die Vehemenz meines Sohnes, sie legt den Kopf schief und fragt in mitleidvollem Ton: „Ah … ist er mit dem Handy aufgewachsen?“. Im ersten Moment verstehe ich nicht, was diese Frage bedeutet – ob er ein Handy hat? Ich überlege eine Sekunde und antworte: „Nein …“. Die Frau sieht meine Verwirrung und wird deutlicher, ihr Ton mitleidvoller: „Naja… beim Stillen viel am Handy gewesen?“

Ich entnehme ihrer Frage eine gewisse Traurigkeit, ein Mitleid meinem Sohn gegenüber. Muss das arme Kind bereits in seinen ersten Lebensmonaten mit einer Welt fertig werden, in der Handys einen so hohen Stellenwert einnehmen? Eine Welt, in der die Mutter sich mit ihrem Handy beschäftigt und sich das Interesse des Kindes dadurch bereits so früh an digitale Geräte heftet? Dieses Mitleid, das sie meinem Sohn entgegenbringt, macht mich nachdenklich. Wie ist in unserer Gesellschaft die Nutzung digitaler Geräte durch Kinder organisiert? Ein Baby, das sich für ein Handy oder einen PC interessiert, löst anscheinend eher Mitleid aus; auch einer 3-Jährigen wünscht man nicht unbedingt Begeisterung für Fernsehen oder You­tube-Clips, zumindest nicht mehr als am Spielen mit Gleichaltrigen. Auch noch mit 12 sollen Kinder die letzten Züge ihrer unbeschwerten Kindheit genießen und nicht stundenlang Videospiele spielen. Zur gleichen Zeit, mit ungefähr 12 Jahren, sollen die Kinder dann jedoch Digital Natives sein bzw. müssen durch Digitalisierungsoffensiven an Schulen schnellstmöglich zu welchen gemacht werden. Und damit niemand „abgehängt“ wird, gibt es auch finanziellen Zuschuss für einkommensschwache Familien beim verpflichtenden Laptopkauf. Zwischen fünf Monate alten und 12-jährigen Kindern bestehen augenscheinlich völlig gegensätzliche Ansprüche und Wünsche – einmal von Technologie ferngehalten und einmal dazu verpflichtet. Wie geraten Kinder von dem einen Pol zum anderen? Wie ist dieser Wandel zu erklären?

Digitale Geräte sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Dauerhafte Erreichbarkeit, schnelle Kommunikation, freundschaftliche Vernetzung über digitale Medien durch Sprache, Text, Bilder und Videos. Die digitalen Möglichkeiten schimmern sozial, schön und nach Unterhaltung. Es hängt jedoch auch ein Schleier von Notwendigkeit über ihnen, sie sind schlicht zu praktikabel. Ohne Onlinebanking eine Geldtransaktion zu tätigen ist zeitaufwändig, wenn auch nicht unmöglich. Kein Handy zu haben? Sehr schwer. Keine E-Mail-Adresse? Unmöglich. Umschlossen von Selbstverständlichkeit hat sich eine Abhängigkeit eingestellt, die uns in einer Weise an moderne Technologie bindet, bei der Verweigerung das Leben teilweise unmöglich machen würde. Was hier nach Zwang schmeckt, ist der Umstand, dass digitale Geräte sich nicht wie andere Gebrauchsgegenstände nach Belieben und eigenem Ermessen wieder aus der Hand legen lassen. Ganz im Gegenteil müssen sie verwendet werden, um teilnehmen zu können. Der Philosoph Ivan Illich hat Geräte, die benutzt werden müssen, zu denen es keine Alternative gibt, als radikales Monopol bezeichnet. Er beschreibt damit die „Dominanz eines bestimmten Produkttyps“, der Menschen zu „Zwangskonsumenten“ macht, deren persönliche Autonomie der Nutzung einschränkt und so eine „spezifische Form des kulturell determinierten Verhaltens“ vorgibt. Handy und PC können als so ein radikales Monopol verstanden werden – wir sind von ihnen abhängig, um in der Freizeit wie auch in der Arbeitswelt teilnehmen zu können.

Wie erklärt sich vor diesem Hintergrund der Wandel, der sich gesellschaftlich bei der Handy- und PC-Nutzung zwischen einem Baby und einem 12-jährigen Kind vollzieht?

Kinder ab einem gewissen Alter sollen der Notwendigkeit der Teilhabe an einer digitalen Welt zugeführt werden, es scheint eine moralische Pflicht darin zu stecken „niemanden zurückzulassen“. Wenn es sich um Babys handelt, scheint die Moral zu diktieren, sie so lange wie möglich von dieser Abhängigkeit fernzuhalten. Ist das Mitleid mit meinem Sohn Ausdruck der impliziten Erkenntnis, dass wir uns der unbemerkten Zwangsläufigkeit dieser Geräte nicht entziehen können? Wird uns diese Unumgänglichkeit technologischer Geräte erst bewusst, weil es eben genau Babys sind, die Handys noch mit einer Zwanglosigkeit und nach eigenen Kriterien nutzen? Mein Sohn möchte ein Handy abschlecken und es durch die Gegend werfen und erlebt dadurch Freude, die für Erwachsene hinter dem Zwang einer vermeintlich selbstgewählten Nutzung verschwunden ist.

Die Autorin wurde vermittelt von Female Positions.
www.femalepositions.at

Johanna Grubner
ist Soziologin und feministische Theoretikerin. Sie forscht an der Johannes Kepler Universität zu gesellschafts- und kapitalismustheoretischen Fragestellungen.
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März/April/Mai 2023
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