Nach einem Nestroy-Spezialpreis im letzten Jahr und vielen Aufführungen im deutschsprachigen Raum hat das Künstlerkollektiv „Die Schweigende Mehrheit sagt Ja“ im Herbst auch am Leondinger dreier_Hof seine Produktion „Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene“ gezeigt. Ein Interview mit Tina Leisch und Bernhard Dechant.
Die Ausgangssituation des Stücks: Ein Angestellter von ORS, also derjenigen GmbH, die in Traiskirchen Flüchtlinge betreut, spricht mit einem Chor von Flüchtlingen Elfriede Jelineks Text „Die Schutzbefohlenen“. Ziel im Stück ist, aus den Traiskirchner Flüchtlingen „Vorzeigeflüchtlinge“ zu machen. Den Kriegsflüchtlingen des Jahres 2015, alias Schutzbefohlenen, die mitfühlende Wortgewalt Jelineks in die Münder zu legen, wie: „Vor den Toren Traiskirchens schenken wir euch Menschlichkeit“, oder: „Wir geben euch das Recht zurück, das ihr längst vergessen habt“ hat sich als bemerkenswert erwiesen. Am Schluss des „Projekts Vorzeigeflüchtling“ wird den Schutzbefohlenen der gute Rat gegeben, dass der wichtigste Satz für Flüchtlinge sei: „Wir sind gar nicht da“. Der Satz wird vom Chor nachgesprochen und das Stück endet in einer Sprechschleife des Chors: „Wir sind gekommen, aber wir sind gar nicht da“. Der wohl allergrößte, unmenschliche Widerspruch überhaupt. Es beantworten die Fragen: Tina Leisch, die Regisseurin des Stücks, und Bernhard Dechant, der im Stück den Bediensteten von ORS spielt.
Flüchtlinge deklinieren den Text einer Nobelpreisträgerin: Hier wird das Projekt Vorzeigeflüchtling quasi zu Deutschkurs und Wertevermittlung in einem. Das Ganze wendet sich allerdings zu einer Anklage, wird zu einer Erinnerung an Menschlichkeit. Mit welchen Mitteln haben Sie denn zwischen Textvorgabe und Inszenierung, also in gewisser Weise auch zwischen Hochkultur, Theater und dem realen Drama gearbeitet? Was war/ist Ihnen wichtig?
Erstens mal mit gar keinen Mitteln, wenn man vom Finanziellen redet, respektive: nur mit unserem privaten Geld. Ein wichtiges Mittel war der Raum: Ein kleiner Lehrsaal in der Musikschule Traiskirchen, den uns die Musikschule auf Vermittlung von Karin Blum, der Frau des Bürgermeisters Babler, zu Verfügung gestellt hatte. Also mit den Mitteln der Solidarität. Ein weiteres Mittel war die Realität der Probe: Es ist einfach, Leute für zweimal in der Woche drei Stunden Reden, Spielen, Singen zu begeistern, wenn diese Proben in sauberen Räumen mit höchst gepflegten Sanitäranlagen, Klavier und kleiner Verpflegung stattfinden und die Leute seit Wochen in Zelten am Boden schlafen und völlig verdreckte Klos und Duschen benützen müssen und den ganzen Tag keinen anderen Aufenthaltsraum haben als die Traiskirchner Parks. Da fanden sich Menschen mit unterschiedlichsten Sprachen aus verschiedensten Regionen mit verschiedensten Bedürfnissen, mit verschiedensten Bildungsgeschichten in diesem Raum zusammen und über das Projekt „Wir spielen Jelinek“ begann die willkürlich zusammengewürfelte Gruppe sich als Ensemble durch den Sommer 2015 zu bewegen, im Gefühl, das, was wir da tun, gemeinsam, sei eine angemessene Bewegung durch diese Zeit, die sich auf nicht ganz durchschaute Weise historisch anfühlte. Also sozusagen: Das Mittel einer unaufgeregten Menschlichkeit.
Die Frage nach den Spalten zwischen Hochkultur, Theater und realem Drama hat sich nicht gestellt. Der Text beruht auf der selbstermächtigenden Flüchtlingsbewegung, die 2012 die Votivkirche besetzt hatte, also auf denselben realen Dramen, die die Menschen im Sommer 2015 nach Österreich trieben und sie seit Jahren Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen. Die Frage ist doch, ob die Kunst es schafft, die Dramen sichtbar und begreifbar zu machen und vielleicht zu Lösungen oder zumindest Lösungsvorschlägen beizutragen, oder ob sie die realen Dramen ignoriert oder ob sie sie selbstgefällig als Material benützt, um daraus ästhetischen Mehrwert und kulturelles Kapital zu schlagen. All das passiert in allen Segmenten des Kulturbetriebes. Der Unterschied zwischen sogenannter Hochkultur und sogenannter Subkultur ist einer der finanziellen Ausstattung. Warum ein ästhetisch, sozial und politisch nur Bedeutungslosigkeiten produzierender Matthias Hartmann zusätzlich zum Direktorensalär sich Regiegagen überweisen durfte, mit denen man ein halbes Dutzend Projekte der Freien Szene finanzieren könnte, ist eine Frage, die mehr Leute öfters laut stellen sollten. Denn die ästhetische und politische Qualität dessen, was an Wiener Theatern zu sehen ist, ist erstaunlicherweise völlig unabhängig von der jeweiligen finanziellen Ausstattung.
Die spannende Frage für uns war die der kulturellen Übersetzung. Wir haben bei den Proben die verwendeten Textpassagen aus den Schutzbefohlenen ins Englische, Arabische und Farsi übersetzt. Aber natürlich heißt das nicht, dass alle Mitwirkenden verstanden haben, was welcher Satz bedeutet oder bedeuten könnte, worauf er sich beziehen könnte, welche Bilder und Ereignisse die Sätze aufrufen, die die Verhältnisse in Österreich unter die Sprachlupe zerren. Jede Aufführung ist sozusagen Weiterarbeit an der kulturellen Übersetzung des Textes und dazu trägt natürlich das Publikum einen entscheidenden Teil bei.
Der Chor, der im Stück auftritt, besteht aus Flüchtlingen aus Traiskirchen. Im zweiten Teil des Abends, im Gespräch mit dem Publikum, hat ein Mann gesagt, dass das Spielen „nicht wirklich Theater ist, denn es geht ums eigene Leben“. Dennoch sind sie beide TheatermacherInnen, es geht bei einem Stück um Form, Ästhetik, Anspruch. Vielleicht können Sie kurz überhaupt zur „Schweigenden Mehrheit“, die sich politisch und künstlerischen positioniert hat, ein paar Worte sagen, in Bezug auf Politik und Kunst: Wie geht das aus Ihrer Sicht gut, wo liegen hier die Möglichkeiten?
Jelineks Text bietet einen Schutzraum an. Denn auch, wenn viele Geflüchtete ihre Erfahrungen und Gefühle in diesem Text wiederfanden, sich identifizierten, sind es doch die Worte einer Österreicherin und nicht die ihren. Je mehr ich mich mit der politischen Situation 2016 befasse, umso mehr erkenne ich in Passagen, denen ich die Gedankenwelt der Flüchtlinge zugordnet habe, immer mehr auch Sätze, die man auch von österreichischen so genannten „Globalisierungsverlierern“ hören kann. Nicht umsonst wählen so viele Leute Trump, Hofer und Le Pen. „Wo werden sie uns wieder rauswerfen?“, „Wo werde ich mir ein Bett erzwingen können?“, „Den Wohlstand, wenn er gemeinsam ist, müssten doch auch wir haben?“. Es haben sich auch in Europa viele Leute auf eine Art innere Flucht weg aus dem System der alten, sie ausbeutenden Eliten begeben. Diese Flucht endet aber nicht im Massenasylheim in der Siemensstrasse, sondern zwei Gassen weiter im Gemeindebau auf Straches oder islamofaschistischen oder verschwörungstheoretischen Internetseiten.
Wenn man sagt, dass wir politisches Theater machen, heißt das, dass wir Ästhetik und Form dem Anspruch unterwerfen und der Anspruch nach außen kann nur sein, die größtmögliche politische Wirkung zu entfachen. Das heißt: Wut, Zorn, Empathie, Mitgefühl in Menschen zu erzeugen um mit diesen Gefühlen vielleicht an eingefrorenen Denkmustern zu kratzen und Bereitschaft zu neuem Nachdenken auszulösen. Leute in ein Dilemma zu führen, weil dann müssen sie anfangen nachzudenken, wie sie da wieder herauskommen. Eine andere Funktion ist die nach innen. Da versuchen wir eine solidarische Gruppe zu bilden von Leuten, die sich stützen und verstehen, dass das Theater nur funktioniert, wenn sich alle zusammen dem Projekt unterordnen und ihre Egos zurückstecken. Praktisch versuchen wir, dass jeder die Zeit des anderen wertschätzt. Wir versuchen gleiche Arbeitszeit aller Mitwirkenden gleich zu bezahlen und unser kulturelles Kapital, unser Knowhow, unsere beruflichen und privaten Netzwerke den MitspielerInnen zur Verfügung zu stellen.
Ich möchte Sie kurz zur „ästhetischen Intervention“ befragen. Ich meine, das war für sehr viele Menschen ein enormer Schock, dass so etwas passieren konnte und dann so benannt wird. Die Frage stellt sich auch, warum gerade dieses Projekt für so einen Einmarsch auserkoren wurde. Und wie konntet ihr als Kollektiv damit umgehen, das verarbeiten?
Die Bezeichnung „Ästhetische Intervention“ ist eine Frechheit. Wenn Sie die Retraumatisierung von geflüchteten Menschen meinen, in dem man eine Bühne in SA-Manier stürmt und Frauen und Kinder mit Blut beschüttet, dann benützen Sie bitte auch die richtigen Worte dafür: Neofaschistischer Angriff. Retraumatisierung von traumatisierten Flüchtlingen. Kompensation von Minderwertigkeitskomplexen durch Hintreten auf die Schwächeren. Das Erbärmlichste war die Reaktion mancher Medien, die den Pöbel vor die Kamera luden, und diese Gemeinheit mit Hauptsendezeit belohnten.
Diesen Schock dieser Benennung meinte ich auch. Gehen wir weiter in der Realität: Das Stück wurde oft gezeigt, hat außerdem letztes Jahr einen Nestroy-Preis bekommen, jetzt den Preis der Freien Szene Wien. Es gab enorme Solidarität mit den Flüchtlingen. Sie erleben aber mit, dass Menschen, die hier beim Projekt mitgewirkt haben, zurückgeschickt werden. Die Grenzen wurden außerdem dichtgemacht. Dass eine schweigende Mehrheit Ja sagt: Ist das ein paradox formulierter Wunsch? Oder anders gefragt: Wie nehmen Sie die aktuelle Situation wahr?
Die Schweigende Mehrheit der Menschen in Österreich sagt Ja zur Solidarität mit Menschen in Not. Das ist nicht paradox, sondern wahr. Unter Berücksichtigung der NichtwählerInnen sind es keine 35%, die Hofer wählen. Die anderen wollen keinen rechtsextremen Burschenschafter, keine rassistische Hetze, keinen Bürgerkrieg. Öffentliche Meinungsäußerungen würden nicht dermaßen unfassbar entgleisen, wenn nicht Facebooks Echokammern regelrecht verbale Amokläufer hochzüchten würden. Überall, wo reale ÖsterreicherInnen auf reale NewcomerInnen treffen, lassen sich die realen Konflikte lösen. Aber die irrealen Bedrohungs- und Gewaltszenarien sind herrschafts- und profitsichernd. Die FPÖ schürt ja den Hass nicht, weil die Funktionäre wirklich MigrantInnen hassen würden, sondern weil das ein Weg ist, wieder an die Futtertröge zu kommen, an denen sie sich unter BlauSchwarz und in Kärnten so hemmungslos und teilweise schwerkriminell angefressen hatten. Und auch der reale Krieg ist ein fettes Geschäft. Syrien ist doch eine Goldgrube für die Rüstungsindustrie. Die Flüchtlinge sind eine Goldgrube für die Schlepper- und Versorgungsindustrie. Die das Lager Traiskirchen betreibende Firma ORS hat 2,5 Millionen Euro Extraverdienst aus der humanitären Katastrophe der Überfüllung im Sommer 2015 generiert.
Wer Frieden und Menschlichkeit vorlebt, ist ein Geschäftsverderber.
Sie haben nun ein weiteres Projekt in Planung, wie ich gelesen habe: „Traiskirchen. Das Musical“. Sie scheinen große SpezialistInnen in der Arbeit mit Widersprüchen zu sein, auch mit denen, dass das Theater Gesellschaft verhandelt und dann oft auch vor seinen eigenen Grenzen und Konventionen zum Stehen kommt. Die Frage: Was haben sie mit „Traiskirchen – Das Musical“ vor? Raus aus dem „Elfenbeinturm“ Hochkultur, und dafür dann gleich rein in den Hort der allgemeinsten Unterhaltung schlechthin, ins Musical? Was spielt sich denn hinter dem „Schmäh“, das so aufeinanderprallen zu lassen, ab?
Das werden Sie am 9. Juni im Volkstheater Wien sehen.
Ja, das werden wir. Vielen Dank für das Interview.